Archive for the Category Erzählungen

 
 

Bücher

 

Die Schriftstellerin Luise Rinser erzählt in ihren Erinnerungen –  ein Memoir -, dass sie eines Tages ins Wohnzimmer kam und den kleinen Sohn bewegungslos auf dem Boden liegen sah, beide Arme weit ausgestreckt. Besorgt hatte sie sich sie sich über ihn gebeugt.
»Bist du krank, Liebling?«
»Nein«, sagte der Kleine. »Ich bin ein Buch. Und nun musst du hierbleiben und mich lesen.«
Luise Rinsers Muttergewissen wurde rabenschschwarz. Um Gottes willen, der Kleine dachte wohl, er müsse sich in ein Buch verwandeln, damit sie ihn wahrnahm.
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Kinderverschickung

 

Auf Bahnsteig 3 standen Eltern dichtgedrängt, aufgeregte, zappelnde oder still vor sich hinweinende Kinder an der Hand. Der Schnellzug von Essen nach Dagebüll über Gelsenkirchen, Dortmund, Hamburg hatte dreißig Minuten Verspätung. Es war Anfang November, die stählerne Überdachung bot nur behelfsmäßigen Schutz gegen Regen und Wind. Mütter hatten die Kragen ihrer Kaninchenfellmäntel hochgeschlagen und hielten den kleinen Sohn, die kleine Tochter an sich gedrückt, halb in den wärmenden Mantel geschlagen. Einige größere Jungen tobten über die Plattform, neckten die kleinen Geschwister und ließen sich erst von den entnervten Worten ihrer Väter zurückpfeifen.
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Liebe in Zeiten von Corona

Natürlich hatte Margrit damals ihren Gabriel Marquez gelesen. Bücher zu lesen war das einzige Mittel, aus der engen Gegenwart zu flüchten. »Liebe in Zeiten der Cholera«, ein absolutes Muss in den 80ern. Über 50 Jahre hatte Florentino Ariza auf Fermina Daza gewartet. Als junger Mann hatte er sich in sie verliebt, verliebt in ihr Gesicht, in den Klang ihrer Stimme, in ihr Lächeln. Er hatte ihr Liebesschwüre geschickt, sie mit Blumen vor der Haustür überfallen, alles umsonst. Ein Doktor Juvenal Urbino war die bessere Partie gewesen, nicht nur für die Eltern, auch für Fermina. Natürlich hatte er nicht jungfräulich auf sie gewartet.Er hatte geheiratet, mehrere wohlgeratene Kinder gezeugt. Und dann – mit über 80 trafen sie sich wieder und erfüllten ihre Träume, so beschreibt es der kolumbianische Autor Gabriel García Marquez in seinem Roman »El amor en los tiempos del cólera.«
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Der Clown

Warum dieses Skelett auf dem Motorrad sitzt, wollen Sie wissen. Neben meinem grün-weißen Zirkuswagen? Und warum ich so traurig aussehe. Das wollen Sie auch wissen? Weil Clowns fröhlich zu sein haben, unbeschwerte Spaßmacher, die die Leute zum Lachen bringen, nicht wahr? Und ich hätte in meinem weiß geschmickten Gesicht schon Trauerfurchen, die die Schminke sprengen würden, sagen Sie. Und meine Mundwinkel seien auch künstlich nach oben geschminkt. Alles Maske, denn meine Augen würden mich verraten. Die blickten so traurig. Ob ich depressiv sei, wollen Sie wissen? Ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen meine Geschichte. Aber nur, wenn Sie Zeit und Lust haben. Ich will mich nicht aufdrängen.
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It is Bear Country

 

10. April 2017
Gestern bin ich mit meinem Professor nach Oslo geflogen. Von Bremen aus mit Ryanair. Logo, auch die Uni muss sparen. Aber das Angebot des Alfred-Wegener-Instituts, gemeinsam auf Spitzbergen zu forschen, konnte mein Prof sich nicht entgehen lassen. Und ich habe Luftsprünge gemacht, als er mich fragte, ob ich nicht mitkommen wolle zu der internationalen Forschungsstation nach Ny-Alesund. Wäre sicher gut für meine Master-Arbeit. Und wer weiß, vielleicht springt noch eine Promotion dabei heraus. Atmosphärische Forschung, das genau ist es, wofür ich mich als Biologin interessiere. Ein Forscherteam soll die riesigen Algenteppiche im Nordmeer untersuchen und die Auswirkung des Klimawandels auf die Pflanzen: Chlorophyllgehalt, Pigmente, Antioxydantien. Die Gletscher schmelzen und das ist der Grund, dass das Wasser im Nordmeer immer weniger salzhaltig ist. Die Konsequenzen für Flora und Fauna sind unübersehbar.
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Vierer mit Steuermann

