Archive for the Category Kurzgeschichte

 
 

Im Stau

»Deine Mutter hat sich wieder durchgesetzt. Wie jedes Jahr.« Theresa dreht sich um. Das Baby liegt im Maxi-Cosi und brabbelt vor sich hin. Der vierjährige Xaver ist über seinem Bilderbuch eingeschlafen. Es wird langsam dunkel.
Gunther zieht die Schultern hoch, blickt angespannt auf das Betonband der Autobahn vor ihm. Schweigt.
»Und jetzt fängt es auch noch an zu schneien«, sagt Theresa. »Das kann ja heiter werden. Aber Hauptsache, deine Mutter kriegt ihren Willen.«
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Isabel, Postbotin

Eine Bank im Park

Entschuldigen Sie, darf ich mich zu Ihnen setzen?
Genug Platz auf der Bank?, sagen Sie. Danke. Aber ich wollte Sie nicht stören. Sie scheinen so in Gedanken versunken.
Sie freuen sich? Danke. Ich will mich auch nur ein bisschen ausruhen. Es ist so still hier. Die hohen Bäume…
Ich würde müde aussehen, sagen Sie …
Ja, ich bin seit halb sechs auf. Ich bin Zustellerin, wissen Sie. Postbotin, sagte man früher. Da muss man früh raus. Um sechs beginnt die Schicht. Briefe in die Fächer sortieren und so …
Ob ich das gerne bin … Postbotin, fragen Sie …
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Auge um Auge

Sie kannten sich vom Volkshochschulkurs, die fitte 16-köpfige Rentnergruppe aus Berlin, alle zwischen 60 und 75 Jahre alt. Seit Jahren versuchten sie, ihr Französisch nicht einrosten zu lassen. Die Kursleiterin – Marie-Claire, eine Pariserin im reiferen Alter – traktierte ihre Schützlinge nicht mit komplizierten grammatischen Finessen, sondern schaffte eine Gesprächsatmosphäre, in der die Teilnehmer ermutigt wurden, »zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen war«. Zwei einwöchige Parisaufenthalte schweißten die Gruppe zusammen, sodass im Laufe der Zeit durchaus auch persönliche Probleme, sogar Konfliktsituationen in der Gruppe,  von den Teilnehmern angesprochen und diskutiert wurden, natürlich alles auf Französisch.
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Hau sie doch!

Seit fünfunddreißig Jahren arbeitete Marita in der Erzieherausbildung. Seit fünfunddreißig Jahren unterrichtete sie »Kinderliteratur«. Seit fünfunddreißig Jahren las sie mit den jungen Leuten Bilderbücher, Kinderbücher, Jugendbücher und immer wieder Märchen. »Dornröschen« und »Rumpelstilzchen«, »Frau Holle« und »Hänsel und Gretel«, »Der Wolf und die sieben Geißlein«, »Rotkäppchen und der Wolf«. Märchen, Märchen, Märchen. Ist ja auch wichtig für angehende Erzieher und Erzieherinnen, denn »Kinder brauchen Märchen«, sagt der Psychoanalytiker Bettelheim. Eine geordnete Welt in Schwarz und Weiß, wo das Böse böse und das Gute gut ist. Wo die böse Stiefmutter die Hexe ist und im Feuer verbrennt und die »richtige« Mutter ihr Kind behalten darf. Wo der Wolf der perverse Vater ist, der sich an dem kleinen Mädchen vergehen will undsoweiterundsoweiter.
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Hotel Mama

Die Korbians trauten ihren Augen nicht, als sie sich am frühen Sonntagnachmittag ihrem Haus näherten. Sprachlos blieben sie im Wagen sitzen und starrten. Die Einfahrt war zugestellt mit umgekippten Fahrrädern, Bierflaschen. Im Vorgarten zankten sich Krähen um die Essensreste auf den Papptellern. Die weiße Eule, von Herrn Korbian liebevoll aus weißem Tuffstein gehauen, war mit dem Kopf zuerst in ein Blumenbeet gerammt worden. Eins der Küchenfenster stand sperrangelweit offen. Kaum hatte Frau Korbian ihre langen Beine mit den hochhackigen Schuhen aus dem Auto geschwungen, riss schon eine Nachbarin das Fenster auf.
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On schedule

