Vierer mit Steuermann

 

 

Trotz der Hitze war die Klimaanlage nicht ausgefallen. Im ICE von Hamburg nach München war es angenehm kühl. Helmut hatte ein Ticket erster Klasse gebucht, setzte sich auf seinen Platz am Fenster, klappte das Tischchen hinunter, legte den Laptop ab, verband ihn mit der eingebauten Stromdose unter dem Sitz. Er lehnter sich zurück, ließ die Hamburger Vororte an sich vorbeiziehen und schaute in den wolkenlosen Himmel. Schade, der perfekte Tag zum Segeln, dachte er. Seine Hallberg Rassy schaukelte schon seit Wochen ungenutzt im Yachthafen vor sich hin. Immer wieder waren ihm, dem Wirtschaftsprüfer einer alteingesessenen Hamburger Consultingfirma, Geschäftstermine dazwischengekommen. Für dieses Wochenende war die verblüffende Einladung aus Starnberg gekommen. Ein Anwaltsbüro in München hatte ihn mit nüchternen Worten von Ulrich Wagners Tod in Kenntnis gesetzt und ihm den letzten Willen des Verstorbenen übermittelt: Die alten Kameraden des siegreichen Vierers mit Steuermann mögen sich vor der Beisetzung der Urne in Ulrich Wagners Haus in Starnberg treffen. Man bitte darum, den Willen des Toten zu respektieren.

elmut hatte ein paar Tage gezögert, aber dann hatte die Neugierde gesiegt. Sie hatten sich seit über 30 Jahren nicht mehr gesehen. Kurz nach der Olympiaqualifikation war die Mannschaft auseinandergebrochen, einfach so. Nein, korrigierte sich Helmut. Nicht einfach so. Der Grund war Irmi gewesen, die strahlende, attraktive Irmi mit dem wippenden blonden Pferdeschwanz und den großen blauen Augen.
Helmut seufzte und startete den Rechner, rief seine Mails auf. Wäre alles anders gekommen, wenn er Irmi geheiratet hätte? Aber irgendwie hätte Irmi nicht gepasst. Nicht zu seinem gebildeten hanseatischen Elternhaus, nicht als Frau eines ehrgeizigen, aufstrebenden Juristen. Frauke passte besser. Als elegante und gebildete Senatorentochter hatte sie ihm viele Türen geöffnet. Dass sie sich mit der Zeit auseinandergelebt hatten, war wohl das Schicksal aller langjährigen Alt-Ehen. Frauke war glücklich in ihrer Galerie und feierte Partys mit ihren Künstlerfreunden. Er hatte Wichtigeres zu tun.
Helmut klickte die Hälfte der Nachrichten weg, beantwortete ein paar Geschäftsbriefe und stolperte dann über eine Mail von seinem ehemaligen Teamkameraden Johannes, der anfragte, ob er, Helmut, auch nach Starnberg kommen würde. Schlagartig sah er Johannes vor sich, schlank, aber verblüffend muskulös, mit Rhythmusgefühl und Schlagkraft, ein talentierter Harmonisierer, dem es damals immer wieder gelungen war, alle aufkeimenden Differenzen unter den jungen Männern zu beschwichtigen. War Johannes eigentlich auch in Irmi verliebt gewesen? Oder war er gar nicht an Frauen interessiert? Gernot lästerte manchmal über Johannes und machte Andeutungen in dieser Richtung, aber niemand war wirklich darauf eingegangen. Das Training, die internationalen Siege hatten sie zusammengeschweißt. Sie steuerten auf den großen Sieg zu, der ihre Laufbahn krönen, ihre Namen unsterblich machen sollte: Olympisches Gold. Bis, ja, bis Irmi auftauchte.
