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Warum Frauen schlecht einparken können

Warum Frauen schlecht einparken können.

 

Verdammt, sie schaffte es einfach nicht, rückwärts in diese enge Parklücke zu rangieren. Hoffnungslos! Hinter ihr hupte ein Idiot! Natürlich ein Mann!

Wütend stiegt sie aus, klopfte an die Scheibe, riss die Tür auf und warf dem Rambo den Autoschlüssel in den Schoß. Zu ihrem Erstaunen schwang sich der Mann gelenkig aus seinem Auto, setzte sich ans Steuer und parkte ihren Fiat 500 mit einem eleganten Schwung zwischen zwei Lieferwagen.

Verlegen stotterte sie: „Darf ich Sie zum Kaffee einladen?“

„Gerne“, sagte eder Mann und lächelte sie an.

Will er mit mir flirten, dachte sie verwirrt.  Mit über 60 waren sie doch  wohl beide aus dem Flirt – Alter raus. Er sah sympathisch aus, hatte graue, sehr dichte Haare. Ihre Haare waren blond gefärbt, denn sie versuchte krampfhaft, die grauen Stellen zu überdecken.

Es wurde eine nette Plauderstunde im Café, an deren Ende er ihr erzählte, er würde am nächsten Tag ein paar Tage Urlaub an der Ostsee machen. Ehe sie sich stoppen konnte, brachen die Worte aus ihr heraus „Kann ich  mitkommen?“
Sie schlug sich auf den Mund und wäre am liebsten vor Scham unter den Tisch gekrochen. Jetzt würde er sie bestimmt für verückt halten.

„Natürlich“, sagte der Mann und lachte etwas verblüfft. „Ich würde mich freuen.“

Und das war der Beginn einer langen Verbindung mit damals bereits acht erwachsenen Kindern aus zwei Ehen. Ihr Mann ist mittlerweile tot, aber die Großfamilie trifft sich immer noch einmal im Jahr zu einem gemeinsamen Wochenende.

Nur gut, dass sie nicht einparken konnte.

 

Der Streckenwärter

Der Streckenwärter

 

Wie ich diese Arbeit hasse! Besonders im Winter. Monatelang liegt tiefer Schnee. Jeden Morgen Schritt für Schritt die Gleise entlang. Immerzu rumpeln diese unendlich langen Züge mit den Viehwaggons an mir vorbei. Nicht mit Vieh, Gott bewahre, vollgestopft mit Menschen, meistens Frauen und Kinder. Meine Frau hat ja Recht, wenn sie sagt, dass seien diese verfluchten Deutschen, die unser Land besetzt, uns Tschechen entrechtet und gedemütigt hätten. Wer aufbegehrt habe, sei ins KZ gebracht worden. Zwei Weltkriege hätten die Deutschen vom Zaun gebrochen, gnadenlos unsere Männer liquidiert. Umerziehungslager, Massengräber, wohin man blicke. Was erwarteten die Deutschen denn jetzt, wo der Krieg verloren sei, die Russen im Osten einmarschiert seien? Dass wir sie schützten? Raus mit ihnen! Nur raus! Sie hätten uns lange genug unterdrückt. Ihre Gefängnisse seien voll von tschechischen Untergrundkämpfern, sagt meine Frau.
Auch unseren Jannik haben sie ermordet. Dabei war er nicht einmal politisch, wollte nur nicht zum Militär. Befehlsverweigerung, hieß es in den Akten. Genickschuss. Meine Frau kommt nicht darüber hinweg. Sie will, dass alle deutschen Männer getötet werden. Oder zumindest eingesperrt. Ihre Frauen und Kinder werden jetzt in Viehwaggons über die Grenze nach Bayern gebracht. Wo sie hingehören. Trotzdem tun sie mir leid, diese Frauen und Kinder, eingesperrt wie Viecher in den eiskalten Waggons.

»Geschieht ihnen recht«, sagt meine Frau. »Sie haben unsere Männer in die KZs getrieben und ermordet. So wie unseren Sohn. Nun müssen sie am eigenen Leib erfahren, wie das ist, ausgestoßen und vernichtet zu werden.«

Manchmal – bei Fliegeralarm – hält ein Zug mitten auf der Strecke. Waggontüren werden aufgemacht. Und ich sehe die verhärmten Gesichter der Frauen, die angstvoll aufgerissenen Augen der Kinder, sehe ihre mageren Hände, die um ein Stück Brot betteln. Um einen Schluck Wasser.

