Engel mit gebrochenen Flügeln

Sie hatte sich lange gescheut, davon zu erzählen, hatte sich zu sehr geschämt. Sie, Beate, eine gestandene Frau Anfang 40, Anästhesistin, zwei pubertierende Töchter, allein erziehend. Sie kam ja auch gut klar, war praktisch und kontaktfreudig, hatte einen großen Bekannten- und Freundeskreis. Wenn nur diese nagende Sehnsucht nicht gewesen wäre, diese Hoffnung, es könnte doch noch klappen mit einer harmonischen Partnerschaft, vielleicht sogar mit einer leidenschaftlichen Liebesaffäre. Eine frustrierende Ehe: Wolfgang hatte sie von Anfang an betrogen, hatte ein Verhältnis mit einer jungen Krankenschwester angefangen, als sie mit der ersten Tochter schwanger war. Im Arztzimmer waren sie erwischt worden, offensichtlich zu blöd, um abzuschließen. Oder wollten sie erwischt werden? Aber nicht das Paar hatte sich lächerlich gemacht, sondern über sie hatte man hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Hatte die Frau Doktor denn nie gemerkt, dass kaum ein weibliches Wesen in der Klinik vor ihrem Gemahl sicher war? Nein, sie hatte es nicht gemerkt, nicht merken wollen. Sie war bereit, ihm zu verzeihen. Welcher Mann schläft denn auch gerne mit einer Frau mit dickem Bauch. Es hatte gedauert, bis sie den Sprung gewagt, die Scheidung eingereicht hatte.