Helmut versuchte sich zu konzentrieren, arbeitete bis München durch, klappte den Rechner zu, hievte seine Reisetasche aus dem Gepäcknetz und stand auf. Stöhnend drückte er die Hand ins Kreuz. Der große Sportler, dachte er. Wer mich so sieht, wie ich durch den Gang hinke, der würde nie vermuten, wie perfekt mein Körper einmal funktioniert hat. Damals, ja damals, da machte ich echt Schnitte bei den Mädchen. Er grinste in sich hinein, nahm die Rolltreppe hinunter in die Bahnhofshalle und sah – Irmi. Das konnte nicht sein. Irmi war tot. Und doch: Es war Irmi. Zu den Klängen des Ravelschen Bolero tanzte Irmi mitten in der großen Halle. Ihr schlanker Körper bog und drehte sich anmutig zur Musik, die blonden Haare am Hinterkopf festgesteckt, die schlanken Arme graziös zur Decke gehoben. Ein junger sprang Mann an ihre Seite und noch einer und noch einer. Die Menschen waren stehengeblieben, machten einen Kreis um die Tanzenden. Die Musik wurde lauter, drängender, zwei Polizisten schlossen sich den Tänzern an, ein Koch mit weißer Mütze tanzte in die Mitte, der Bettler am Rand stand auf und machte die ersten Schritte zum hämmernden Rhythmus der Musik. Im Nu war die Halle gefüllt mit umherwirbelnden Tänzern. Die Touristen staunten, klatschten, waren hingerissen. Ein Flashmob, dämmerte es Helmut. Er drängte sich weiter nach vorn. Egal, auch wenn er die S-Bahn nach Starnberg verpasste. Er musste sich die junge Frau ansehen, die als Erste angefangen hatte zu tanzen. Irmi? Natürlich war es nicht Irmi. Konnte gar nicht Irmi sein. Aber die Ähnlichkeit war verblüffend. Dasselbe strahlende Lächeln, die großen blauen Augen, die lebhaften Bewegungen. Wie verliebt er war, Hals über Kopf verliebt. Helmut schloss sich dem Schlussapplaus an. Aber mit Irmi in der Nacht nach der Olympiaqualifikation zu verschwinden, das war Rudi gegenüber nicht fair gewesen. Rudi und Irmi waren schließlich verlobt. Frauen von Freunden sind tabu, sollten tabu sein, dachte Helmut. Ich war ein Schwein, Aber mit seinem Verrat hatte der Auflösungsprozess der Mannschaft begonnen. Das gemeinsame Training wurde lustlos, die Siege blieben aus, die Karriere des berühmten deutschen Vierers mit Steuermann fand ein ruhmloses Ende.

Hirnrissige Idee! Wieso war er überhaupt gekommen?
Helmut stellte die Reisetasche vor dem schmiedeeisernen Portal ab. Zu beiden Seiten hohe, weiße Mauern mit einbetonierten Glasscheiben. Er hielt das Gesicht vor die Überwachungskamera, drückte auf den bronzenen Klingelknopf. Eine Villa, direkt am Starnberger See. Typisch Ulrich Wagner! Hat Kapital geschlagen aus seiner frühen Berühmtheit. War immer der Cleverste von ihnen allen.
Der Öffner summte, das Tor sprang auf. Helmut ging den hellen Kiesweg hinauf zum Haus. Die mit Bronzebeschlägen verzierte Eingangstür wurde aufgerissen. Ein bulliger Endsechziger stand in der Öffnung. Gernot, ja natürlich.  Der war schon damals kräftig. Der ideale Schlagmann, wohl mit den Jahren aus der Form geraten. Kurzes Stutzen, brüllendes Hallo, Schulterklopfen.
»Helmut, alter Knabe. Auch nicht mehr der Jüngste, was! Wo sind deine Locken geblieben? Du holder Knabe!« Gernot wieherte. »Komm rein! Johannes ist auch da!«
Helmut schulterte die Reisetasche, folgte dem Mann ins Wohnzimmer. Scheiben bis zum Fußboden erlaubten einen grandiosen Blick auf den Starnberger See. Weiße Segel jagten über blaues Wasser. Die dunstigen Umrisse der Alpenkette als Hintergrundkulisse. Eine Szene wie auf einer Ansichtskarte. Surreal.