Bitterkalt ist es heute Morgen, der Wind eisig, der Weg tückisch glatt. Meine Stirnlampe wirft einen kleinen Lichtkegel auf den frisch gefallenen Schnee.  Zweimal täglich muss ich meinen Abschnitt kontrollieren, auf Beschädigungen und Veränderungen achten. Mit der Karbidlampe taste ich die Schienen ab, kontrolliere die Weichen, ob sie vereist sind. Ein Drama, wenn die nicht mehr funktionieren. Zwei Dampfloks, die in der Nacht aufeinander zurattern, ein Alptraum. Aber die meisten Züge fahren Richtung Westen, voll beladen mit menschlicher Fracht. Sie haben uns wie Untermenschen behandelt, enteignet und gedemütigt. Ich sollte kein Mitleid haben. Nun sind sie es, die fliehen müssen. Nun erfahren diese Herrenmenschen, was es heißt, um sein Leben fürchten zu müssen. Nun sind die Rollen vertauscht.

Und doch kann ich die stumpfen Augen der Kinder nicht ertragen. Die blaugefrorenen Händchen, das Weinen und Wimmern. Ich sei zu weich, sagt meine Frau. Ich solle an das Unrecht denken, das die Deutschen uns angetan haben. Schuld verlange nach Sühne, sagt meine Frau. Jetzt müssten die Deutschen sühnen. Aber doch nicht die kleinen Kinder, sage ich. Aber die würden größer, sagt meine Frau. Und dann seien sie genau wie ihre Väter und Mütter.

Ich habe eine feste Anstellung, dafür bin ich dankbar. Das Bahnwärterhäuschen, in dem wir wohnen, ist warm und groß genug für uns fünf. Ja, wir haben drei Kinder, und die sehe ich immer vor mir, wenn die Sirenen bei Fliegeralarm heulen und die kleinen Zwerge aus dem Zug klettern, um in Gräben vor denn Bomben Schutz zu suchen , begleitet von ihren dick eingemummelten Müttern, die oft noch einen Säugling auf dem Arm halten. Wo sind ihre Männer? Liegen die immer noch in den Schützengräben und glauben an den Endsieg? Sind sie alle tot – gefallen, sagt man wohl – oder in Gefangenschaft, verschleppt nach Sibirien? Oder hat man sie auf offener Straße erschossen? 10 000 oder 20 000 oder 200 000?

In der Ferne ein schwarzer Punkt. Er kommt näher, wird größer. Der Zug faucht heran, die Luft fängt an zu vibrieren. Ich springe vom Gleis, lasse das Ungetüm an mir vorbeirauschen. Viehwaggon an Viehwaggon, vollgestopft mit menschlichen Leibern.

Noch ein Kilometer bis zum nächsten Bahnwärterhäuschen. Ob ich dort einen heißen Tee bekomme? Ich habe meine Frau angewiesen, jeden, aber auch jeden Streckenwärter hereinzubitten, damit er sich aufwärmen kann. Ich weiß, wie das ist, frierend draußen zu stehen, weil das Streckenhäuschen abgeschlossen ist und niemand die Tür öffnet.

Da hinten, zwischen den kahlen Bäumen, kommt eine Gestalt auf mich zu? Ein unscharfes, schwankendes Etwas. Ein Tier? Bären gibt es nicht in dieser Gegend, für einen Bären ist auch zu zierlich  Ein Wolf? Die Gestalt kommt näher, wird deutlicher. Eine Frau? Nein, ein Kind. Ein Kind in einem viel zu großen Mantel. Es geht gebeugt, fällt hin. Rappelt sich auf, kämpft sich vorwärts, schlittert auf der glitschigen Schneedecke, fängt sich wieder, taumelt weiter. Rutscht aus und schlägt hin, bleibt liegen. Ich renne, sehe Blut durch die Hosenbeine sickern. Die Augen sind geschlossen. Das Mädchen liegt reglos im Schnee, hat wohl das Bewusstsein verloren. Ist sie tot? Ich beuge mich über sie, wische ihr Blut und Tränen aus dem Gesicht. Sie ist jung und mager, vielleicht so alt wie meine älteste Tochter. Elf oder Zwölf, vielleicht auch älter. Ich kann sie nicht einfach liegen lassen. Sie braucht Hilfe, dringend. Ich klaube meine wenigen Deutschkenntnisse zusammen. Schüttele sie sanft.

»Wo kommst du her? Was ist geschehen?«

Das Mädchen öffnet die Augen, versucht zu sprechen. Seine Worte ein Flüstern.

»Die Mutter«, sagt sie. Ich halte mein Ohr an ihre Lippen. »Die Mutter. Das Baby.«

Sie deutet mit ihrer Hand ins Nirgendwo.

Die Mutter habe ein Baby geboren, verstehe ich. Die andern Frauen sagten, die Mutter sei tot. Man habe sie aus dem Waggon gestoßen. Mit dem Neugeborenen. Mit einer Toten wollten die andern nicht reisen. Aber die Mutter lebe, das wisse sie genau, das Brüderchen unter dem Mantel auch. Sie würden erfrieren, wenn nicht bald Hilfe käme.

