Kinderverschickung

 

Auf Bahnsteig 3 standen Eltern dichtgedrängt, aufgeregte, zappelnde oder still vor sich hinweinende Kinder an der Hand. Der Schnellzug von Essen nach Dagebüll über Gelsenkirchen, Dortmund, Hamburg hatte dreißig Minuten Verspätung. Es war Anfang November, die stählerne Überdachung bot nur behelfsmäßigen Schutz gegen Regen und Wind. Mütter hatten die Kragen ihrer Kaninchenfellmäntel hochgeschlagen und hielten den kleinen Sohn, die kleine Tochter an sich gedrückt, halb in den wärmenden Mantel geschlagen. Einige größere Jungen tobten über die Plattform, neckten die kleinen Geschwister und ließen sich erst von den entnervten Worten ihrer Väter zurückpfeifen.

»Mir ist so kalt«, sagte ein Kind und sah mit tränenschimmernden Augen zu seiner Mutter auf.

»Schätzchen, der Zug kommt gleich«, hieß es. Und »Im Zug ist es schön warm.«

»Kommst du mit, Mutti?«, fragte das Kind.

»Du weißt doch, dass das nicht geht.« Die Mutter hob das Kinn des kleinen Mädchens an, blickte es ernst an. »Das ist eine Ferienfahrt nur für Kinder, Gretelein. Ich habe dir das doch erklärt. Die Krankenkasse bezahlt den Aufenthalt für Kinder aus dem Ruhrgebiet, damit sie in der schönen Nordseeluft stark und gesund werden.«

»Ich bin doch stark und gesund«, jammerte das Mädchen und umklammerte die Mutter. »Klausi muss auch nicht weg. Der ist viel öfter erkältet als ich und hustet viel mehr.«

Die Mutter zögerte kurz und blickte zu ihrem Mann, der einen kleinen Jungen auf den Schultern trug, mit dem er Hoppe, hoppe Reiter spielte. Der Kleine quietschte vor Vergnügen.

»Ich will nicht alleine verreisen.« Jetzt liefen die Tränen unaufhörlich.

»Hör mal Grete,«, mischte Papa sich ein, der die letzten Worte gehört hatte. »Du bist doch unsere Große. Du kommst nächsten Ostern in die Schule. Du wirst viel Spaß haben mit den ganzen Kindern hier.«

»Ich kenne niemanden«, wimmerte Grete. »Ich will bei euch bleiben.«

»Das geht nun nicht, Schätzchen«, sagte die Mutter entschieden. »Du bist angemeldet. Und da kannst du nicht einfach wegbleiben. Und guck mal, dahinten kommt Evelin . Die kennst du doch. Ihr könnt doch zusammen spielen.«

Greta winkte heftig, aber Evelin zog ihre Mutter weiter und war im Nu von einer Gruppe von Schulkindern umringt. Gretas Mutter schaute verunsichert zu ihrem Mann, der die Stirn runzelte.

»Die Wagen 5 und 6 sind für unsere Kinder reserviert«, sagte ein Mann mit einer Binde um den Arm, auf dem das Emblem der Krankenkasse aufgedruckt war. Schließlich organisierte die Kasse den Kuraufenhalt, besaß das Kinderheim auf Föhr, übernahm alle Kosten.

Ein Lautsprecher kündigte die Einfahrt des D-Zuges an. Mit schrillem Pfeifen kam der Zug zum Stehen.

»Gelsenkirchen Hauptbahnhof« schnarrte der Lautsprecher. Die Worte waren kaum zu verstehen.

Die Türen wurden aufgerissen, vier ältere Frauen stiegen aus mit Listen In der Hand, machten ordentliche Haken hinter den Namen der mehr oder minder freiwillig einsteigenden Kinder, entwanden Vätern und Müttern mit energischem Griff die Kleinen, die sich an Hände und Mäntel der Eltern klammerten.

»Schnell, schnell. Wir haben nur vier Minuten Aufenthalt. Los geht`s!«

Grete drückte die Nase ans Fenster, Tränen liefen übers Gesicht. Der Vater winkte, bis der Zug nicht mehr zu sehen war.

»Ob das richtig ist?«, fragte er seine Frau, als sie zur Treppe gingen. »Mir bricht es das Herz, sie so weinen zu sehen. Sie ist noch nicht mal sechs.«

»Aber bald«, sagte die Mutter. »Ostern geht sie in die Schule. Und dann muss das aufhören mit den ewigen Erkältungen. Ich kann sie doch nicht andauernd aus der Schule nehmen.«

»Vielleicht sollten wir wegziehen aus dem Ruhrpott«, sagte der Vater. »Der schwarze Staub hier legt sich auf die Lungen, macht die Kinder krank.«

»Unsinn«, sagte die Mutter. »Wir sind auch beide hier großgeworden. Und – sind wir dauernd krank?. Grete wird die Zeit überstehen. Und gesund wiederkommen.«

Der Vater schwieg.

 

 Nach zehn Tagen kam die erste Ansichtskarte: Muscheln und Strand und eine weiße Brandung.

Liebe Mami, lieber Vati,

hier ist es schön. Ich bin gerne am Strand und spiele mit den anderen Kindern. Die Tanten hier sind sehr lieb und wir haben viel Spaß.