Und nun stand sie in Köln vor der Strafvollzugsanstalt mit ihrem Ausweis in der Hand.
»Sind sie angemeldet?«, fragte der Pförtner am Eingang freundlich, ohne den abschätzigen Blick, den sie gefürchtet hatte. Sie nickte, er griff er zum Telefon, sie konnte durchgehen.
»Den Gang hinunter«, rief er ihr noch nach. „Die große Glastür rechts führt zum Wartebereich. Dort werden Sie abgeholt.«
Nervös stöckelte sie auf ihren Pumps den Flur entlang. Ein großes »D« stand an einer der Türen und sie drückte hastig die Klinke hinunter, stand mit feuchten Händen im Waschraum vor dem Spiegel. Nach einigen Minuten unter kaltem Wasser trocknete sie sie sorgfältig ab, nahm den Kosmetikbeutel aus der Vuitton-Handtasche, die sie sich im letzten Urlaub in Rom gegönnt hatte. Ein prüfender Blick: Der grüne Lidstrich saß perfekt, betonte ihre braun-grünen Augen. Die Lippen zog sie sorgfältig nach, bloß kein Rot auf den Zähnen. Das helle Rosa passte zu ihren schwarzen, kurzen Haaren und dem hellen Teint. Bloß nicht übertreiben, dachte sie, sonst denkt er noch, ich will was von ihm. Er war es, der sie um einen Besuch gebeten hatte. Um sie persönlich kennen zu lernen, wie er schrieb.
Theologe sei er, hatte er geschrieben. Immerhin hatte sie ihn über eine Paaranzeige in der »Zeit« kennen gelernt. Alles sehr seriös. Und teuer. »Trau dich!«, hatte die beste Freundin gedrängt. »Du riskierst doch nichts. Du kriegst eine Menge Zuschriften, die lesen wir dann gemeinsam und lachen uns tot. Und falls dir – wider Erwarten – jemand gefällt, umso besser.«
Sein erster Brief kam aus Montpellier, er leite dort als Pfarrer ein »spirituelles Zentrum« von internationalem Ruf. Menschen aus aller Welt kämen in das Kloster, um hier zu sich selbst zu finden, einzutauchen in eine Umgebung voller Schönheit und Stille. Hier im alten Gemäuer versorgte man sich selbst versorgen, teilte alle Arbeit miteinander: Gartenarbeit, kochen, putzen. Sie als Ärztin wisse ja, dass erst die Seele geheilt werden müsse, ehe man sich um den Körper kümmern könne. Eine Frau wie sie würde perfekt in die Gemeinschaft passen. Ob sie nicht nach Montpellier kommen möchte.
»Mensch, der geht aber ran«, staunte die Freundin.«Sei bloß vorsichti!«
Das war sie. Wochen-, ja monatelang gingen Briefe hin und her, bis er schließlich bekannte, dass er zurzeit in Montpellier in einer Strafanstalt einsitze. Ein Irrtum, ein fataler Justizirrtum, der sich in Bälde aufklären würde. Eine Verwechslung liege vor, es habe Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung gegeben. Kein Grund zur Sorge, für die Finanzen sei er nie zuständig gewesen. Im Frühjahr, spätestens im Frühjahr solle sie kommen, wenn die Obstbäume in voller Blüte stünden. Sie würde entzückt sein von dem Anwesen, von dem Gemeinschaftsleben dort, vielleicht auch von ihm. Er schickte ihr Zeichnungen vom »Zentrum«, und sie bewunderte den Garten und die uralten Gemäuer des Klosters. Ein guter Koch sei er auch, schrieb er, und jetzt, wo er ein wenig Zeit habe – erzwungenermaßen -, wolle er ihr seine schönsten Rezepte zusammenstellen. Er freue sich schon darauf, mit ihr zusammen am Herd zu stehen. Der Briefwechsel nahm an Intensität zu, der Ton wurde immer vertrauter. Längst war man zum Du übergegangen. »Lieber Johannes!« und »Liebe Beate!«
Eigentlich hatte sie sich entschieden, ihn im Frühjahr in Südfrankreich zu besuchen. Doch ehe sie einen Flug nach Marseille buchen konnte, schrieb er ihr plötzlich aus Köln, wieder aus einer Haftanstalt. Er schäumte. Die Auslieferung nach Deutschland sei völlig illegal. Seine Anwälte hätten Widerspruch eingelegt. Es könne sich nur um Tage handeln, dann sei er wieder frei und sie könnten sich in die Arme nehmen. Ihre Briefe würden ihm emotionalen Halt geben. Im zweiten Brief aus der Kölner Vollzugsanstalt flehte er sie an, ihm ein wenig Geld zu leihen, nur 5000 Euro, er müsse den Anwalt bezahlen. Sie beschloss, die Sache zu beenden. Aber er hatte ihr die Telefonnummer seines Anwalts in Köln geschrieben. Mehr aus Neugier als aus echter Anteilnahme wählte sie schon am nächsten Morgen die angegebene Nummer. Der Mann am anderen Ende war freundlich, bestätigte ihr, dass es um eine Einmalzahlung von 5000 EU gehe, die Herr F. brauche, um gegen die Auslieferung nach Deutschland vorzugehen. Allerdings wich der Anwalt ihrer Frage aus, welches Anklage denn eigentlich gegen Herrn F. vorliege und sagte, als Anwalt dürfe er keine Auskunft geben. Das müsse sie Herrn F. schon selbst fragen.
Höchste Zeit auszusteigen, sagte sich Beate. Aber dann siegte doch – ja was – ihre Neugier? Ihre emotionale Bedürftigkeit? Ihre Sehnsucht nach Nähe? Und da sie gerade eine kleine Erbschaft gemacht hatte, war sie gut bei Kasse und schickte dem Anwalt das Geld auf das angegebene Konto.
Wochen vergingen. Johannes Briefe wurden dringlicher. Enthielten auch immer mehr sexuelle Anspielungen, die ihr peinlich waren. Sie solle ihn doch bitte besuchen kommen. Dann würde man weitersehen.