Ich hebe sie hoch, drücke sie an mich, ihr Kopf ruht auf meiner Schulter.. Haut und Knochen, ein Leichtgewicht. Ich stapfe mit ihr durch den Schnee bis zum nächsten Bahnwärterhäuschen. Schreie den jungen Kollegen an, der zurückgelehnt in seinem Stuhl vor sich hin döst, er solle sofort die Klinik in der Stadt anrufen, wir bräuchten dringend einen Arzt. Der Kollege zögert, greift unwillig zum Telefon, wählt den Notruf.
»Ein deutsches Kind, nicht wahr? Jeder bekommt, was er verdient«,sagt er, während er in den Hörer lauscht.

»Der Krankenwagen kommt«, sagt er nach ein paar Minuten. »Mit dem Arzt.. Aber verdient haben die Deutschen das nicht. Sie haben den Krieg verloren.«

»Ist das Mädchen schuld am Krieg? Schau dir die Kleine an«, sage ich. »Es kann eine Zeit kommen, da werden auch du und deine Kinder Hilfe brauchen.«

Ich hebe sie hoch, drücke sie an mich, ihr Kopf ruht auf meiner Schulter, nur Haut und Knochen Der junge Kollege schaut mich unsicher an, fährt mit der Hand durch sein Haar. »Ich habe keine Frau, keine Kinder.«

Er sieht das Mädchen an, das nun mit hängenden Armen und gebeugtem Kopf vor ihm steht, sagt:

»Dein Gesicht ist voller Blut. Hier, nimm ein Handtuch und Seife. Wasch dir den Schmutz vom Gesicht.«

Und dann sieht er sie wieder an und stammelt: »Du bist so jung. Und so schön!«

Na und, denke ich. Und wenn sie hässlich wäre? Was dann?

Der Krankenwagen kommt. Wir fahren die Strecke zurück, finden die Mutter reglos im Schnee liegend.
»Sie leben noch. Beide, die Mutter und das Kind. Es ist ein Wunder.« Der Arzt richtet sich mit einem tiefen Seufzer auf. » Sie müssen ins Krankenhaus. Schnell!«
Der Fahrer und ich helfen ihm, die Frau und das Baby auf die Trage zu legen und in den Krankenwagen zu schieben. Sie lassen auch die Kleine hinten einsteigen. Sie hockt sich neben die Mutter, umklammert deren Hand. Ich sehe, wie die Mutter mit zitterndem Finger ein Kreuzzeichen auf die Stirn des Kindes malt.

Ich bin froh, als der Krankenwagen anfährt. Das Mädchen presst ihr Gesicht ans Fenster, hebt schüchtern den Arm zum Abschied. Lächelt.

Nicht ohne meinen Mann!

 

Nicht ohne meinen Mann!

»Hermann! Tock! Tock!«
Die zierliche ältere Dame zieht den dunkelblauen Blazer über die Schultern, zupft an ihrem  hellrosa Seidenschal, schiebt den Gurt ihrer voluminösen Handtasche über den Kopf und packt mit energischen Griff den silberfarbenen Alukoffer .
»Hermann! Tock! Tock!«
Der ältere Herr, offensichtlich ihr Ehemann, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hilft dem Taxifahrer, den schweren Koffer aus dem Fond zu wuchten. Dann zückt er sein Portemonnaie und reicht dem Fahrer einen Geldschein.
»Stimmt so!«
»Hermann! Tock! Tock! Tock!« Die Stimme der Frau klingt leicht gereizt.
Sie trippelt auf ihren Pumps in Richtung Flughafengebäude.
»Gemach! Gemach, Elisabeth!«, sagt der Mann. »Wir haben alle Zeit der Welt.«

