Hotel Mama

Die Korbians trauten ihren Augen nicht, als sie sich am frühen Sonntagnachmittag ihrem Haus näherten. Sprachlos blieben sie im Wagen sitzen und starrten. Die Einfahrt war zugestellt mit umgekippten Fahrrädern, Bierflaschen. Im Vorgarten zankten sich Krähen um die Essensreste auf den Papptellern. Die weiße Eule, von Herrn Korbian liebevoll aus weißem Tuffstein gehauen, war mit dem Kopf zuerst in ein Blumenbeet gerammt worden. Eins der Küchenfenster stand sperrangelweit offen. Kaum hatte Frau Korbian ihre langen Beine mit den hochhackigen Schuhen aus dem Auto geschwungen, riss schon eine Nachbarin das Fenster auf.
»Schauen Sie sich das an«, keifte sie. »So eine Sauerei. Wir mussten die Polizei rufen, der Lärm war unerträglich. Das hätte ich von Ihrem Alexander nicht gedacht.«
»Nun lassen Sie uns erst einmal aussteigen, Frau Müller-Ehrfeld«, sagte Herr Korbian, hievte sich aus dem  niedrigen Sitz seines Mazda und streckte ächzend sein Kreuz durch. »Wir waren übers Wochenende in den Bergen.«
Mit diesen Worten nahm er den Ellbogen seiner Frau und steuerte ihre Schritte Richtung Haustür, wo sie mit einem spitzen Schrei stehen blieb und auf ihre teueren Schuhe schaute, die in eine Pfütze aus Bier und Erbrochenem standen.
»Pfui Teufel! Alexander, wo bist du?«, schrie sie, während sie die Tür aufschloss.
Drinnen herrschte Totenstille. Nichts bewegte sich. Her Korbian versuchte, die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen, was nur halb gelang, weil mehrere Lulatsche auf dem Teppich lagen – mit Designerkissen unterm Kopf – und offensichtlich ihren Rausch ausschliefen. Die Musikanlage brummte noch.
»Alexander!« Nun brüllte auch Herr Korbian.
Seine Frau hatte die Stöckelschuhe angewidert von den Füßen geschleudert und rannte die Treppe zum ersten Stock empor. Die Schlafzimmertür stand offen, und zwischen den Seidenbezügen hatte es sich ein Pärchen bequem gemacht. Eng aneinander gekuschelt schliefen sie vor sich hin, ein leises Schnarchen kam aus dem Mund der jungen Frau. Oder war es nur ein Mädchen? Frau Korbian stürzte in das Zimmer ihres Sohnes und hatte Mühe, zwischen den umgekippten Schnapsleichen ihren Sohn zu entdecken. Um Gottes willen, Alkoholvergiftung? Musste sie einen Arzt rufen? Verstoß gegen die Aufsichtspflicht? Waren die »Kinder« überhaupt alle volljährig? Sie rüttelte an Alexanders Arm. »Aufwachen! Aufwachen! Verdammt!«
Alexander öffnete verwirrt die Augen und kam dann mit einem Ruck in die Senkrechte.
»Gott, Mama. Seid Ihr schon da? Ich dachte, dachte …«
»Alexander, zieh dir was über und komm sofort in mein Arbeitszimmer!« Herr Korbian war an der Türschwelle erschienen.
»Mann, Papa, da schlafen doch auch welche.«
»Was, in meinem Arbeitszimmer?«
»Die konnten doch gestern Nacht nicht nach Hause fahren. Weil, weil …«
»Weil die besoffen waren? Los, spuck`s aus. Habt ihr meine Whisky-Vorräte geplündert?«
»Es ist doch, war doch … meine Abschiedsfête!«
»Und das gibt euch das Recht, dieses Chaos hier anzurichten? Sich an fremdem Eigentum zu vergreifen?«
»Ich hab doch nicht, hab doch nicht …«
»Nun übertreib mal nicht, Richard«, sagte Frau Korbian.
»Nimm ihn jetzt bloß noch in Schutz, deinen kleinen Liebling, dann dreh ich durch!«
»Richard!«
»Richard, Richard!«, äffte er sie nach. »Und du Alexander, dir gebe ich zehn Minuten, und dann sind alle deine, deine … Freunde und Freundinnen hier verschwunden. Spurlos! Und in einer Stunde ist das Haus wieder tipptopp.«
»Aber Papa, mein Flieger geht … Ich muss noch …!«
»Mir egal! Dann bleibst du hier!«
»Bleib ich nicht!« Auf einmal ist Alexander hellwach. «Meine Gastfamilie erwartet mich am Flughafen.«
»Wenn du dich da so aufführst, schicken die dich sowieso wieder nach Hause!«
»Papa, das war eine Ausnahme! Das weißt du!« Ich habe noch nie, nie …«
Mittlerweile waren auch die anderen Jugendlichen wach geworden und räumten schweigend ihren Kram zusammen.
«Macht bloß, dass ihr rauskommt. Dalli, dalli. Mit euren Eltern werde ich wohl noch ein ernstes Wort reden müssen.«
»Papa, das sind meine Gäste!«
»Schöne Gäste. Die das Eigentum anderer Leute zerstören.«
»Papa, ich räum ja auf. »
»Will ich auch hoffen!«
»Dicke Luft. Wir hauen besser ab«, sagte ein bleicher Lulatsch zu seiner Freundin und zog an ihrem Ärmel.
»Nein«, sagte das Mädchen und wandte sich an Frau Korbian. «Wir helfen!«
»Danke, Sabine!«, sagte Frau Korbian, die die Nachbarstochter erkannte. «Das ist nett von dir!«
»Nett von ihr? Ich hör wohl nicht recht. Nett von ihr?« Herr Korbian geriet immer mehr in Rage. »Ich bestelle den Putzdienst. Und eure Eltern kriegen die Rechnung!«
»Nun ist aber gut, Richard«, sagte Frau Korbian. »Alexander, hör zu! Papa und ich machen jetzt einen Spaziergang. In zwei Stunden ist hier aufgeräumt und geputzt. Ob mit oder ohne deine Freunde ist mir egal. Auf jeden Fall wollen wir dann keinen mehr hier sehen.« Sie schob ihren Mann aus dem Zimmer.
»Meine Güte, dein Alter ist ja krass drauf«, murmelte einer der jungen Männer. «Als ob der früher nicht auch mal einen gekippt hat. Aber das vergessen diese Spießer ja!«
»Halt die Klappe«, sagte Alexander. »Hol lieber den Staubsauger! Und den Putzeimer!«