In den Knast sollte sie fahren? Nach Köln? Das ging doch wohl zu weit. Dann fuhr sie doch. Ohne jemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen, natürlich nicht. Sie wollte sich nicht lächerlich machen.
Und nun stand sie in der Damentoilette in der Kölner Vollzugsanstalt und hatte Angst. Angst vor der Begegnung mit diesem wildfremden Mann, der ein Krimineller war oder auch nicht, Justizirrtümer gab es ja immer wieder. Energisch trat sie wieder auf den Gang hinaus. Ging weiter zum Warteraum. Ein freundlicher Justizbeamter nahm sie in Empfang, sagte, Herr F. warte schon.
Und dann kam er ihr entgegen: ein gut aussehender älterer Herr mit grauen Haaren, einem aufrechten Gang und einem warmen Lächeln im Gesicht. Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu. Er will mich doch nicht umarmen, dachte sie und wich erschrocken einen Schritt zurück. Auch der Beamte sagte freundlich, aber entschieden: »Kein Körperkontakt, bitte!«
Trotzdem war es nicht wie im Fernsehkrimi. Johannes trug keine Sträflingskleidung, es gab kein Gespräch durch die Luke in einer Trennwand, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie setzten sich an einen Tisch und der Aufsichtsbeamte zog sich diskret ein wenig zurück. Allerdings nur so weit, dass er jedes Wort verstehen konnte.
»Wie schön, dass du kommen konntest, Beate«, sagte Johannes, lächelte und zeigte eine Reihe gerader, weißer Zähne. »Meine Angelegenheit ist auf dem besten Weg, gelöst zu werden. Es kann sich nur noch um Tage, höchstens um eine Woche handeln.« Wieso sollte sie dann so dringend nach Köln, dachte Beate, sagte aber nichts.
»Und danke für das Geld. Du bekommst natürlich alles zurück.« Wieder grinste er offen und fast jungenhaft. »Ich komme zurzeit in Frankreich nicht an mein Geld. Aber es ist genug da. Das musst du mir glauben. Genug für uns beide. Für unsere gemeinsame Zukunft.«
Sein ernster Blick, sein gut geschnittenes, markantes Gesicht, seine tiefe, ruhige Stimme, der Mann gefiel ihr, das musste sie zugeben.
»Worum geht es eigentlich?«, fragte sie. »Wieso hat man dich festgenommen?«
Mit einem Blick auf den Beamten zuckte Johannes die Schultern.
»Das kann ich hier nicht sagen. Aber du musst mir glauben, es ist alles ein Irrtum. Ich bin unschuldig, man hat mich reingelegt. Ich habe mit finanziellen Transaktionen nie etwas zu tun gehabt. Und ausliefern durften mich die Franzosen sowieso nicht.«
Verwirrt verließ Beate nach einer halben Stunde die Vollzugsanstalt. Sie war genauso schlau wie vorher. Erfahren hatte sie nichts, gar nichts. Der Mann war nicht so sympathisch wie seine Briefe, das nicht, wahrscheinlich hatte sie sich in ihrer Phantasie einen Traummann geschnitzt, aber unsympathisch war er ihr auch nicht. Höchstens zu alt. Spannend war die Sache allemal. Wer besucht schon seine Briefbekanntschaft im Knast?
Weitere Briefe folgten. Johannes berichtete, dass er sonntags in der Gefängniskirche hin und wieder den Gottesdienst übernehme und einen Gesprächskreis für Gefangene leite, der gut besucht würde. Damit traf er Beates schwachen Punkt. Pietistisch erzogen und mit tiefem Respekt für alles Theologische war sie beeindruckt. Als sich allerdings der Anwalt wieder meldete und im Auftrag von Herrn F. um weitere 5000 Euro bat, suchte Beate die Nummer des Gefängnisgeistlichen heraus und rief ihn an. Der Mann fiel aus allen Wolken. Ja klar, er kenne Herrn F. gut. Ein charismatischer Mann. Ja, der sei zwar kein Pfarrer, aber theologisch sehr bewandert. Gesprächskreise für die Mitgefangenen biete er an, das sei wahr.  Aber sie solle ihm um Gottes willen kein Geld mehr leihen. Der Mann sei ein Betrüger, zugegeben ein charmanter Betrüger, er, der Pfarrer, möge ihn sogar gut leiden, endlich ein intelligenter Mensch im Vollzug, aber für sie sei es wohl besser, jeden Kontakt abzubrechen.
»Sie sind wirklich Ärztin?«, fragte er noch und sagte, im Gericht diskutiere man über Sicherheitsverwahrung für Herrn F.
Beate stieg die Schamröte ins Gesicht. Sicherlich hielt der Geistliche sie für eine ganz dumme Gans.
»Herr F. hat schon vielen Leuten etwas vorgemacht. Sie sind nicht das erste Opfer. »
Beate schickte ihren letzten Brief in die Kölner Vollzugsanstalt. »Johannes, wer bist du?«
Erstaunlicherweise kam eine Antwort. Er liebe sie. Habe sich sofort in sie verliebt, als sie ihn in Köln besucht habe. Er habe von einer gemeinsamen Zukunft geträumt.  Geld sei kein Problem, sie müsse nur auf ihn warten.
»Aber einen Engel mit gebrochenen Flügeln kannst du wohl nicht lieben?«
Er schickte ihr  handgeschriebene Texte mit all seinen Kochrezepten: »Zur Erinnerung!« Sie warf den Ordner und seine Briefe in den Müllcontainer.
Ob Johannes F. Sicherheitsverwahrung bekam,  wollte Beate nicht herausfinden.


Tags:

 
 
 

One Response to “Engel mit gebrochenen Flügeln”

  1. Gravatar of Gisela Gisela
    7. November 2015 at 16:55

    Spannend von der ersten bis zur letzten Zeile.Der Ausgang der Geschichte überraschend und nachvollziehbar. Unbedingt weiter schreiben!

Schreibe einen Kommentar