Exclusiv Wohnen
Geräuschlos gleiten die beiden Glastüren zur Seite und geben den Blick frei auf eine geräumige Empfangshalle mit eleganten Stahlrohrsitzen, Beistelltischen mit makellos geputztem Glas, auf denen kunstvoll arrangierte Spätsommersträuße ihren Duft verströmen. Polierte Ahornfliesen erstrecken sich bis zum Ende des Raumes mit den gemütlichen Sitzecken entlang der weiß getünchten Wand mit den dezent blau gefärbten Polstersesselnesseln und den tiefen quadratischen Tischen. Im einsehbaren Seitenflügel mit freiem Blick auf den gepflegten Garten draußen sitzen vor weiß gedeckten Tischen einige alte und uralte Heimbewohner schweigend auf rückenfreundlichen Stühlen. Fürs Abendessen ist es noch viel zu früh. Besucher betreten die Lobby durch eine gläserne Drehtür, und die Stille des Raums legt sich auf die Eintretenden und nimmt ihnen die Luft zum Atmen. Leise und bemüht, auf dem Holzboden kein Geräusch zu machen, nähert sie sich dem Empfangstresen. Sie wird nach ihrem Begehren gefragt und eine gepflegte Hand weist auf eine Sitzgruppe ein paar Meter entfernt. Sie sieht den gebeugten Rücken, die dünnen, unordentlich gekämmten Haare am Hinterkopf, kommt leise näher und ist erstaunt, dass die dünne, hinfällige Person vor ihr sich umdreht und freudig ihren Namen ruft. Damit hat sie nicht gerechnet, dass sie erkannt, sogar mit ihrem Namen angeredet wird. Ihr Herzschlag beruhigt sich. Sie geht näher, zaubert den Blumenstrauß hinter ihrem Rücken hervor, umarmt die kleine, hinfällige Gestalt, deren Augen-Make-up verschmiert, deren Lippen übertrieben rot geschminkt sind.
»Du«, sagt die Gestalt, die einmal ihre hoch verehrte Mentorin war, der sie viel zu verdanken hat. »Das wollte ich nicht.«
»Was wolltest du nicht?«
»Dass du kommst.«
»Warum nicht?«
»Das ist mir peinlich. Mich hier so zu sehen.«
»Das muss dir nicht peinlich sein.«
Die Besucherin zieht ein in Geschenkpapier geschlagenes Buch aus ihrer großen Lederbeutel. »Und das ist für dich. Mein erstes Buch. Vom Verlag angenommen. Auch wenn du Krimis nicht magst. Aber schließlich habe ich von dir schreiben gelernt.«
Die alte Frau strahlt. Winkt ab.
»Doch«, sagt die Besucherin. »Ohne dich würde ich heute nicht schreiben. Von dir haben wir alle viel gelernt.«
Wieder ein Lächeln über dem Gesicht der alten Frau. »Wirklich?«
»Ja, wirklich!«
»Was machen die andern?« Sie weiß noch alle Namen der Kursteilnehmer von damals.
Die Besucherin ist verblüfft. Und das soll Demenz sein? Bei dem Gedächtnis? Sie fragt nach Tochter und Enkelkindern, bekommt detailliert Auskunft. Was macht die Frau hier? Die ist doch nicht dement.
Auf einmal Tränen. »Würdest du Frieder anrufen, bitte! Ich habe in seit gestern nicht mehr gesehen. Er ist verschwunden, einfach verschwunden. Ohne mir was zu sagen.«
»War er heute Mittag nicht da?«
»Nein. Und gestern auch nicht. Ich mache mir solche Sorgen.«
Tränen. Die Besucherin nimmt die Frau in den Arm.
»Komm, wir rufen ihn an.«
»Ich habe seine Handy-Nummer vergessen.«
»Ich habe eure Festnetznummer. Handy-Nummern kann ich mir auch nicht merken.«
Es klingelt und klingelt am anderen Ende der Leitung. Niemand nimmt ab.