Viele Grüße

Eure Grete

»Siehst du«, sagte Gretes Mutter zu ihrem Mann. »Erst dieses Theater, und nun schreibt sie, es gefällt ihr gut. Manchmal muss man hart bleiben. Zum Besten des Kindes.«

»Die Karte gefällt mir nicht. Außerdem hat sie noch nie Mami oder Vati gesagt, immer nur Mutti und Papa. Natürlich kann sie nicht schreiben, aber sie hat auch den Text nicht diktiert. Das sind nicht ihre Worte.«

»Nun fängst du an, dich verrückt zu machen, Wolfgang. Da wird deinem Fräulein Tochter mal etwas abverlangt und schon erwacht dein Beschützerinstinkt. Willst du etwa hinfahren?«

»Ja«, sagte der Mann. »Daran habe ich auch schon gedacht. Auf jeden Fall werde ich mit dem Heim telefonieren. Jetzt! Sofort!«

»Aber die mögen das nicht, diese Anrufe. Die bringen die Kinder nur durcheinander, haben sie in der Vorbesprechung gesagt.«

»Mir egal«, sagte der Mann. »Ich rufe an. Und ich werde auch mit Gretelein sprechen.«

»Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte die Frau. Sie sah ihren Mann in den Flur gehen, hörte das Ratschen der Telefonscheibe.

Leise öffnete sie die Tür einen Spalt. »Sei bitte höflich!«

»Was? Ich kann meine Tochter nicht sprechen?«

Er horchte in den Hörer. »Was sagen Sie? Grete ist krank? Nur eine unbedeutende Grippe? Warum werden wir  Eltern nicht benachrichtigt?«

Pause.

»Ich verbitte mir diesen Ton. Ich hysterisch? Es ist immer noch unsere Tochter. Wir sind die Erziehungsberechtigten!«

Stille.

Dann wieder der Mann: »Mir ist egal, was die Regularien sagen. Meine Frau und ich machen uns Sorgen. Ich werde morgen früh den Zug nehmen, um meine Tochter zu sehen.«

»Wie bitte? Das sei nicht erwünscht, sagen Sie. Das ist mir egal.«

Die Frau hörte, wie ihr Mann den Hörer auf die Gabel knallte. Sein Gesicht war ganz weiß, als er ins Wohnzimmer kam.

»Gretelein ist krank!«, sagte er.

»Habe ich gehört«, sagte die Frau. »Ich fahre mit. Ich bringe den Kleinen zu meiner Mutter.«

 

Sie kamen zu spät. Grete hatte die Grippe nicht überlebt. Die Heimleitung hatte den Notarzt viel zu spät gerufen. Aber vielleicht hätte auch der nicht helfen können. Die winterliche Influenza hatte sich rasend schnell ausgebreitet. Viele Kinder waren ernsthaft erkrankt. Die Gesundheitsbehörde in Schleswig Holstein bestand darauf, alle Eltern zu informieren und sie zu bitten, ihre Kinder abzuholen. Für Grete kamen alle Maßnahmen zu spät.

Sie konnte ihren Eltern nicht mehr erzählen, wie sie dieses Heim gehasst hatte, wie sie gelitten hatte unter dem Zwang, den Teller leer essen zu müssen, auch wenn man keine Erbsen mochte oder keinen Grießpudding. Und wenn sie aufsprang und sich in der Toilette übergab, kam eine der Tanten hinter ihr her und schimpfte, sie sei ein undankbares Kind. In Afrika müssten die Kinder hungern. Sie konnte nicht mehr erzählen, dass sie die Jüngste war und keinen Anschluss an die Schulkinder finden konnte. Sie konnte nicht erzählen, dass sie sich vor den Morgenspaziergängen am Strand gefürchtet hatte, weil der Wind so schneidend kalt durch ihren Anorak pfiff, sodass sie auch noch am Nachmittag gefroren hatte. Sie konnte nicht erzählen, wie sehr sie die Bastelnachmittage verabscheut hatte, an denen man Schablonen mit weihnachtlichen Motiven ausschneiden und an die Fenster kleben sollte. Sie wollte nicht basteln, auch keine Sterne, sie wollte diese Adventslieder nicht singen, weil Evelin über sie lachte und sagte, sie sänge falsch. Wie oft hatte sie zum lieben Jesulein gebetet, sie zu retten, aber er hatte nur milde lächelnd geschwiegen und die anderen Kinder hatten gespottet, weil sie die Engel nicht richtig ausschneiden, die Sterne nicht nach Anweisung der Tanten falten konnte. Und als sie dann am Ersten Advent ein Geschenk bekam, das sie begeistert auswickelte, aber in der Schachtel nur ein Baby in einem Holzbettchen lag, hatte sie allen Mut zusammengenommen und das Ding an die Wand geworfen. Zur Strafe musste sie ins Bett, ohne Abendessen. Zugenommen – jeden Morgen wurde die Waage ein unerbittlicher Richter – hatte sie auch nicht. Sie war eine Enttäuschung für alle wohlmeinenden Tanten, deren Auftrag es war, den Eltern pausbackige, fröhliche Kinder zurückzubringen.

Das Gesundheitsamt leitete eine Untersuchung ein. Das Heim wurde geschlossen.

 


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