Das Foto

 

Unsere Tochter hat das Foto herausgesucht. Wir brauchten ein Bild für die Trauerfeier, um es in der Kapelle an den Sockel zu lehnen, auf dem die Urne steht. Ein schönes Bild von dir. Sie hat es vor vielen Jahren gemacht, bei unserem letzten gemeinsamen Urlaub.
Jung siehst du aus. Und fröhlich. Der Wind hat dir dein dichtes, dunkles Haar ins Gesicht geweht. Mit der rechten Hand versuchst du, die Strähnen zu bändigen. Die Augen sind zusammengekniffen, du schaust in die Sonne. Dein Mund lacht in die Welt.

Ihr hätte das Foto sicher auch gefallen, wenn sie den Mut gehabt hätte, hierherzukommen, um Abschied zu nehmen. Ich habe damit gerechnet, habe mich gefragt, wie ich reagieren soll. Du warst ein ungeheuer attraktiver Mann, das wusstest du. Die Frauen sind auf dich geflogen, so sagt man doch. Der Herr Bankdirektor war klug und kompetent, die Frauen um ihn herum – Bankerinnen, Sekretärinnen, Kundinnen, sie alle vergötterten dich, erlagen deinem Charme. Du hast dich amüsiert, mir immer wieder gesagt, wie sehr du mich liebtest, dass nie, nie eine andere Frau zwischen uns stehen würde. Als ich jung war, war ich misstrauisch, konnte mein Glück kaum fassen, dass du mich, nur mich wolltest.
Ich habe mein Pharmazie-Studium abgebrochen, als Mirjam zur Welt kam. Du hast gesagt, du würdest für uns beide sorgen. Verdient hast du ja genug. Ein zweites Kind wollten wir auch.  Kinder haben wir leider keine mehr bekommen. Wir richteten uns ein in unserer trauten Dreisamkeit.
Aber auf einmal war ich dir doch nicht mehr genug. Ja, du warst immer noch ein jugendlich aussehender Mann, beweglicher, sportlicher, unternehmungslustiger als ich. Aber musste es eine dreiundzwanzigjährige Praktikantin sein? Hast du – ohne dass ich es bemerkt hatte – Angst vorm Altern bekommen? Sollte die junge Frau – jünger als deine Tochter – dir deine Jugend wiedergeben? Nein, man kann dem Tod nicht entkommen, auch nicht wenn man seine eigenen Kinder heiratet. Der Satz steht in Homo Faber. Max Frisch haben wir doch beide gelesen. Damals, in unserer  Zeit.
Du hast die Koffer gepackt, gesagt, du könntest nicht ohne sie leben. Wir haben beide geweint, an diesem regnerischen Abend vor acht Jahren, als du im Flur standest, die Koffer schon im Wagen, um mich noch einmal in den Arm zu nehmen.
»Verzeih mir«, hast du gebettelt und ich habe mich steif gemacht und habe dich weggestoßen. »Hau ab«, habe ich gesagt und gedacht, gut dass Mirjam nicht mehr hier wohnt.
»Geh zu deinem Flittchen!«, habe ich geschrien.»Ihre Möse ist sicher enger als meine.«
Wie ein begossener Pudel bist du aus der Wohnung geschlichen. Du hast dich vor dir selbst geschämt. Und vor deiner Tochter. Vor mir. Vor deiner Mutter auch, vor allen Dingen vor deiner Mutter.
»»Midlife Crisis«, hat die achselzuckend gesagt. »Männer drehen da manchmal durch. Warte ab, der kommt wieder!«
»Ich will ihn nicht mehr!«, habe ich gesagt. »Ich nehme ihn nicht zurück, deinen Sohn. Niemals!«
Im letzten September standest du plötzlich vor der Tür. Abgemagert, mit schütterem Haar und tiefen Ringen unter den Augen.
»Ich wollte dir nur sagen, ich lebe wieder allein«, sagtest du. »Sie will mich nicht mehr. Ich bin ihr zu alt und zu krank.«
»Komm rein«, habe ich wider besseres Wissen gesagt und dir einen Kaffee angeboten.
»Darf ich nicht. Bitte, nur einen Pfefferminztee«, sagtest du.
»Das heißt, du bist ernsthaft krank«, habe ich gesagt und spöttisch gelacht. »Noch nicht mal einen Cognac?«
Du hast den den Kopf geschüttelt. »Nein. Ein Tumor im Gehirn. Inoperabel, sagt der Arzt.«
Ein Schlag in den Magen, ich schnappte nach Luft. Deswegen hat sie ihn an die Luft gesetzt, dachte ich. Sie will die Pflege nicht übernehmen. Jetzt hat er sich an mich erinnert. Wir starrten uns schweigend an.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagtest du endlich. »Ich wollte es dir nur persönlich sagen. Du solltest es nicht von außen zugetragen kriegen. Ich dachte, das sei ich dir schuldig.«
»Du bist mir gar nichts schuldig.«, sagte ich. »Ich bin gut allein klargekommen. Habe sogar meinen Uni-Abschluss nachgeholt. Pharmazie. Du erinnerst dich?«
Du nicktest,: »Ich weiß. Du bist immer eine starke Frau gewesen. Viel lebenstüchtiger als ich«.
»Haha«, sagte ich. »Deswegen durftest du mich auch verlassen für diese, diese … »
»Bitte nicht«, flehtest du. »Ich habe nur noch ein halbes Jahr zu leben. Ich möchte etwas gutmachen an dir – und Mirjam.«
»Zu spät«, sagte ich.
Du hast dich umgedreht und bist gegangen.
Und dann habe ich doch hinter dir her telefoniert. Die letzten Monate hast du bei mir gewohnt. In unserm alten, vertrauten Haus.
Nun stehe ich hier, vor deinem Bild. Es spricht von schönen, unbeschwerten Tagen.


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