Ein schlanker Mann federte aus dem Ledersessel, kam mit ausgestreckten Händen auf Helmut zu. Johannes. Unverkennbar. »Schön, dass du kommen konntest, Helmut. Ich habe natürlich befürchtet … «.
Er umarmte Helmut, drückte ihn kurz an sich, schob ihn wieder von sich, schaute ihn prüfend an. »Gernot hat gesagt, dass … «
»Befehl vom Steuermann. Dem müssen wir Folge leisten. Auch nach vierzig Jahren«, sagte Gernot und zwinkerte Helmut zu. Der zuckte die Schultern. Hatten sie Angst, er würde nicht kommen. Oder sogar gehofft, er würde kneifen? Nein, den Gefallen tat er ihnen nicht. Helmut schaute auf die satt-grüne Rasenfläche, die sich bis zum See zog. Die Sprinkler-Anlage arbeitete.
»Du hast Karriere gemacht, Johannes. Glückwunsch, alter Jazzer! Jede Menge Auftritte in den USA, sagt das Internet. Kommst du direkt aus den Staaten?«
»Ja, wir starten in einer Woche eine Europa-Tournee«, sagte Johannes und wies auf den schwarzen Klarinetten-Kasten auf der Fensterbank. «Ich hoffe, du kommst zu meinem Konzert.«
»Ehrensache! Ihr tretet in Hamburg auf. Beim Jazz Open. ich habe die Vorankündigung gelesen. Wirst du auch hier für uns spielen, Johannes?«
»Ich weiß nicht. Ich will mich nicht aufdrängen.«
»Spiel noch einmal Petite Fleur für uns, Johannes!«
»Weißt du noch, wie Irmi mich immer angebettelt hat, Sidney Bechet zu spielen? Wie ausgelassen sie angefangen hat zu tanzen, wenn sie die ersten Töne hörte?« Johannes summte die ersten Takte.
»Ach, die Herren schwelgen in Erinnerungen«, sagte Gernot. »Pure Sentimentalität. Vorbei ist vorbei. Spiel was, aber was Fetziges.«
Er ging zur Bar an der Wand.»Helmut, Whisky mit oder ohne?«
»Ich trinke nicht, ehe es dunkel wird.«.
»L ´heure bleue. Ich verstehe. Hartes Los im Sommer. Du warst doch früher nicht so ein Chorknabe.«
Gernot lachte, schenkte ein Glas halbvoll, ließ Eiswürfel hineinfallen.
»Für dich, Johannes. Wir sollten uns volllaufen lassen. Alkohol löst Probleme.«
»Nein! Tut er nicht«, sagte Johannes, nahm aber das Glas und ging hinüber zum vergilbten Schwarz-Weiß-Foto über dem Sideboard.
»Seht euch das an. Das Foto muss Minuten nach unserem Olympiasieg aufgenommen worden sein. Wie jung wir aussehen.«
Helmut stellte sich neben ihn.
»Wir sind alle fünf drauf. Irmi sitzt auf Rudis Schultern.«
Helmut legte das Jackett ab, ließ sich auf das weiße Ledersofa fallen, kontrollierte den Sitz seiner Armani-Hose, hob den Stoff an den Knien leicht an.
»Der ICE hatte mal wieder Verspätung. Aber zum Glück ist diesmal die Klimaanlage nicht ausgefallen. Alle reden vom Wetter, nur die Bahn hat das nicht nötig.«
»Meint ihr, Rudi kommt?«, fragte Johannes. »Ich habe seit Jahrzehnten nichts mehr von ihm gehört. Konnte ihn auch nicht googeln.«
»Ich hab`s auch versucht«, sagte Helmut. »Unauffindbar. Vielleicht hat Rudi unserem Gernot immer noch nicht verziehen und kommt deshalb nicht.«
»Alte Kamellen«, sagte Gernot. »Die arme Irmi ist lange tot.«
»Und wenn Rudi immer noch denkt, dass du sie ihm weggenommen hast?«
»Ich? Dass ich nicht lache. Ein harmloser Flirt.«
Er schenkte sich Whisky nach.
