Der Streckenwärter

Der Streckenwärter

 

Wie ich diese Arbeit hasse! Besonders im Winter. Monatelang liegt tiefer Schnee. Jeden Morgen Schritt für Schritt die Bahnstrecke entlang. Immerzu rumpeln diese unendlich langen Züge mit den Viehwaggons an mir vorbei. Nicht mit Vieh, Gott bewahre, vollgestopft mit Menschen, meistens Frauen und Kinder. Meine Frau hat ja Recht, wenn sie sagt, dass seien diese verfluchten Deutschen, die unser Land besetzt, uns Tschechen entrechtet und gedemütigt hätten. Wer aufbegehrt habe, sei ins KZ gebracht worden. Zwei Weltkriege hätten die Deutschen vom Zaun gebrochen, gnadenlos unsere Männer liquidiert. Umerziehungslager, Massengräber, wohin man blicke. Was erwarteten die Deutschen denn jetzt, wo der Krieg verloren sei, die Russen im Osten einmarschiert seien? Dass wir sie schützten? Raus mit ihnen! Nur raus! Sie hätten uns lange genug unterdrückt. Ihre Gefängnisse seien voll von tschechischen Untergrundkämpfern, sagt meine Frau.
Auch unseren Jannik haben sie ermordet. Dabei war er nicht einmal politisch, wollte nur nicht zum Militär. Befehlsverweigerung, hieß es in den Akten. Genickschuss. Meine Frau kommt nicht darüber hinweg. Sie will, dass alle deutschen Männer getötet werden. Oder zumindest eingesperrt. Ihre Frauen und Kinder werden jetzt in Viehwaggons über die Grenze nach Bayern gebracht. Wo sie hingehören. Trotzdem tun sie mir leid, diese Frauen und Kinder, eingesperrt wie Viecher in den eiskalten Waggons.

»Geschieht ihnen recht«, sagt meine Frau. »Sie haben unsere Männer in die KZs getrieben und ermordet. So wie unseren Sohn. Nun müssen sie am eigenen Leib erfahren, wie das ist, ausgestoßen und vernichtet zu werden.«

Manchmal – bei Fliegeralarm – hält ein Zug mitten auf der Strecke. Waggontüren werden aufgemacht. Und ich sehe die verhärmten Gesichter der Frauen, die angstvoll aufgerissenen Augen der Kinder, sehe ihre mageren Hände, die um ein Stück Brot betteln. Um einen Schluck Wasser.

Bitterkalt ist es heute Morgen, der Wind eisig, der Weg tückisch glatt. Meine Stirnlampe wirft einen kleinen Lichtkegel auf den frischgefallenen Schnee.  Zweimal täglich muss ich meinen Abschnitt kontrollieren, auf Beschädigungen und Veränderungen achten. Mit der Karbidlampe taste ich die Schienen ab, kontrolliere die Weichen, ob sie vereist sind. Ein Drama, wenn die nicht mehr funktionieren. Zwei Dampfloks, die in der Nacht aufeinander zurattern, ein Alptraum. Aber die meisten Züge fahren Richtung Westen, vollgeladen mit menschlicher Fracht. Sie haben uns wie Untermenschen behandelt, enteignet und gedemütigt. Ich sollte kein Mitleid haben. Nun sind sie es, die fliehen müssen. Nun erfahren diese Herrenmenschen, was es heißt, um sein Leben fürchten zu müssen. Nun sind die Rollen vertauscht.

Und doch kann ich die stumpfen Augen der Kinder nicht ertragen. Die blaugefrorenen Händchen, das Weinen und Wimmern. Ich sei zu weich, sagt meine Frau. Ich solle an das Unrecht denken, dass die Deutschen uns angetan haben. Schuld verlange nach Sühne, sagt meine Frau. Jetzt müssten die Deutschen sühnen. Aber doch nicht die kleinen Kinder, sage ich. Aber die würden größer, sagt meine Frau. Und dann seien sie genau wie ihre Väter und Mütter.

Ich habe eine feste Anstellung, dafür bin ich dankbar. Das Bahnwärterhäuschen, in dem wir wohnen, ist warm und groß genug für uns fünf. Ja, wir haben drei Kinder, und die sehe ich immer vor mir, wenn die Sirenen heulen bei Fliegeralarm, die kleinen Zwerge aus dem Zug klettern, um in Gräben Schutz zu suchen vor den Bomben, begleitet von ihren dick eingemummelten Müttern, die oft noch einen Säugling auf dem Arm halten. Wo sind ihre Männer? Liegen die immer noch in den Schützengräben und glauben an den Endsieg? Sind sie alle tot – gefallen, sagt man wohl – oder in Gefangenschaft, verschleppt nach Sibirien? Oder hat man sie auf offener Straße erschossen? 10 000 oder 20 000 oder 200 000?

In der Ferne ein schwarzer Punkt. Er kommt näher, wird größer. Der Zug faucht heran, die Luft fängt an zu vibrieren. Ich springe vom Gleis, lasse das Ungetüm an mir vorbeifahren. Ein Viehwaggon an den andern gehängt, vollgestopft mit menschlichen Leibern.

