Termessos – Stadt der toten Helden

Der zottelige Hirtenhund kommt auf uns zugesprungen, als wir aus dem Auto steigen. Jung scheint er zu sein und übermütig. Er versucht, an mir hochzuspringen und ich wehre ihn ab und streichele sein struppiges Fell. Hat ihn ein Besucher hier ausgesetzt? Oder hat er die Ziegenherde zurückgelassen oben in den Ruinen von Termessos, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren?
Wir schultern die Rucksäcke, beladen mit Wasser, Schinkenbroten und Äpfeln und wandern den steilen Königspfad hinauf, der 30 km nordwestlich von Antalya aus den fruchtbaren Tälern der Ebene hinauf nach Termessos führt. Nur der Hund bleibt uns auf den Fersen und sein aufgeregtes Gebell wird von den Felswänden zurückgeworfen.
»Hau ab!«, sagt mein Mann, der kein großer Hundefan ist. »Hau ab zu deinen Viechern!« Der Hund hält den Kopf schief, hängt die Zunge heraus und scheint zu grinsen, macht aber keine Anstalten umzukehren. Ganz im Gegenteil, er drängt an uns vorbei, wartet auf uns auf dem steil aufsteigenden Königspfad.
Termessos liegt auf über 1000 m Höhe und war zu Zeiten des Trojanischen Krieges eine der mächtigsten Städte in Lykien. Das Meer ist weit entfernt, Handel und Schifffahrt kann die Stadt nicht reich gemacht haben. Wie ein Adlernest liegt sie auf den Hängen des Taurus-Gebirges. Jahrtausende lang hatte sie sich gehalten, uneinnehmbar für alle Angreifer. Auch Alexander der Große war an Termessos gescheitert und musste unverrichteter Dinge umkehren. Helden waren hier geboren worden, Krieger, die schon in Troja gegen Odysseus und Achill gekämpft hatten und deren Mut legendär war. Solymer hatten sie sich genannt, die Bewohner, die ihre Söhne als Söldner in alle Kriege schickten, Solymer  – nach dem  Berg, der die Stadt überragt.
Durch die Ruinen der Unterstadt peitscht ein heftiger Wind, lässt an die knallenden Fahnen denken im Heerlager vor Troja. Wir steigen zu dem gut erhaltenen Theater hoch, lassen uns auf den massiven Granitreihen nieder, teilen das Picknick mit dem Hirtenhund, der uns offensichtlich adoptiert hat, genießen einen überwältigenden Anblick: in der Ferne das im Sonnenschein glitzernde Meer, unter uns die in Ruinen liegende Stadt. Gymnasion, Artemis-Tempel, Agora, Stoa, die Gebäude überwuchert von grünem Dickicht.
Staunend stapfen wir über die antike Straßenpflasterung, vorbei an zertrümmerten Tempeln bis hin zum grasüberwachsenen Marktplatz. Menschenleer ist diese Welt, nur von Göttern und Dämonen bewohnt, an die zu glauben einem nicht schwerfällt, wenn man sieht, wie über die sich nach Nordwesten ausdehnenden Gebirgskämme eine Walze von schwarzen Gewitterwolken auf uns zutreibt. Wir treten aus dem Dickicht in ein großes Geröllfeld, aus dem ein wuchtiger Sarkophag wie ein sinkendes steinernes Schiff herausragt. Die Solymer hatten wohl die Särge direkt vor Ort aus den Steinen gehauen, denn nur Riesen oder Monster hätten die gewaltigen Blöcke hier heraufschleppen können. Von ihren auf mächtigen, monolithischen Blöcken und Pfeilern ruhenden Totenbetten hatten die gefallenen Helden einen grandiosen Blick über die Ebene bis hin zum Meer. Doch welche Macht hatte die riesige Zerstörung angerichtet? Krieg? Die Eroberung durch eine technisch überlegene Armee? Oder es war ein Erdbeben, das die Tempel und Häuser zerstört, die Sarkophage umgekippt und die Leichen der Krieger aus den steinernen Särgen herauskatapultiert hatte. Mein Mann klettert in einen von einem großen flachen Stein halb zugedeckten Sarkophag. Lässt sich fotografieren, wobei er so tut, als ob er die zerstörte, aber immer noch mächtige Abdeckung wegschiebt. »Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab und wälzte den Stein von des Grabes Tür…«, jene unvergesslichen Worte der Ostergeschichte kommen mir in den Sinn und der Gedanke, dass es die Götter selbst gewesen waren, die die im Krieg hingeschlachteten Helden aus ihren Gräbern geholt und mit einem neuen Leben belohnt hatten. Nirgendwo – so lese ich später im Reiseführer – sind Skelette gefunden worden.
Die ersten Tropfen des Gewitterregens sprenkeln das scharfkantige Geröll, auch der Hund hat den Schwanz zwischen die Beine geklemmt und schaut traurig zu uns hinauf. Die ersten Donnerschläge lassen die Welt erzittern. Entfernte Blitze rollen über den Horizont. In Lykien waren die Toten hoch über den Lebenden bestattet worden. Noch liegt die Unterstadt im Licht, breitet sich eine helle tröstliche Welt aus, wie für die Augen der Toten bestimmt als Verheißung, dass der Tod nicht das Ende bedeutet, sondern den Übergang zu einer schöneren Welt, die sich in aller Pracht ausbreitet wie die Verheißung eines Paradieses.
Wir müssen uns beeilen, folgen dem Gebell des Hundes, der den Weg hinunterjagt, und dann doch abrupt vor dem Grab des Alketas Halt macht, die Pfoten auf die Schwelle stemmt und hineinjault in das dunkle Innere der Grabkammer. Wir stehen gebannt auf der gemeißelten Schwelle der letzten Ruhestätte jenes makedonischen Flüchtlings, der entgegen den heiligen Regeln der Gastfreundschaft auf Beschluss des Ältestenrates an seine Feinde ausgeliefert werden sollte und sich deshalb in sein eigenes Schwert stürzte. Das aufwendige Grabmal als ein Versuch der Solymer, die Schande zu tilgen, die Schuld zu sühnen, die dieser Verrat über sie gebracht hatte? Die steinerne Bahre ist leer. Keine Engel im leeren Grab. Die Welt der Toten hat die Welt der Lebenden zum Verschwinden gebracht.


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