»So harmlos doch wohl auch nicht. Irmi hat wegen dir mit Rudi Schluss gemacht«, sagte Helmut. »Sie waren so gut wie verlobt.«
»So what? Festhalten und weitersuchen, genannt Verlobung. Übrigens, Helmut, tu nicht so unschuldig. Du warst doch auch heiß auf Irmi. Nach der Siegesfeier warst du es doch, der mit ihr verschwunden ist. Sag bloß, da war nichts.«
Wieder Gernots dröhnende Lache.
Ich hasse ihn, dachte Helmut. Ich habe ihn immer gehasst. Ich könnte ihm das Whiskey-Glas ins Gesicht drücken.
»Wie viele Ehen hast du eigentlich hinter dir, Gernot? Hast du wirklich eine 17-jährige Ruderin geschwängert? In deiner Zeit als Nationaltrainer? Haben sie dich deswegen rausgeschmissen?«
Johannes hob beschwichtigend die Hände. »Lasst uns doch nicht … «
Er wurde unterbrochen. Der Gong nudelte seine Melodie ab. Johannes sprang auf, bugsierte einen blassen Mann mit brennenden, dunklen Augen in den Raum.
»Wenn der Steuermann ruft«, sagte Gernot. »Willkommen, Rudi!«
Rudi gab keinem die Hand, setzte sich auf einen Hocker nahe der Tür. »Wie ihr seht. Ich bin gekommen. Wann ist die Testamentseröffnung?«
»In einer halben Stunde«, sagte Gernot. »Der Anwalt kommt ins Haus.«
»Was soll überhaupt das ganze Theater? Sind wir auf einmal alle erbberechtigt?«, fragte Helmut.
»Ulrich hatte keine Kinder«, sagt Rudi. »Wusstet ihr, dass er kurze Zeit mit Irmi verheiratet war?«
»Nein, das wusste ich nicht. Aber seien wir ehrlich, jeder von uns wollte Irmi«, sagte Helmut.
»Ich allein habe sie geliebt«, sagte Rudi.
Gernot lacht wieder sein dröhnendes Lachen. »Ich nicht. Ich fand sie nur unglaublich sexy.«
»Du kannst gar nicht lieben. Du liebst nur dich«, sagte Johannes.
»Und das sagst ausgerechnet du. Du selbstgerechte,
schwule … «
»Sprich das Wort nur aus, Gernot. Sprich es nur aus! Ich bin das gewöhnt. Aber zu deiner Information. Auch ich habe Irmi geliebt.«
»Irmi hat sich umgebracht«, sagte Rudi. »Es war Ulrich, der sie in den Tod getrieben hat.«
»Woher willst du das wissen, Rudi? Dass es kein Unfall war damals auf der Bergtour«, sagte Gernot. »Irmi ist unangeseilt über das Eisfeld gelaufen und abgerutscht, das hat auch die polizeiliche Untersuchung ergeben. Ulrich hatte sie gesichert, aber auf dem flachen Schneefeld hat sie den Karabinerhaken ausgehakt. Und dann hat sie einen Trittfehler gemacht und ist hinter ihm ins Rutschen gekommen.«
»Woher weißt du das so genau, Gernot?«
»Hat Ulrich mir selbst erzählt. Damals. Kurz nach dem Unfall. Er war am Boden zerstört.«
Rudi winkte ab. »Alles gelogen. Irmi hat zu viel gewusst über Ulrich. Sie wurde für ihn gefährlich.«
»Was für Räuberpistolen erzählst du denn da, Rudi?«
Johannes hatte sein Glas abgestellt. »Was sind das denn für Verschwörungstheorien?«
»Ihr habt ja keine Ahnung, wer Ulrich war«, sagte Rudi und seine Augen glitzerten gefährlich.
Er ist verrückt, dachte Helmut. Ein Psychopath.