In diesem Jahr ist der Flug nach Split wieder möglich und das Paar hat rechtzeitig gebucht. Die 2 G-Regelung gilt, Elisabeth und Hermann sind selbstverständlich zweimal geimpft. Die Abflugzeit ist mit 12:30 angegeben. Von Berlin-Airport. Sie haben sich im Reisebüro noch einmal erkundigt, um sicherzugehen, dass man tatsächlich vom Flughafen Berlin-Brandenburg abfliegen und dort auch wieder landen kann. Deutsche Ingenieurskunst.
Elisabeth ist ein wenig aufgeregt. Wie immer vor einem Flug. Tegel war so viel bequemer zu erreichen. Zur Sicherheit haben sie das Taxi frühzeitig bestellt, stehen vier Stunden vor der Abflugzeit an der gewaltigen Glastür der Eingangshalle, die sich lautlos öffnet. Beide setzen ihre Masken auf. Hermanns Brillengläser beschlagen sofort. Er nimmt die Brille ab. Elisabeth vergleicht die Abflugzeit auf der überdimensionalen Tafel mit ihrem Computerausdruck. Sie stimmen überein. Über drei Stunden bis zum Boarding. Sie geben die Koffer auf, die Warteschlange ist nicht lang. Welche Erleichterung, die Hände wieder frei zu haben. Im oberen Stockwerk zeigen sie Pässe und Impfbescheinigungen vor und bekommen ihre Boardingkarten ausgehändigt. Auf den Bändern wird das Handgepäck sorgfältig durchleuchtet. Reiseerfahren, wie sie sind, haben sie auch die kleinen Kosmetik- und Medizinfläschchen in durchsichtige Klarsichthüllen gepackt. Bodycheck. Hermann zieht den Gürtel aus den Schlaufen, Elisabeth streift die Schuhe ab. Das Bodenpersonal wünscht ihnen einen guten Flug.
Mit den Bordkarten in der Handtasche verschwindet Elisabeth in der weitläufigen Verkaufslandschaft des Flughafens. Sie geht gerne shoppen und möchte die Zeit nutzen. Es gibt so viele schöne Geschäfte im Flughafengebäude. Vielleicht findet sie ein nettes Blüschen.
Hermann hasst Shoppen. Er kauft eine Flasche stilles Wasser zu einem sündhaft teuren Preis, sucht sich einen bequemen Sessel hinter der großen Info-Tafel mit den Abflugzeiten, denn kurzsichtig wie er ist, kann er auf der Anzeigetafel sowieso nichts erkennen. Er zerrt seinen Laptop – ohne den er sich nie aus Berlin wegbewegen würde – aus der Umhängetasche. Der Internet-Anschluss funktioniert perfekt.
Elisabeth findet zwar keine Bluse, aber ein paar Mitbringsel für die Enkelkinder: ein entzückendes Micky-Maus-Kleidchen für Irena, ein Dartspiel für Jonas. Die Kinder werden sich freuen, auch wenn Hermann wieder murren wird über die unnötigen Ausgaben. Dabei ist es ihr Geld, das sie ausgibt. Schließlich hat sie  ihre eigene Rente.
Die Zeit vergeht schneller als gedacht. Elisabeth trinkt einen Latte Macchiato und gönnt sich ein Schokoladencroissant und begibt sich zum angezeigten Gate, als sie hört, dass der Lufthansa-Flug nach Split aufgerufen wird, erstaunt, dass das Boarding schon begonnen hat. Hat sie den ersten Aufruf überhört? Sie schaut sich nach ihrem Hermann um, aber der ist nirgends zu sehen. Mal wieder typisch, denkt sie.  Überpünktlich wie immer sitzt Hermann sicher schon im Flugzeug. Richtig, als sie sich im Flieger durch den vollen Gang quält, sieht sie im hinteren Drittel der Maschine einen Mann mit Strohhut. Da ist er ja. Hätte er nicht auf sie warten können?. Mit einem Vorwurf auf den Lippen nähert sie sich dem Mann mit Hut und, ja, da stellt sie fest, dass das gar nicht ihr Mann ist. Ein Wildfremder schaut sie erstaunt an.
»Das ist er nicht!«, schreit sie so laut, dass die Leute um sie herum zusammenzucken und die Flugbegleiterin versucht, zu ihr durchzukommen.
»Das ist nicht mein Mann!« Elisabeth ist fassungslos. Und schrill. Ihre Stimme schneidet durchs ganze Flugzeug. «Mein Mann ist nicht da! Er muss noch in der Halle sein. Sie müssen auf ihn warten.«
Die Stewardess eilt zum Flugkapitän. Der ruft den Tower an, erklärt die Verzögerung, bittet um einen späteren Slot für den Start. Ein Passagier werde vermisst.
»Nur zehn Minuten«, sagt die Flugbegleiterin bedauernd zu Elisabeth. »In zehn Minuten muss ihr Mann an Bord sein.«
Elisabeth gerät in Panik. »Ohne ihn kann nicht  fliegen!«
Die junge Frau zuckt mit den Schultern.
»Ich will raus.«, schreit Elisabeth. »Ich fliege nicht ohne meinen Mann!«
Sie drängt sich zwischen den Passagieren durch zur Tür, die noch offensteht.
»Das geht nicht«, sagt die Stewardess. »Ihre Koffer sind verladen. Wir dürfen nur Koffer mitnehmen, wenn der Besitzer an Bord ist. «
»Ist mir egal«, schreit Elisabeth. »Meinem Mann ist etwas zugestoßen. Ich muss hier raus.«
Sie macht Anstalten, die Treppe hinunterzusteigen.
»Wir werden Ihren Koffer ausladen müssen«, ruft die Flugbegleiterin hinter ihr her.
»Sicherheitsbestimmungen.«
Das hört Elisabeth schon nicht mehr. Sie hastet die Stufen hinunter. Es kümmert sie nicht, dass die Koffer im Bauch des Flugzeugs hektisch gesucht und glücklicherweise schnell gefunden und ausgeladen werden. Das ist ihr ebenso egal wie die murrenden Passagiere an Bord, der genervte Flugkapitän, die hilflose Flugbegleiterin, die so eine Situation noch nie erlebt hat. In Elisabeths Gehirn pulsiert nur eine Frage: Wo ist ihr Hermann? Wo?
Sie zückt ihr Handy, wählt die Nummer seines iPhones. Nichts. Hat er wahrscheinlich ausgeschaltet. Hermann interessiert sich ja nur für seine Spiele. Kommunikation ist für ihn ein Fremdwort. Geschähe ihm recht, wenn sie ihn einfach stehen ließe und allein flöge. Tut sie aber nicht. Sie hastet zurück zur Wartehalle vor den Abflug-Gates. Dort sitzt ein einzelner Mann. Nein, nicht Hermann. Ein unbekannter Mann.
Elisabeth stürmt auf ihn zu. »Mein Mann ist weg. Bitte, bitte, würden Sie wohl durch die Herrentoilette gehen, um zu sehen, ob er dort ist. Vielleicht ist ihm schlecht geworden.«
Der Mann zieht die Augenbrauen hoch, steht aber auf und sagt »Selbstverständlich!«
Elisabeth beißt sich auf die Lippen. Trippelt auf und ab. Der Mann kommt zurück, hat alle Toiletten inspiziert. Nichts.
»Danke«, sagt Elisabeth und hastet weiter.

