Archive for the Category Kurzgeschichte

 
 

Heiliger Antonius

 

Côte de Granit Rose, ein kleiner Hafen südlich von Trégastel. Nach der Wanderung auf dem Sentier de Douaniers von Perros Guirec nach Trégastel hielten wir Ausschau nach den Sonnenschirmen einer bretonischen Hafenkneipe. Wir liefen am Quai entlang, begutachteten die vor sich hindümpelnden Yachten und widerstanden der Versuchung, uns einfach auf die Hafenmauer zu setzen. Der Hunger war zu groß. Das kühle Bier lockte und eine große Portion moules frites.
Wir schlenderten an einer einsamen Holzbank vorbei, den Blick sehnsüchtig auf die roten und blauen Schirme am anderen Ende der Bucht gerichtet, als mein Gehirn ein plötzliches »Stopp« signalisierte. Irgendetwas hatte meine Aufmerksamkeit erregt.
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Lago di Garda

Ich sehe,
wie der weiße Eriba Feeling auf die Wiese rumpelt, gezogen von einem weißen Ford Transit.

Ich sehe ,
wie sich die Fahrertür öffnet, muskulöse Arme einen Rollstuhl auf den Boden stellen, auf den sich ein Mann vom Fahrersitz hinunterfallen lässt. Eine Frau mit rötlichem Pferdeschwanz, ein schlaksiger Teenager und ein kleiner Knirps quellen aus der aufgeschobenen Seitentür. Der Fahrer rollt zur Anhängerkupplung, löst mit geübten Griffen die Verbindung zwischen Zugmaschine und Wohnwagen. Mutter und Sohn drehen die vier Stützen hinunter, um den Wohnwagen zu stabilisieren.
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Zweiundvierzig Kilometer

Doris schiebt ihr Mountainbike auf die Straße. Es ist trocken, nicht zu kalt, ein paar Wolken ziehen träge über den mattblauen Himmel, verdecken immer wieder die Märzsonne.
Eigentlich würde ich lieber joggen, denkt Doris, meinen Gedanken nachhängen, nach einer halben Stunde oder so in diesen Flow kommen, so dass die Beine automatisch ihren Rhythmus beibehalten, der Körper schwitzt und der Kopf immer freier wird.
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Eheberatung

Was hat die Eheberaterin gesagt?, fragt Marietta ihren Mann, als er abends nach Hause kommt, sich in den Sessel sinken lässt und den Fernseher anstellt.
Mit schnellen Schritten  geht sie zum Fernseher, stellt ihn aus.
Jens-Martin, wir hatten doch vereinbart, dass wir uns Hilfe suchen. Und ich habe extra diesen Termin bei der Verhaltenstherapeutin für dich ausgemacht. Warst du da oder nicht? Du wolltest ein Erstgespräch führen. Allein.
Ja, ja, das hat sie gesagt.
Was hat sie gesagt?
Dass wir beide allein und von vorne anfangen müssten.
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Borderline

»Was ist los, mein Kleiner?«, fragte Stefan und hob seinen schluchzenden Jüngsten auf den Schoß. »Wer hat dir was getan?«
»Mama«, sagte der Junge und kuschelte sich an seinen Vater. »Mama. Sie hat geschrien und mich gehauen. Ganz fest.« Anklagend zeigte er auf seine feuerrote Wange.«Ins Gesicht! Das darf man nicht, hast du gesagt.«
Stefan seufzte. Valeria war wohl wieder ausgerastet. Das passierte immer häufiger in letzter Zeit.
»Schätzchen, Mama geht es im Moment nicht gut. Sie meint es nicht so.«
»Doch«, schluchzte Tommi.«Sie hat gesagt, sie will mich weggeben. In ein Heim, weil, weil ich böse bin. Ich bin nicht böse, Papa. Oder?«
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Flugangst

Seit ihrer Kindheit hasste Susanne Fahrstühle. Sie wusste noch genau, wie sie sich fühlte, wenn der schlecht gewartete Lift in dem Hochhaus, in dem sie damals wohnten, irgendwo zwischen der 12. und 13. Etage steckenblieb und das Licht ausging. Der kleine Bruder fing sofort an zu schreien, Mutter nahm ihn auf den Arm, versuchte die Stimme ruhig zu halten und sagte: »Wir drücken einfach den Notknopf. Keine Angst. Da kommt schon jemand.« In der Tat, es kam immer jemand. Nach einer Weile – manchmal erst nach einer Viertelstunde, nie später – ging das Licht wieder an und der Lift setzte sich in Bewegung. »Siehst du«, sagte die Mutter und strich der Tochter übers Haar, »nicht so schlimm. Da kann nichts passieren.«
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Hitchhiking

Eigentlich unfair von Mama, dachte Frauke, als sie im Zug nach Calais saß. Ihre Eltern hatten sie zum Essener Hauptbahnhof gebracht, ihr noch 100 Mark in die Hand gedrückt und »gute Reise« gewünscht. Das Geld für das Zugticket und die Fähre von Calais nach Dover hatte sie sich in den  Semesterferien verdient.  Sechs Wochen lang hatte sie Post ausgetragen. War ja ok., die Eltern bezahlten die Bücher, die sie für das Anglistikstudium brauchte. Wohnen konnte sie zu Hause. Dass aber  Mutter ihr  im letzten Moment – der Zug lief schon ein – ins Ohr gezischelt hatte: »Du versprichst mir in die Hand, nicht zu trampen«, war eine Gemeinheit, die auch Vater nicht mitbekommen sollte.
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Beim Bestatter

Herminchen ist 94, wohnt im Altenheim, ist etwas wacklig auf den Beinen, aber noch recht fit im Kopf. Meistens jedenfalls. Ihr ist sonnenklar, dass sie in absehbarer Zeit wohl mal von dieser Erde abtreten muss, auch wenn sie dazu noch keine rechte Lust verspürt. Das Essen schmeckt gut, die Schwestern im Heim sind nett, und zwei, drei Freundinnen zum Klönen hat sie auch.
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Tina T.

Tina Turner, die Frau mit den wilden Haaren und der erotischen Stimme kommt nach Bremen. Ins Weserstadion.
»River deep, Mountain high«, singt sie und der Song treibt nicht nur meinem Mann einen Schauer über die Wirbelsäule und Tränen in die Augen.
Die Karten sind seit Wochen ausverkauft, die Preise auf dem Schwarzmarkt unerschwinglich.
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Renovierungsarbeiten

»Wir haben Arbeitsteilung«, hatte Kai-Uwe gesagt, als wir meine alte Schulfreundin Sibylle zum ersten Mai in Velbert besuchten. »Ich kümmere mich um die praktischen Dinge wie kochen, putzen, Türe reparieren. Bille ist fürs Denken zuständig.« Verunsichert guckte ich in sein Gesicht. Kein süffisantes Lächeln, kein Sarkasmus. Der Mann meinte, was er sagte. Die Stimme weich, voll Hochachtung.
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