»Als Berufsoffizier hat Ulrich für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet. Undercover. War an weltweiten Schweinereien beteiligt: Entführung, Mord, Lösegeldzahlungen, Korruption … «
»Ein deutscher James Bond? Dass ich nicht lache.« Gernot nahm einen Schluck. »Wann soll das denn gewesen sein?«
»Schaut euch doch die Immobilie hier an: die Villa, ein Grundstück direkt am See, die Yacht am Steg. Das alles vom Gehalt eines Bundeswehroffiziers? Ulrich hat unendlich viel Geld kassiert. Und verschoben. Als die Steuerbehörde ihn endlich wegen Betrugs am Haken hatte, ist er von höchster Stelle gedeckt worden. Die Seilschaft aus Pullach hält zusammen«, sagte Rudi.
»Die haben selbst zu viel am Stecken. Das stimmt. Die decken sich gegenseitig.« Wieder leerte Gernot sein Glas in einem Zug. »Donnerwetter. Der Ulrich. Wer hätte das gedacht. Aber schlau war der immer.«
»Sag bloß, dir imponiert das auch noch?« Helmut füllte ein Glas mit Mineralwasser.
»Was willst du damit sagen, Helmut? Du verwöhntes Richtersöhnchen. Hast dich ja schon immer für was Besseres gehalten. Und die Irmi war dir doch auch nicht gut genug. Hast lieber die Senatorentochter geheiratet. Günstiger für die Karriere.«
Mit geballten Fäusten ging Helmut auf Gernot zu.
»He, he«, sagte Johannes. »Seid ihr alle verrückt geworden? Wir treffen uns hier zu Ulrichs Trauerfeier, und ihr geht euch an die Kehle.«
»Ich bin nur gekommen, um auf alles zu spucken, was mir Ulrich vermacht hat. Nichts nehme ich an von diesem Schwein. Gar nichts.« Wieder das irre Funkeln in Rudis Augen.
Wenn das so weitergeht, gibt es Mord und Totschlag, dachte Helmut. Rudi ist nicht ganz dicht. Späte Rache, weil man ihm die Verlobte ausgespannt hat? Verrückt!
Wieder die aufdringliche Melodie des Gongs. Gernot öffnete. Der Anwalt betrat den Raum, grüßte, legte seine Ledermappe auf den Glastisch.
»Schön, dass Sie gekommen sind, meine Herren. Es hat einige Mühe gekostet, Ihre Adressen ausfindig zu machen. Ich trage die Verantwortung, dass das schriftlich festgehaltene Vermächtnis des Verstorbenen erfüllt wird. Ein Moment, ich zitiere:«
Der Anwalt nahm die Lesebrille aus dem Etui.
Ich, Ulrich Wagner, verfüge im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass die überlebenden Mannschaftskameraden des siegreichen Olympiavierers mit Steuermann – hier machte der Anwalt eine Pause und schaute jeden der Anwesenden über die Brillengläser an – sich nach meinem Ableben in meiner Villa am Starnberger See treffen und die Hausbar leertrinken. Erst dann soll mein Erbe verteilt, mein Leichnam verbrannt und in den Starnberger See gestreut werden.
Die Männer starrten den Anwalt an. Johannes atmete hörbar aus, Gernot verschluckte sich an seinem Whisky, Rudi sprang auf, öffnete den Mund, entschied sich anders und ließ sich wieder auf den Hocker sinken.
»Wisst ihr was, das ist mir alles zu albern«, sagte Helmut. »Ich gehe.«
»Das tust du nicht«, sagte Gernot. »Vielleicht bist du der Einzige, der auf das Geld pfeifen kann. Ich nicht. Mir steht das Wasser bis zum Hals.«
»Die ganze Geschichte ist irre«, sagte Johannes. »Ich komme mir vor wie bei Agatha Christie. Zehn kleine Negerlein, bloß dass wir nur zu viert sind.«
»Am liebsten würde ich euch alle über den Haufen schießen«, sagte Rudi.