 

 

Trotz der Hitze war die Klimaanlage nicht ausgefallen. Im ICE von Hamburg nach München war es angenehm kühl. Helmut hatte ein Ticket erster Klasse gebucht, setzte sich auf seinen Platz am Fenster, klappte das Tischchen hinunter, legte den Laptop ab, verband ihn mit der eingebauten Stromdose unter dem Sitz. Er lehnter sich zurück, ließ die Hamburger Vororte an sich vorbeiziehen und schaute in den wolkenlosen Himmel. Schade, der perfekte Tag zum Segeln, dachte er. Seine Hallberg Rassy schaukelte schon seit Wochen ungenutzt im Yachthafen vor sich hin. Immer wieder waren ihm, dem Wirtschaftsprüfer einer alteingesessenen Hamburger Consultingfirma, Geschäftstermine dazwischengekommen. Für dieses Wochenende war die verblüffende Einladung aus Starnberg gekommen. Ein Anwaltsbüro in München hatte ihn mit nüchternen Worten von Ulrich Wagners Tod in Kenntnis gesetzt und ihm den letzten Willen des Verstorbenen übermittelt: Die alten Kameraden des siegreichen Vierers mit Steuermann mögen sich vor der Beisetzung der Urne in Ulrich Wagners Haus in Starnberg treffen. Man bitte darum, den Willen des Toten zu respektieren.
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Termessos – Stadt der toten Helden

Der zottelige Hirtenhund kommt auf uns zugesprungen, als wir aus dem Auto steigen. Jung scheint er zu sein und übermütig. Er versucht, an mir hochzuspringen und ich wehre ihn ab und streichele sein struppiges Fell. Hat ihn ein Besucher hier ausgesetzt? Oder hat er die Ziegenherde zurückgelassen oben in den Ruinen von Termessos, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren?
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Engel mit gebrochenen Flügeln

Sie hatte sich lange gescheut, davon zu erzählen, hatte sich zu sehr geschämt. Sie, Beate, eine gestandene Frau Anfang 40, Anästhesistin, zwei pubertierende Töchter, allein erziehend. Sie kam ja auch gut klar, war praktisch und kontaktfreudig, hatte einen großen Bekannten- und Freundeskreis. Wenn nur diese nagende Sehnsucht nicht gewesen wäre, diese Hoffnung, es könnte doch noch klappen mit einer harmonischen Partnerschaft, vielleicht sogar mit einer leidenschaftlichen Liebesaffäre.
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Teachers` Outing

She was hopeless at reading maps. Utterly hopeless. Maybe that was one of the reasons why her husband divorced her. He just couldn’t stand her looking at a map upside down figuring out where they were. He started to yell, she started to cry. Same procedure every year.
But she was not completely stupid. As a matter of fact she was pretty good at organizing things. For example, the yearly outing of her colleagues at school. The other teachers liked her ideas. And when she proposed at the end of the summer term to hire a fishing boat to take them to the seals banks in the North Sea, they enthusiastically accepted. The school being only an
hour’s drive away from Fedderwardersiel, a small fishing village where the boat would set off at 10 o‘ clock in the morning.
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Reisefieber

Von hier oben ist der Blick auf Madrid grandios. Doch die Luft ist stickig, auch wenn die schräge Dachluke einen Spalt geöffnet ist. Weiter kann man sie nicht aufmachen, sonst fliegen die Tauben herein, und in Windeseile ist der Dachboden vollgeschmiert mit einer ekligen Schicht weißlicher Taubenscheiße. Nicht dass es hier wertvolle Dinge gibt: eine ausrangierte Truhe mit angeschlagenem Geschirr, Pappkartons mit muffig riechenden Mänteln und Jacken. Ein alter Kinderwagen steht in der Ecke, mit geflochtenen elfenbeinfarbenen Seitenwänden und winzig kleinen Rädern. Von einem grünen Kaufmannsladen blättert die Farbe ab und die Türen klemmen. Unter der Schräge gammeln auf einem primitiv zusammengezimmerten Regal diverse  Plastiktüten mit abgetragenen Schuhen und Stapel von sorgfältig gebündelten Zeitungen vor sich hin. Zwischen all diesen ausrangierten Dingen, den Zeugen besserer Zeiten, hat man auch mich vergessen.
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