»Hast du Frieders in deinem iPhone gespeichert?«
Die alte Frau nickt, erhebt sich schwerfällig, behauptet, ohne Rollator gehen zu können. Sie nimmt der Arm der alten Frau. Gemeinsam gehen sie langsam zum Fahrstuhl.
»Da komm ich nicht rein«, sagt die Frau. »Bei mir geht die Tür nie auf. Keiner erklärt mir, wie das geht.«
Die Besucherin stutzt, zeigt, auf welchen Knopf man drücken muss, wenn man den Fahrstuhl holt. Die Türen öffnen sich, sie lässt die Patientin auf die Nummer der Etage drücken, auf der ihr Zimmer liegt. Die guckt zufrieden, es klappt, der Fahrstuhl hält in der zweiten Etage. Die Tür zum Zimmer ist auf. Ein schönes großes Zimmer mit Fenstern bis zum Boden. Sie suchen das Smartphone. In der Handtasche, im Schrank, in der Nachtkommode.
»Hat er sicher mitgenommen«, sagt die Frau.
»Warum sollte er das tun?«
»Damit ich ihn nicht anrufe.«
Sie weint wieder. »Ich mache mir doch solche Sorgen. Meine ewige Angst bringt mich noch um.«
Die lapidare Antwort der Besucherin: »Wenn was passiert wäre, stünde die Polizei vor der Tür. Oder deine Tochter käme.«
»Ja, meine Tochter, die muss helfen. Würdest du sie bitte anrufen!«
»Kennst du ihre Nummer?«
Sie gibt mir die Nummer von ihrer Tochter, kennt die Telefonnummer auswendig. Aber auch die Tochter meldet sich nicht. Langsam werde auch ich nervös. Hatte Frieder wieder einen Herzinfarkt? Liegt er hilflos zu Hause? Hatte er mit dem Wagen einen Unfall?
»Deine Tochter ist sicher einkaufen«, sagt die Besucherin.
»Nicht um diese Zeit? Es ist fast 6 Uhr. Gleich gibt es Abendessen.«
»Lass uns in den Speisesaal gehen«, sagt die Besucherin. »Wir versuchen es später noch mal mit dem Telefonieren.«
Die alte Frau weint. Still laufen die Tränen über ihr zerfurchtes Gesicht. Tröstend legt die Besucherin ihren Arm um die zarten Schultern. Der Mann ist doch sonst immer so lieb und zuvorkommend. Wo ist er nur?
Die Besucherin bringt die alte Frau zum Abendbrottisch, verabschiedet sich, verspricht Mann und Tochter anzurufen. Die Frau weint.
Im Café nebenan wählt sie noch einmal die Nummer der Tochter. Die meldet sich. Rastet aus.
»Meine Mutter soll meinen Vater in Ruhe lassen, sonst bricht der auch zusammen. Sie hatte heute Besuch, konnte Papa da nicht mal wegbleiben? Spazieren gehen? Golf spielen? Einen Freund treffen? Das hält doch keiner aus.«
Die Besucherin versteht, bietet an, noch einmal hineinzugehen und der Mutter zu sagen, ihr Mann käme morgen. Ganz bestimmt. Zum Mittagessen.«
Sie betritt das Altenheim. Am Tisch sitzt die Frau. Neben ihr der Mann.
Die Frau schimpft. »Er ist einfach weggeblieben. Hat mir nichts gesagt. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
Der Mann schaut hilflos, zuckt mit den Schultern. Er hatte einen dringenden Arzttermin, so kurz nach dem Herzinfarkt.
»Schau doch«, versucht sie, die Frau zu beruhigen, »du hast einen so lieben Mann. Er tut alles für dich. Alles.«
»Nein«, schreit die Frau. »Er treibt sich rum. Mit anderen Frauen. Ich will ihn nicht mehr sehen.«
Der Mann nimmt ihre Hand, versucht, sie zu streicheln.
»Geh weg«, schreit sie. »Hau ab! Ich will dich nie mehr sehen!«