»Ich ahnte es«, sagte Helmut. »Tag der Abrechnung. Wirklich zum Lachen, wenn es nicht so ernst wäre. Ich hoffe, du hast nicht wirklich eine Waffe dabei, Rudi?«
Rudi zuckte die Schultern. »Jetzt habt ihr die Hosen voll, oder?«
»Du kannst uns doch hier nicht abknallen«, sagte Gernot. »Das macht keinen Sinn nach so vielen Jahren.« Er legte den Kopf auf den Couchtisch.
In die Stille hinein der Türgong. Alle sprangen auf. Mit einer Handbewegung nötigte sie der Anwalt sitzenzubleiben, verließ den Raum, kam wieder mit einer jungen Frau.
»Irmi«, schrie Rudi und lief auf sie zu.
Unmöglich, dachte Helmut und schaute auf die Frau. Die Ähnlichkeit war verblüffend, die Figur, die blonden Haare, die grünen Augen. Aber das war nicht Irmi. Konnte nicht Irmi sein. Das schien auch Rudi erkannt zu haben. Er blieb abrupt stehen.
Die junge Frau war an der Wohnzimmertür stehengeblieben, die Arme vor der Brust gekreuzt. Sie nagte an der Unterlippe.
»Ich bin Antonia. Irmgards Tochter«, sagte sie leise. »Ich möchte wissen, wer von Ihnen mein Vater ist.«
»Und dafür das ganze Theater hier?«, sagte Helmut. »Das hätten Sie leichter haben können.«
»Wie denn?«, fragte Antonia. «Sagen Sie es mir! Wie denn?«
»Dann war Irmi auch nicht sicher, wer der Erzeuger war?« Gernot hob den Kopf vom Tisch. »Kleine Nutte, die sie war.«
Drohend hob Rudi die Fäuste.
»Ulrich hat mich adoptiert. Auch nach dem Unfalltod meiner Mutter hat er sich um mich gekümmert. Als Einziger.«
»Vielleicht war er Ihr Vater?« Die Stimme von Johannes.
»Nein«, sagte Antonia. «Ulrich war steril, konnte keine Kinder zeugen. Solange er lebte, wollte er für meinen leiblichen Vater gehalten werden. Aber kurz vor seinem Tod hat er mir versprochen, mir zu helfen, meinen biologischen Vater zu finden. Deswegen das Testament. Deswegen sind Sie hier.«
»Wenn ich das gewusst hätte«, sagte Helmut.
»Eben«, sagte Antonia.
»Also DNA-Test«, sagt Johannes. »Dass ich auf meine alten Tage vielleicht noch einmal Vater werde … «
»Du hast auch mit ihr geschlafen?« Rudis Stimme war schrill. »Der Einzige, der als Vater in Frage kommt, bin ich … «
»Nun mal langsam«, sagte Gernot, der plötzlich nüchtern klang. »Was wollen Sie? Blut? Mein letztes Kaugummi? Bis zum Ergebnis saufen wir die Vorräte leer.«
»Ich nicht«, sagte Helmut. »Das hier ist mir zu blöd. Auf Wiedersehen.«
»Das geht nicht«, schrie Gernot. »Das Erbe! Ulrich war reich! Wir müssen …«
Helmut drehte sich zum Anwalt. »Sie werden Freiheitsberaubung nicht unterstützen, sonst werde ich dafür sorgen, dass Sie Ihre Zulassung verlieren.«
»Natürlich können Sie gehen, mein Herr. Niemand hält Sie auf.«
Helmut stand auf, nahm seine Tasche. Antonia verstellte ihm den Weg.
»Sie sind es«, sagte sie. »Und Sie haben gewusst, dass meine Mutter schwanger war. Sie hat gesagt, mein Vater sei ein armseliger Wicht, der nur für seine Karriere lebte. Ich bräuchte Sie nicht kennenzulernen. Sie hatte Recht.«
Antonia öffnete die Tür. »Gehen Sie«, sagt sie. »Gehen Sie einfach weg! Und kommen Sie nie wieder!«

 

 


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