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Liebeserklärung an Venedig

 

Venedig,

sage ich, ist das Ziel meiner Träume,
die Schöne am Meer,
im Wasser schwebend,
luftig und leicht,
von der Sonne gestreichelt
im unendlichen Blau des Himmels,
schwebend wie eine Fata Morgana,
die Stadt Tintorettos und Veroneses,
Bellinis und Caravaggios,
Tizians und Giottos,
die Stadt der Maler und Musiker,
der Paläste und Brücken.

Du aber sagst,
Venedig, das sei doch die Stadt
der Touristenmassen,
wo die Schatten
der Kreuzfahrtschiffe den Dom verdecken.
Venedig, das sei doch die Stadt der Skandale,
wo die Industrie die Lagune vergiftet
und die Fische tot im Wasser schwimmen.
Venedig, das sei doch die Stadt
der Mafiabosse,
wo eine korrupte Verwaltung
die Fassaden verrotten lässt.

Venedig, das sei
eine Stadt des Untergangs,
auf Pfählen gebaut,
die im Schlammwasser verrotten.
Venedig, die Stadt mit den dunklen Gassen,
wo Kinderwäsche
zwischen verfallenen Häusern hängt,
wo  Einheimische die Flucht ergreifen,
weil die Mieten zu hoch
und die Wohnungen zu teuer sind.
Venedig, eine Stadt,
aus der die Venezianer fliehen,
das Leben den VIPs übergeben,
die mit Geld und Korruption
sogar Donna Leon resignieren lassen.

Ich aber mag die 400 Brücken und 177 Kanäle,
die dreitausend Gassen und dunklen Gänge,
ich mag die schwarzen Gondeln,
auch wenn sie  Trauer tragen.
Ich mag die jungen Paare
auf dem Canale Grande,
die Herrschaftshäuser und Paläste,
Monumente einer vergangenen großen Zeit.
Ich mag den schmachtenden Gesang der Gondoliere,
die Gigolos auf der Piazza,
die ewig nickenden, gierigen Tauben,
das schwarze Klavier auf dem Markusplatz.
Ich mag den Palazzo Ducale
mit der Bleikammer, in der auch
Casanova einst darbte.
Das Gletto und die Seufzerbrücke.
Ich mag den bronzenen Löwen
hoch auf der Säule
die Tauben bewachend,
die gierig gurrend
die Körner picken,
die die Touristen ihnen mit lockerer Hand
vor die ewig nickenden Köpfe streu’n.
Ich mag die Stadt der Liebenden und Verführer,
der Herzöge und Verbrecher,
der Künstler und Kirchenleute,
der Händler und kleinen Leute.
Und ich mag –
die Questura von Commissario Brunetti.

Oh Venedig, du Königin der Meere,
du Mekka der Händler und Abenteurer,
der heiligen Gebeine und der geraubten Schätze,
Ort der Hoffnung und der Verzweiflung.
Deine tausendjährige Geschichte
weht uns an
auf jeder sonnendurchglühten Piazza
und auf den dunkelsten Kanälen.
Ich mag die Rialtobrücke,
den Markt mit den bunten Blumen,
mit dem überteuerten Obst und Gemüse
und all dem touristischen Kitsch.
Ich mag die Restaurants und Bars,
die Cafès und Trattorias.
Und den Weißwein,
den auch der Commissario trinkt.

Venedig, du alte Geliebte,
du Sehnsuchtsort und verlorenes Paradies,
verfallen, zerstört,
die Luft verpestet durch Vaporettos,
und Chemieabgase.
Die Fundamente der Paläste zerstört
durch schlammig-giftiges Kanalwasser.
Noch bist du nicht untergegangen,
erdrückt von Touristenmassen,
aufgefressen von Gier und Kommerz,
von Geldwäsche und Korruption.
Noch gibt es Tage
im Winter und Herbst,
da gehört Venedig den Flaneuren,
den Kunstliebhabern und Müßiggängern.
Im Dom das Ave Maria einer
dunklen Frauenstimme.
Vor der Kirche ein Bettler
an seiner Geige zupfend.
Die Sonne bricht durch
glitzernd auf dem Acqua alta,
wo Einheimische und Besucher
in Gummistiefeln
über die Holzplanken gehen.
Kein Krieg hat dich vernichtet,
die Vandalen dich nicht zerstört.
Du hast überlebt.
Bis jetzt!