Und das Ende der Geschichte? Ein Flughafenangestellter fand Hermann schließlich unter der besagten Anzeigetafel sitzend und in ein Computerspiel vertieft. Er sah nichts. Er hörte nichts. Seine Frau würde ihn schon rechtzeitig abholen.
Neuer Treffpunkt: die Gepäckausgabe. Gar nicht so einfach. Für Hermann eine Strecke von zwei Kilometern, und das bei seinem kaputten Knie. Das Laufband funktionierte nicht. Für Elisabeth ein Problem, da sie beim Einchecken die BRD verlassen hatte und wieder einchecken musste. Und natürlich eine Covid–Impfung vorweisen musste, die sie nicht bei sich hatte. Die hatte Hermann eingesteckt..
Wie ging die Geschichte denn nun aus? Es ist kaum zu glauben. Es gab ein Happy End! Irgendwann trafen sie sich bei der Gepäckausgabe.
Mordgelüste auf Elisabeths Seite? Den Scheidungsanwalt angerufen? Weit gefehlt! Zwei Tage später stehen beide wieder im Flughafen, warten gemeinsam, dass das Boarding für die Maschine nach Split beginnt. Diesmal hat Elisabeth ihren Hermann nicht aus den Augen gelassen. Kauft nichts. Nichts für die Enkelkinder. Auch kein Blüschen für sich. Und den Laptop, den händigt sie ihrem Ehemann erst am Urlaubsort aus.
Wenn das nicht Liebe ist!

Jetzt oder Nie!