Das elegante Paar Anfang 50 ist offensichtlich spät dran. Der Mann stürmt im Eilschritt durch die sich automatisch öffnende Glastür in die lichtdurchflutete Abflugshalle des Lissaboner Flughafens, einen dunkelblauen Rolli hinter sich herzerrend.
»Beeil dich! Die haben uns bestimmt schon ausgerufen.« Er dreht kurz den Kopf zu seiner Frau, die im elegant geschnittenen lachsroten Sommerkleid auf ihren hohen Absätzen hinter ihm herstolpert. «Dass du auch nie rechtzeitig fertig wirst!«
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Nach dem Konzert

Minutenlanger Applaus. Bravo-Rufe. Trampeln. Cecilia Bartoli wird immer wieder auf die Bühne zurückgeklatscht. Singt eine Zugabe, zwei. Auch das Orchester steht immer wieder auf, verbeugt sich, wenn die kleine temperamentvolle Ada Pesch vom Stuhle springt und den Geigenbogen in die Luft wirbelt. Als sich endlich die Tür zur Garderobe hinter der Diva und den Musikern schließt, sind wohl beide Parteien erschöpft: die Künstler vom Singen und Musizieren, die Menschen im Saal vom Zuhören und Applaudieren.
Beschwingt geht Sabrina durch die Vorhalle zur Garderobe, um sich ihren braunen Webpelzmantel vom Haken zu holen und durch Kälte und Wind zum Bahnhof zu eilen. Den Zug will sie  in dieser Nacht unbedingt erreichen
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Spaziergang im Park

Es war klar, die Rente von Krupp reichte vorne und hinten nicht, daran änderte auch das Weihnachtspaket der Firma nichts, das pünktlich in der Woche vor Weihnachten vom Postboten abgeliefert wurde. Es stand für Ella sowieso nicht zur Debatte, ihre Mutter ins Altenheim zu bringen. Die alte Frau hatte zwei Kriege erlebt, den Mann und zwei Söhne vor Stalingrad verloren. Die Witwenrente war knapp, also zog Oma mit ein, als die Familie Mitte der 50er Jahre eine größere Wohnung bekam. Ella freute sich: Wohnzimmer, Schlafzimmer, ein Zimmer für beide Kinder und der schmale Schlauch, in dem Omas Bett stand.
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Sommertag auf Cres

Ich sehe einen alten Mann und einen kleinen Jungen in einem roten Schlauchboot auf dem blauen Wasser der Adria dahindümpeln, nahe der Küste, wo das Wasser so klar ist, dass man silbrige Fischschwärme einen Meter unter der Wasseroberfläche dahintreiben sieht.
Noch ist es windig und kühl, und der alte Mann zieht den Reißverschluss am Pullover des Jungen hoch, schiebt eine Schirmmütze auf die dunklen Locken,  so dass er geschützt ist vor den sengenden Strahlen einer aus blauem Himmel erbarmungslos leuchtenden Sonne.  Noch ist der Strand leer, die Pinienzapfen im weißen Kies sehen  von weitem aus wie Hundehaufen.
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Schön, schön – alles Verhandlungssache

Sommerliche Abendstimmung. Ein parkähnlicher Wohnbezirk in einer größeren norddeutschen Stadt. Ein VW-Caddy rumpelt den Kiesweg entlang bis zu dem mit Säulen verzierten Eingangsportal einer zweistöckigen weißen Villa. Ein junger Mann springt aus dem Wagen, schaut sich um und sagt »Wow!«, ehe er sich das bronzene Türschild anschaut und auf den Klingelknopf drückt. Auch die junge Frau neben ihm ist ausgestiegen und schaut auf die friedlich grasenden Pferde auf der Wiese neben dem Haus. Sie schnalzt mit der Zunge und eins der Tiere kommt neugierig angetrabt und schnuppert an ihrer Hand. Sie tätschelt seinen Hals, streicht über die weichen Nüstern.
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