Am Abend saßen sie auf der Couch. Herr Korbian schaute ein Fußballspiel. Er hatte sich geweigert, Alexander zum Flughafen zu fahren. Seine Frau hielt ein Buch in den Händen, versuchte zu lesen. Wenn sie die Augen zumachte, sah sie sich auf dem Parkplatz  stehen. Mit brennenden Augen und zugeschnürter Kehle, unfähig, ein Wort zu sagen.

»Mama«, sagt er. Legt die Hand auf ihre Schulter.
Sie zuckt zurück, streift seinen Arm ab. Er lässt die Schultern sinken.
»Mama!«
Sie macht sich los. »Geh«, sagt sie.
»Kommst du nicht mit zum Gate??«
»Nein!«
Er versucht noch einmal, sie zu umarmen.
»Geh«, wiederholt sie »Heute morgen, das hat mir gereicht. Geh!«
Er senkt er den Kopf wie ein kleiner Junge.
»Wiedersehen«, sagt er.
»Wiedersehen«, sagt sie.
»Ich rufe an, wenn ich da bin«, sagt er.
»Ist gut«, sagt sie.
Sie schaut ihm nach, wie er – den Koffer hinter sich herziehend – in der Abflughalle verschwindet.
Sie seufzt, entkorkt die Weißweinflasche.  Sie schüttet ein Glas in sich hinein. Es ist still im Haus. Die Wanduhr tickt.  Kein Streit mehr. Sie wird die Ruhe genießen. Der Kühlschrank wird nicht mehr leergefressen werden von seinen Kumpeln. Kein Lehrer wird mehr anrufen, weil der Sohn geschwänzt hat. Keine Geldforderungen »Mama, kannst du mir mal eben …« Sie wird keinen unbekannten, halbnackten Mädchen mehr begegnen, wenn sie nachts auf die Toilette muss. Sie wird das neue Sofa bestellen, in das alte hat er mit seinen Zigaretten Löcher gebrannt.
Sie legt sich zurück, steckt den rechten Zeigefinger in ein Brandloch, bohrt hinein. Fängt an zu weinen.


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