Noch ein Kilometer bis zum nächsten Bahnwärterhäuschen. Ob ich dort einen heißen Tee bekomme? Ich habe meine Frau angewiesen, jeden, aber auch jeden Streckenwärter hereinzubitten, damit er sich aufwärmen kann. Ich weiß, wie das ist, frierend draußen zu stehen, weil das Streckenhäuschen abgeschlossen ist und niemand die Tür öffnet.

Dahinten, zwischen den kahlen Bäumen, kommt eine Gestalt auf mich zu? Ein unscharfes, schwankendes Etwas. Ein Tier? Bären gibt es nicht in dieser Gegend, ist auch zu zierlich für einen Bären. Ein Wolf? Die Gestalt kommt näher, wird deutlicher. Eine Frau? Nein, ein Kind. Ein Kind in einen zu großen Mantel gehüllt. Es geht gebeugt, fällt hin. Rappelt sich auf, kämpft sich vorwärts, schlittert auf der glitschigen Schneedecke, fängt sich wieder, taumelt weiter. Rutscht aus und schlägt hin, bleibt liegen. Ich renne, sehe Blut durch Hosenbeine sickern. Die Augen sind geschlossen. Das Mädchen liegt ganz still im Schnee, hat wohl das Bewusstsein verloren. Ist sie tot? Ich beuge mich über sie, wische ihr Blut und Tränen aus dem Gesicht. Sie ist jung und mager, vielleicht so alt wie meine älteste Tochter. Elf oder Zwölf, vielleicht auch älter. Ich kann sie nicht einfach liegen lassen. Sie braucht Hilfe, dringend. Ich klaube meine wenigen Deutschkenntnisse zusammen. Schüttele sie sanft.

»Wo kommst du her? Was ist geschehen?«

Das Mädchen öffnet die Augen, versucht zu sprechen. Seine Worte ein Flüstern.

»Die Mutter«, sagt sie. Ich halte mein Ohr an ihre Lippen. »Die Mutter. Das Baby.«

Sie deutet mit ihrer Hand ins Nirgendwo.

Die Mutter habe ein Baby geboren, verstehe ich. Die andern Frauen sagten, die Mutter sei tot. Man habe sie aus dem Waggon gestoßen. Mit dem Neugeborenen. Mit einer Toten wollten die andern nicht reisen. Aber die Mutter lebe, das wisse sie genau, das Brüderchen unter dem Mantel auch. Sie würden erfrieren, wenn nicht bald Hilfe käme.

Ich hebe sie hoch, drücke sie an mich, ihr Kopf ruht auf meiner Schulter.. Haut und Knochen, ein Leichtgewicht. Ich stapfe mit ihr durch den Schnee bis zum nächsten Bahnwärterhäuschen. Schreie den jungen Kollegen an, der zurückgelehnt in seinem Stuhl vor sich hin döst, er solle sofort die Klinik in der Stadt anrufen, wir bräuchten dringend einen Arzt. Der Kollege zögert, greift unwillig zum Telefon, wählt den Notruf.
»Ein deutsches Kind, nicht wahr? Jeder bekommt, was er verdient.«?«, sagt er, während er in den Hörer lauscht.

»Der Krankenwagen kommt«, sagt er nach ein paar Minuten. »Mit dem Arzt.. Aber verdient haben die Deutschen das nicht. Sie haben den Krieg verloren.«

»Ist das Mädchen schuld am Krieg? Schau dir die Kleine an«, sage ich. »Es kann eine Zeit kommen, da werden auch du und deine Kinder Hilfe brauchen.«

Ich hebe sie hoch, drücke sie an mich, ihr Kopf ruht auf meiner Schulter, nur Haut und Knochen Der junge Kollege schaut mich unsicher an, fährt mit der Hand durch sein Haar. »Ich habe keine Frau, keine Kinder.«

Er sieht das Mädchen an, das nun mit hängenden Armen und gebeugtem Kopf vor ihm steht, sagt:

»Dein Gesicht ist voller Blut. Hier, nimm ein Handtuch und Seife. Wasch dir den Schmutz vom Gesicht.«

Und dann sieht er sie wieder an und stottert: »Du bist so jung. Und so schön!«

Na und, denke ich. Und wenn sie hässlich wäre? Was dann?

Der Krankenwagen kommt. Wir fahren die Strecke zurück, finden die Mutter bewegungslos im Schnee liegend.
»Sie leben noch. Beide, die Mutter und das Kind. Es ist ein Wunder.« Der Arzt richtet sich mit einem tiefen Seufzer auf. » Sie müssen ins Krankenhaus. Schnell!«
Der Fahrer und ich helfen ihm, die Frau und das Baby auf die Bahre zu legen und in den Krankenwagen zu schieben. Sie lassen auch die Kleine hinten einsteigen. Sie hockt sich neben die Mutter, umklammert deren Hand. Ich sehe, wie die Mutter mit zitterndem Finger ein Kreuzzeichen auf die Stirn des Kindes malt.

Ich bin froh, als der Krankenwagen anfährt. Das Mädchen presst ihr Gesicht ans Fenster, hebt schüchtern den Arm zum Abschied. Lächelt.


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