Bücher

 

Die Schriftstellerin Luise Rinser erzählt in ihren Erinnerungen –  ein Memoir -, dass sie eines Tages ins Wohnzimmer kam und den kleinen Sohn bewegungslos auf dem Boden liegen sah, beide Arme weit ausgestreckt. Besorgt hatte sie sich sie sich über ihn gebeugt.
»Bist du krank, Liebling?«
»Nein«, sagte der Kleine. »Ich bin ein Buch. Und nun musst du hierbleiben und mich lesen.«
Luise Rinsers Muttergewissen wurde rabenschschwarz. Um Gottes willen, der Kleine dachte wohl, er müsse sich in ein Buch verwandeln, damit sie ihn wahrnahm.

Bücher hatten auch in Angelikas Familie eine große Rolle gespielt. Die Kinder wurden zum Lesen angehalten, das gehörte sich einfach für »gebildete Menschen«. Lesen, grammatisch richtig sprechen und natürlich eine fehlerfreie Rechtschreibung. Letzteres musste man perfekt beherrschen.
»Wenn du mal einen Freund hast«, sagte ihr Vater, da war sie höchstens zwölf oder dreizehn Jahre alt, dann lassen wir den Jungen einen Brief schreiben und korrigieren ihn zusammen. Wenn er viele Fehler macht, weißt du, er ist nichts für dich.«
Angelikas Mutter lag ganze Sonntage auf dem Sofa und las Romane, ihr Vater interessierte sich eher für Sachbücher und Zeitungen. Natürlich Qualitätspresse, auch wenn man damals diesen Ausdruck nicht kannte. Die Bildzeitung hätte er nie angerührt. Mit seinem fotografischen Gedächtnis speicherte er alle Daten und Fakten ab und siegte auch noch während des  Germanistikstudiums seiner Tochter bei jeder politischen Diskussion – es waren die 68er – , indem er ihr klarmachte, was sie alles nicht wusste. Er war durchaus kein Ekel, was seine Kinder betraf, aber eine gewisse Bildung forderte er ein. Die Eltern stammten aus Kruppschen Arbeiterfamilien, hatten es ins Angestelltenverhältnis geschafft, waren white collar worker geworden , aber die Kinder »sollten es besser haben«.
Es ging nie so weit, dass ihr Vater auf dem Weg vom Sofa hin zu seinem zu wickelnden Baby bei der auf dem Tisch liegenden Zeitung hängenblieb und das Geplärr der kleinen Tochter nicht hörte. Das passierte erst später – während Angelikas ersten Ehe mit einem Philosophieprofessor – , der es so gut wie nie schaffte, seiner Tochter mal die Windeln zu wechseln, weil er in Richtung Wickelkommode immer durch irgendwelches Gedrucktes auf dem Weg aufgehalten wurde. Ein hochgebildeter Mann nach dem Herzen ihres Vaters – aber total familienuntauglich.
Auch nach ihrer Scheidung und als alleinerziehende Mutter saß die Familienprägung so tief, dass sie sicher war, die Schulkarriere der Tochter nur dadurch sicherstellen zu können, dass siedie Kleine zwang, jeden Tag eine gewisse Anzahl von Seiten zu lesen. Mit den erpresserischen Worten: Sonst darfst du nicht Sesamstraße gucken. Obwohl diese Sendung doch zum Bildungsprogramm gehörte, wie zumindest die amerikanischen Bildungsforscher behaupteten.
Als die Tochter in die Pubertät kam – nach schulischen Vorlesewettbewerben, Ballett, Klavierunterricht – fiel Angelika auf, dass sie sich immer weniger zu Hause aufhielt, sondern nach der Schule sofort zu ihrer Freundin Yasemin ging.
Auf ihre Frage: »Warum kommt Yasemin nicht mal mit zu uns? Warum gehst du immer zu ihr?«, sagte die Tochter ganz cool:
»Bei Yasemin ist es viel schöner!«
»Warum ist es denn dort viel schöner?« Angelika war ziemlich angefasst.
Und da sagte die Tochter mit vollen Inbrunst: »Die haben keine Bücher!«
Angelika war still. Was sollte sie antworten? Ihr fiel nichts ein. Gar nichts.
Natürlich machte die Tochter ihr Abi – die Freundin übrigens auch. Die jungen Frauen studierten Sprachen, die eine wurde Übersetzerin, die andere Gymnasiallehrerin. Beide lesen wie die Teufel.
Über Facetime telefonierte Angelika neulich mit ihrem über alles geliebten, neunjährigen Enkel. Ein hochbegabtes Kind, da war sie sich ganz sicher. So wie übrigens alle Omas sich sicher sind, dass ihre Enkelkinder hochbegabt sind, zumindest die Jungen.
»Oma«, fragte er. »Die Bücher an der Wand, hast du die alle gekauft?«
»Ja, klar«, sagte sie.
»Und hast du die alle gelesen?«
»Die meisten«, sagte sie.
»Mama sagt, ich muss jeden Abend ein Kapitel aus einem Buch lesen und ihr den Inhalt erzählen, sonst darf ich nicht daddeln. Die ist echt gemein, die Mama!«
Angelika grübelt immer noch, was sie darauf hätte antworten sollen. Dass die Mama einen Knall hat?


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