Jetzt oder Nie

Schreibkurs. Natürlich auf Zoom. Corona-Zeiten. Ich sehe meine Dozentin Clara auf dem Bildschirm. Im Hintergrund eindeutig die Rialtobrücke.
»Wo bist du denn?«, frage ich. »Hast du einen künstlichen Hintergrund eingeblendet?«.
»Überhaupt nicht!« Sie lacht »Ich bin live in Venedig.«
»Darf man da hin? Trotz Corona?« Ich bin verblüfft.
»Klar«, sagt sie. »Jetzt oder nie! Menschenleer, ohne Touristen und Kreuzfahrtschiffe. So werdet ihr Venedfig nie mehr erleben.«
Clara ist Venezianerin. Sie weiß, wovon sie spricht. Wir fackeln nicht lange. Clara hat recht. Jetzt oder nie! Die Zweitimpfung liegt erst eine Woche hinter uns, also noch ein PCR-Test. Und dann werden wir weder an der österreichischen noch an der italienischen Grenze kontrolliert. Umso besser. Keine kilometerlangen Staus. Wir werden zügig durchgewunken.
Das Auto stellen wir in Mestre in der bewachten Hochgarage ab, der Bahnhof liegt gegenüber. Gott sei Dank – kein digitaler Schalter für die Zugtickets nach Venedig. Ein hilfsbereiter Angestellter akzeptiert meine EC-Karte. Kurze Wartezeit auf dem Bahnsteig, dann in einem komfortablen Waggon über den Damm Richtung Venedig. Zu beiden Seiten das Flachwasser der Lagune. Sonnenschein. Die Silhouette der Stadt kommen näher. Wir drücken unsere Nasen an den Fensterscheiben platt. Jetzt oder nie, hat Clara gesagt. Sind das schon Kreuzfahrtschiffe, die an der Hafeneinfahrt lauern? Die sollen doch verboten sein, hieß es. Die dürften doch gar nicht mehr …
Der Zug rollt in den Bahnhof von Santa Lucia. Wir schleppen den schweren Koffer – wieder ein mal viel zu viel Zeugs eingepackt – die Bahnhofstreppen hinunter zum Vaporetto – Anlegestelle am Canale Grande. Auf dem Vorplatz rumpeln die kleinen Kofferräder  über die Pflasterung. Mein Rucksack drückt.
Nein, am Schalter verkauft uns niemand ein Drei-Tage-Ticket für das Vaporetto. Geht alles nur digital. Wir bekommen zwar Pappkarten, aber die muss man noch scharf machen oder so was, und das am Automaten nebenan. Welcher Automat? Das Englisch der Kassiererin reicht nicht aus, uns das Prozedere zu erklären. Immerhin finden wir den grauen Automaten. Daneben ein Bildschirm mit Tastatur. Wir stellen die Koffer ab. Mein Mann studiert die Anweisung, um die Fahrkarten zu bedrucken. Ein komplizierter Code muss eingegeben werden. Ich stopfe mein Portemonnaie in den Rucksack zurück und suche meine Brille: Digitalisierung soll einfacher sein als ein Mensch, der einfach seinen Stempel auf das Ticket drückt? Schöne neue Welt! Ein junger dunkelhäutiger Mann mit einem roten T-Shirt, auf dem »Tourist Guide« steht, nähert sich, fragt freundlich: »Can I help you?« Mein Mann winkt brüsk ab. Mir ist diese Unfreundlichkeit peinlich. Der Guide bleibt noch einen Moment stehen, trollt sich dann. Ich lese meinem Mann die Buchstaben- und Zahlenkombination vor, die auf der Quittung für die Tickets stehen. Es klappt. Das Ticket wird bedruckt.
Als ich die Brille in den Rucksack schieben will, sehe ich, dass der Reißverschluss an der Seite ein wenig auf offen steht. Ich stopfe  noch die Brille hinein, ziehe ihn wieder hoch.  Das Vaporetto ist nur halb voll. Wir sitzen draußen und genießen die sonnige Fahrt auf dem Canale Grande entlang der prächtigen Herrenhäuser am Rand. Ja, das ist Venedig – Jetzt oder nie! Ich habe meinen Rucksack auf dem Schoß und auf einmal kommt mir der Gedanke: Wieso war der Tourist Guide schwarz? Rassistin schimpfe ich mit mir. Warum sollte er nicht schwarz sein? Schon das Wort »schwarz« ist politisch nicht korrekt. Warum sollte eine Tourist Guide nicht schwarz sein? Sonst verkaufen die Migranten doch nur Taschen und Hüte auf den Plätzen und Brücken der Stadt. Sind die Italiener so tolerant geworden, dass sie lukrative Touristenjobs mit Schwarzen teilen? Ausgerechnet in Corona-Zeiten mit ohnehin geringen Verdienstmöglichkeiten? Trotzdem: der Reißverschluss war halb offen. Aber ich bin ja auch ein schlampiger Mensch. Nein, ich werde nicht nachschauen. Nicht jetzt. Jetzt oder nie gilt hier nicht. Ich verderbe mir nicht die erste Kanalfahrt. Vielleicht später. In der Ferienwohnung. Die Härchen auf meinen Unterarmen richteten sich auf, aber mein Verstand sagt, immer mit der Ruhe. Das kann nicht sein. Werd‘ bloß nicht hysterisch. Ich ziehe den Reißverschluss langsam nach oben, konzentriere mich krampfhaft auf die traumhafte Aussicht, spüre den kühlenden Wind im Gesicht. Wir passieren die Rialtobrücke, nur ein paar Touristen stehen oben und blicken aufs Wasser. Ein kleiner Junge winkt. Ich winke zurück.
Das kleine Doppelzimmer liegt im Obergeschoss eines alten venezianischen Hauses nahe dem Campo Santo Stefano in der Calle de le Botthege. Der freundliche Vermieter hilft uns, das Gepäck die drei Stockwerke hochzuschleppen, verspricht, uns später mit Venedig-Karten und Restaurant-Tipps versorgen.
