Auge um Auge

Sie kannten sich vom Volkshochschulkurs, die fitte 16-köpfige Rentnergruppe aus Berlin, alle zwischen 60 und 75 Jahre alt. Seit Jahren versuchten sie, ihr Französisch nicht einrosten zu lassen. Die Kursleiterin – Marie-Claire, eine Pariserin im reiferen Alter – traktierte ihre Schützlinge nicht mit komplizierten grammatischen Finessen, sondern schaffte eine Gesprächsatmosphäre, in der die Teilnehmer ermutigt wurden, »zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen war«. Zwei einwöchige Parisaufenthalte schweißten die Gruppe zusammen, sodass im Laufe der Zeit durchaus auch persönliche Probleme, sogar Konfliktsituationen in der Gruppe,  von den Teilnehmern angesprochen und diskutiert wurden, natürlich alles auf Französisch.
Als Marie-Claire im vierten Jahr vorschlug, statt nach Paris nach Istanbul zu fahren, waren alle Feuer und Flamme. Istanbul – die Schöne am Bosporus, das türkische Manhattan. Madame hatte Berichte, Meldungen und Kommentare aus »Le Monde«, »Paris Match«, »Le Figaro« und dem »Nouvel Observateur« zusammengestellt, die der Gruppe Geschichte und Kultur des osmanischen Reiches genauso näher brachten wie die aktuelle politische Lage, den Kurdenkonflikt und die Diskussion über die angebliche Unterstützung des IS durch die türkische Regierung.
Fasziniert klebten viele Fluggäste an den  Fenstern, als der Pilot in den Sinkflug ging und  die Maschine in einer langen Kurve über das blau schimmernde Wasser des Bosporus zog. Sonne glitzerte auf den Dächern der Häuser, der Kuppeln und Minarette: Hagia Sophia, blaue Moschee, Topkapi-Palast, die Galaterbrücke, alle Gebäude winzig klein wie im Hamburger Eisenbahnmuseum. Menschen waren nicht zu erkennen aus dieser Entfernung, oder es gab um diese Jahreszeit nur wenige Touristen auf den Straßen und Plätzen. Januar war absolute Nebensaison. Gott sei Dank sind wir als Rentner nicht an die Ferien gebunden, dachte Anna-Kathrin und tastete nach der Hand ihres Mannes. Das Flugzeug der Turkish Airlines setzte rumpelnd auf der Piste auf. »Automatische Landung«, sagte ein Wichtigtuer am Gang.  Als die Herren noch selbst flogen, setzten die Maschinen sanfter auf.« Niemand reagierte. Ein paar Leute klatschten. Vor Erleichterung, wahrscheinlich.

Das Hotel Alaadin lag an der Promenade, im Touristenviertel Sultanahmet mit freiem Blick auf die schimmernden Wasser des Bosporus. Marie-Claire hatte um einen großen, gemeinsamen Tisch im Speisesaal gebeten, und so trafen sich alle beim Abendessen, müde, aber aufgekratzt und voller Neugierde auf die nächsten Tage. Am späteren Abend stellte sich die von der deutschen Reiseagentur verpflichtete türkische Reiseführerin Frau Cifci vor, eine attraktive Frau in den Dreißigern, die ihr Deutsch als sogenanntes Gastarbeiterkind in Duisburg gelernt und ihr Studium der Archäologie und Kunstgeschichte in Bochum abgeschlossen hatte. Sie gab einen kurzen, kompetenten Überblick über die Geschichte des ehemaligen Konstantinopel und vereinbarte einen Treffpunkt am nächsten Morgen um 10.30 auf dem Sultan Ahmet – Platz, direkt vor der Hagia Sophia. Öffentliche Verkehrsmittel würde man in den ersten zwei Tagen nicht benutzen müssen, sagte die Reiseleiterin, viele der touristischen Attraktionen seien vom Hotel aus zu Fuß zu erreichen. Dezente Kleidung sei zu dieser Jahreszeit bestimmt kein Problem, es sei trotz der Sonne zurzeit angenehm kühl in Istanbul. »Was, nicht in Badehose?«, fragte der unverbesserliche Witzbold der Gruppe.

Am nächsten Morgen waren bis auf ein Ehepaar alle beim Frühstück. Die Frau habe Kreislaufprobleme und wolle sich ausruhen. Die beiden würden sich später der Gruppe anschließen, ließ der Ehemann mitteilen. Punkt halbelf waren fast alle vor der Hagia Sophia versammelt. Ein paar Teilnehmer konnten sich allerdings nicht von dem Angebot in den Andenkenläden losreißen. Ein Rentner diskutierte mit Händen und Füßen am südlichen Rand des Platzes mit einem Rikscha-Fahrer. Die älteste Teilnehmerin kam atemlos angehetzt, ein paar Minuten verspätet – wie immer. Frau Cifci begrüßte die Gruppe mit »Günaydin – guten Morgen« und hatte mit ihrem Einführungsvortrag gerade begonnen, da fiel ihr Blick auf einen jungen, dunkelhäutigen Mann, der sich zu der Reisegruppe gesellt hatte. Der gehört doch gar nicht … , dachte sie, sah den schwarzen Gürtel, den er sich um den Bauch gebunden hatte, hörte das ominöse »Klick«, auf das zu achten man die türkischen Touristenführer in den Fortbildungsstunden trainiert hatte, rief nur noch »Weglaufen! Laufen Sie weg!«, fasste die Hände von zwei neben ihr stehenden Personen und fing an,  in Richtung Hagia Sophia zu rennen. Es war zu spät. Die Bombe explodierte und zerfetzte die Menschen, die in der Nähe des Attentäters standen. Sirenen fingen an zu heulen, den Polizisten und zivilen Sicherheitsbeamten bot sich ein unerträgliches Bild. Die Überlebenden standen unter Schock. Verletzte wurden ins Krankenhaus gebracht. Auch Frau Cifci war unter ihnen.

Die Antwort auf den Anschlag erfolgte prompt. Türkische Kampfbomber flogen Angriffe auf Stellungen der IS-Terroristen. Zweihundert Terroristen seien getötet worden, das war die offizielle Verlautbarung. Wie viele zivile Opfer es gab, wurde nicht bekannt. Casualties – Kollateralschäden. Unvermeidbar. »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Das steht nicht im Koran, sondern im Alten Testament.  Die Anzahl deutscher Touristen in Istanbul ist seit dem Attentat dramatisch gesunken.


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