Jetzt oder nie! Ich setzte mich aufs Bett, ziehe den Rucksack auf den Schoß, öffne den besagten Zipper mit fahrigen Händen, grabbele nach dem wohlbekannten Umriss der Geldbörse und finde – nichts. Das kann nicht wahr sein. Ich durchwühlte den Rucksack noch einmal: Lippenstift, Kamm, iPhone, Müsliriegel, Masken, natürlich Masken, Taschentücher, eine kleine Flasche Wasser, kein Portemonnaie. Ich kippe den Rucksack um, schüttelte panisch den Inhalt aufs Laken. Ein Kuli fällt heraus, ein Notizbuch, diverse Visitenkarten, der Auto-Ersatzschlüssel, das italienische Wörterbuch. Kein Portemonnaie. Wie viel Geld war drin? Wohl an die 100 Euro, ein zu vernachlässigender Betrag angesichts der Tatsache, dass die Visa Card weg ist und die EC-Karte, der Personalausweis und der Führerschein, natürlich auch die Notrufnummer für die Bank. Shit! Was nun? Warum hatte ich blöde Kuh alle Karten im Portemonnaie? So leichtsinnig bin ich doch noch nicht einmal in Bremen. Ausweise bleiben immer schön zu Hause. Auch der Führerschein. Da zahle ich lieber ein bisschen Strafe, falls die Polizei kontrolliert. Ich habe höchstens ein paar Scheine in der Tasche, ein paar Münzen, mehr nicht. Ausgerechnet hier in Venedig mache ich diesen Anfängerfehler.
Wir klingeln beim Vermieter. Der ist untröstlich. »Sofort zur Questura«, sagt er. Er beschreibt uns den Weg auf der Karte.
»Zu Commissario Brunetti«, jubele ich. »Jetzt oder nie
Das Gebäude, in der die Questura untergebracht ist, sieht allerdings völlig anders aus als im Fernsehen. Liegt nahe an der griechisch-orthodoxen Kirche, an der Fondamenta dei Greci. Wir stürzen in die Questura, laufen die Treppe zum ersten Stock hinauf. Durch das hohe Fenster im Flur zur Canalseite sehen wir, wie zwei Polizisten, die einen Mann in Handschellen helfen, aus dem Polizeiboot zu klettern. Der Mann ist schwarz, rabenschwarz. Und er hat ein orangenes T-Shirt an mit der Aufschrift »Tourist Guide«..
»Das ist er«, sagte ich zu meinem Mann. »Sie haben ihn!«
»Wen haben sie?«, fragte hinter uns eine ruhige, dunkle Stimme. Uwe Kockisch tritt aus der Tür des Sekretariats. Wir hören, wie Signorina Elettra ein »Ciao, Guido« hinter ihm herruft.
»Na, den Dieb, Commissario«, sage ich und sehe Kockisch an. Der kann ja zum Glück Deutsch. Aber ganz schön alt ist er geworden, denke ich. Weit über 70, der müsste doch längst pensioniert sein.
«Sie haben recht, sagt Kockisch und lächelt. »Ich bin nur manchmal zu Besuch hier.«
»Commissario«, stottere ich. »Ich soll Sie von Donna grüßen. Sie sagt, Sie können uns sicher helfen.«
»Geht es um den da?«, fragt Kockisch und weist auf den jungen Farbigen, den die Polizisten die Treppe hinaufstoßen. »Was hat er getan?«
»Mein Portemonnaie geklaut. Vor der Ticket-Station am Canale Grande. Alle Papiere weg: Visa-Card, EC-Karte, Perso … «
Guido rollt mit den Augen. »Auch Geld?«
»Nur 100 Euro. Das ist nicht so wichtig, Commissario. Aber die Ausweise … «
»Ok, verstanden«,sagte Uwe Kockisch. Er wendet sich mit strengem Gesicht zu dem jungen Mann. »Gib der Signora sofort die Ausweise zurück. Kannst du eh nichts mit machen.«
Zu meinem Erstaunen kramt der Junge in seinem kleinen, bunten Rucksack und reicht mir mit einem schüchternen Lächeln die Papiere. »Scusi, signora«, sagte er und verbeugt sich höflich. Ich blättere die Dokumente durch. Sie sind vollständig.
»Kann er das Geld behalten?«, fragt Kockisch. »Der Junge muss wahrscheinlich den Schlepper bezahlen, der ihn übers Mittelmeer gebracht hat.«
Ich winke ab: »Klar, kann er! Finderlohn!«
»Sehen Sie, alles ok«, sagte Uwe Kockisch. »Bestellen Sie Donna einen schönen Gruß von mir. Jetzt, wo ich pensioniert bin, sorge ich ein bisschen für die Gerechtigkeit in der Stadt. Solange die Mafia hier den Magistrat beherrscht und Schutzgelder erpresst, lasse ich die Kleinen laufen. Das ist mein Beitrag im Kampf gegen die Kriminalität in Venedig.«
Er gibt uns die Hand. »Einen schönen Aufenthalt noch. Und tragen Sie nie wieder ihren Rucksack auf dem Rücken. Er gehört auf den Bauch. Auch wenn er Rucksack heißt.«
Mit mit diesen Worten rennt er leichtfüßig die Treppe hinunter. Wahrscheinlich hat er – wie immer – Hunger. Seine Frau wartet sicher schon mit dem Essen auf ihn. Mit einer Flasche dieses vorzüglichen Weißweins.
»Grazie Mille, Commissario«, rufe ich ihm hinterher. »Und grüßen Sie Paola.«
Commissario Brunetti dreht sich um und winkt.
»Heißt der eigentlich Uwe oder Guido«, fragt mein Mann.
»Du bist wirklich nicht auf dem Laufenden, mein Lieber«, sage ich. »Auf zum Markusplatz! Jetzt oder nie!«

Fremdenführung

 

Wir hatten im Internet eine Annonce aufgegeben, dass wir unser Haus im Bremer Norden verkaufen wollten. Einfach zu groß, nachdem die Kinder ausgezogen waren, der Garten zu arbeitsintensiv, die vielen Treppen und das alte, enge Bad nicht altengerecht.
Es ist ein altes Haus, 1934 gebaut, sicher von einem Werftarbeiter, der beim Vulkan geschuftet hat. Alle Häuser in der Straße sehen ähnlich aus und es heißt, wenn der Vulkan eine Sirene hätte schalten können, um alle Teile zurückzupfeifen, die unerlaubterweise beim Schiffsbau über Jahrzehnte hinweg entwendet worden waren, würden in der ganzen Umgebung die Häuser in sich zusammenfallen.
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Der Schrank

Der Schrank

»Komm, Schatz, wir müssen los!«
Die Mutter hat die Tür zum Kinderzimmer geöffnet, schaut verblüfft in die leere Spielecke, dann zum Bett, sieht die zusammengeknüllte Bettdecke, unter der sich die Umrisse eines kleinen Körpers abzeichnen.
»Was ist los, Svenja? Bist du müde? Du kannst gleich bei Oma schlafen.«
»Ich will nicht bei Oma schlafen?«
»Du willst nicht bei Oma schlafen? Warum das denn nicht? Du gehst doch sonst gern zu Oma.«
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Der Gasherd

 Manchmal, aber nur manchmal denke ich an meinen Gasherd. Diesen vermaledeiten Gasherd, der der Grund für unsere Scheidung war. Mein Mann hat die Situation einfach nicht mehr ausgehalten. War ja auch zum Verrücktwerden.
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Ich solle keine Angst haben, sagt der kleine Mann mit den grauen Haaren. Er schaut mich freundlich an und zeigt auf die Tür. »Deine Mama wartet hier auf dich.«
Ich halte mich an Mama fest. Nein, ich will nicht mit, auch nicht mit diesem netten Mann. Er ist so alt, und er hat sos viele Linien im Gesicht. Genau wie Onkel Karl.
»Nun geh schon«, sagt Mama und gibt mir einen kleinen Schubs. »Ich laufe nicht weg.«
Der Mann ist ein Professor, hat Mama gesagt und ich muss ihm alles sagen, was ich weiß. Und immer die Wahrheit. Aber Onkel Karl hat gesagt, ich darf uns nicht verraten. Die anderen Erwachsenen seien dumm. Die könnten nicht verstehen, dass wir uns so lieb haben.
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Paradiesisch

 

Die Hunde hören sie schon von weitem. Helles, fröhliches Gekläff. Die Fahrt von Madrid über die Meseta bis an die Antlantikküste war anstrengend. Der kleine Peugeot holpert seit einer halben Stunde über die ausgetrockneten Spurrinnen des sandigen Dünenweges. Das Gästehaus soll am Meer liegen, ganz einsam am Rande eines Naturschutzgebietes.
»Wo es Hunde sind, gibt es auch Menschen, Piet«, sagt Evi zu ihrem Mann. Nach der nächsten Kurve kommen drei kniehohe, braun-weiß gefleckte Hunde kläffend und jaulend auf den Wagen zugerannt.
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Das Foto

 

Unsere Tochter hat das Foto herausgesucht. Wir brauchten ein Bild für die Trauerfeier, um es in der Kapelle an den Sockel zu lehnen, auf dem die Urne steht. Ein schönes Bild von dir. Sie hat es vor vielen Jahren gemacht, bei unserem letzten gemeinsamen Urlaub.
Jung siehst du aus. Und fröhlich. Der Wind hat dir dein dichtes, dunkles Haar ins Gesicht geweht. Mit der rechten Hand versuchst du, die Strähnen zu bändigen. Die Augen sind zusammengekniffen, du schaust in die Sonne. Dein Mund lacht in die Welt.

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