Archive for the Category Kurzgeschichte

 
 

Junge Frau vor dem Badezimmerspiegel

Man sieht nichts. Definitiv gar nichts. Mein Bauch ist flach wie ein Brett. Dabei bin ich schon vier Wochen überfällig. Glück gehabt? Pech gehabt?
Du bist schön, hat er gesagt und mich auf die Wange geküsst. Schön wie eine Lilie im Morgentau. Schönschwätzer! Auch sein Atem roch fahl. Seine fetten Finger suchten den Weg in meinen Slip.


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Pechvogel

Mäxchen war ein nettes Baby, freundlich und still und – zur Freude seiner Mutter – unheimlich verfressen. Das Kerlchen blühte und gedieh.
»Nein, was sieht das Jungchen gesund aus«, sagte die Omi. »So ein nettes dralles Baby!«
Er lächelte alle an, schlief von Anfang an durch und machte nie Probleme, bis, ja bis seine Mutter ihn in der Kita anmeldete. Dort wurde er zum Liebling aller weichherzigen Erzieherinnen, so ein unproblematisches Kind gab es selten, so anhänglich und lieb, aber dann wurde immer deutlicher, dass die Sprachentwicklung hinter der gleichaltriger Jungen zurückblieb. Von den Mädchen ganz zu schweigen, die waren ihm Welten überlegen. Auch motorisch lief er nicht gerade zur Höchstform auf. Männchen malen, die Lieblingsaufgabe der freundlichen Kindergärtnerinnen, bei deren Interpretation sie ihre psychologischen Fähigkeiten schulen wollten, war für den Kleinen eine Tortur. Den Männchen fehlten entweder Arme oder Beine, der Kopf geriet viel zu groß oder zu klein. Und basteln wollte er auch nicht.
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Werkstattgespräch

 

Der Geruch nach Öl und Benzin ist überwältigend und mischt sich mit den warmen Luftschwaden, die durch die offene Tür eindringen. Drei alte Autos mit hochgeklappter Motorhaube stehen in der kleinen, dunklen Werkstatt.
»Que calor«, stöhnt der junge, dickbäuchige Mechaniker, der sich über die geöffnete Kühlerhaube des großen Renault beugt und seine kräftigen, stark tätowierten Oberarme im Motorraum verschwinden lässt. Die schmutzige Hose rutscht ihm halb über den Hintern.
»Hmm«, sagt er, «hmm« , hebt sein mit schwarzen Bartstoppeln zugewachsenes Gesicht. Er wischt mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn und winkt seinen Lehrling heran, der ebenfalls mit gerunzelter Stirn auf die Kabel und Schläuche starrt. Auch der kleine Bengel, der die ganze Zeit still mit einem großen Schraubenzieher an einer Radkappe herumgeschraubt hat, legt sein Werkzeug beiseite, schiebt eine Kiste heran, auf die er klettert, um mit demselben sorgenvollen Blick in den Motor zu schauen. Mit dem öligen Tuch wischt der Mechaniker sich die Hände ab, zieht mit einer energischen Bewegung die Hose über Bauch und Po.
»Feio, muy feio!«
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Nachlese

 

Die »Freundin« gibt es bei dem kleinen Kiosk am Rand der Promenade. Ich greife sofort zu und bin freudig überrascht, dass es meine Lieblingszeitschrift auch in Spanien zu kaufen gibt.
»Viele Deutsche hier«, sagt der alte Besitzer und lächelt mich unter seiner Fischermütze verschmitzt an. »Viele einsame Frauen.«
Ich kriege sofort einen roten Kopf. Stammele in Spanisch: » No soy soltera. Mi marido va venir la proxima semana. El tiene negocios en Alemana.«
Er nickt. Ob er mir glaubt, dass ich verheiratet bin und mein Mann nachkommt?
»La senora habla muy bien espanol, muy bien«, sagt er.
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Das Mädchen rennt

 

Wie hübsch sie ist, diese kleine weiße Stadt auf dem Hügel direkt an der Küste, auf deren grau-schwarz gepflasterten Gassen wir uns mühsam bis zum maurischen Kastell hochkämpfen. Immer wieder verirren wir uns in den schmalen Sträßchen, in die nur Einheimische vorsichtig ihre Autos lenken, bleiben stehen vor lichtüberfluteten Gartenflecken, deren frühlingshafte Blumenpracht uns staunen lässt. Von oben dann der grandiose Blick auf die blauen Weiten des Mittelmeers, auf die hin- und herwogenden Schaumkronen und die funkelnden Lichtspiele der Sonne. Im Hintergrund ragen die weißen Gipfel der Sierra Nevada auf, deren mit gelbem Ginster und knorrigen Olivenbäumen gesäumte Sträßchen wir heute Morgen hinuntergefahren sind, gemeinsam mit den Motorradfahrern, die unseren kleinen Renault in den engen Kurven halsbrecherisch schnitten. Unter der Burg dann eine kleine Kneipe, auf deren verschatteter Terrasse noch einer der vier Tische frei ist. »Cerveceria Martin«, sagt das Schild über dem Eingang. Martin? Ein deutscher Name? Nein, der freundliche runde Besitzer ist eindeutig Spanier. Den heiligen Martin kenne man auch hier gut, sagt er.
»Duas cervezas. Muy frio, por favor!«
Die Kehle ist trocken, das T-Shirt durchgeschwitzt. Es tut gut, die Beine durchzustrecken, tief durchzuatmen.
»Quieren almorzar? Er weist auf das Schild.: Plato de Dia: 9.50 Euros.
»No, gracias! Mas tarde!«
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The Three Frustrated Women of Venice

Ob es wirklich eine gute Idee war, diese gemeinsame Studienfahrt nach Venedig? Zweifel bewegten Adriane schon im Flugzeug. Gewiss, sie waren die Unzertrennlichen Drei, damals auf dem Mädchengymnasium in Bonn. Aber welcher Teufel hatte sie geritten, 30 Jahre nach ihrem Abitur bei der feuchtfröhlichen Wiedersehensfeier zu beschließen, noch einmal gemeinsam eine Reise zu machen.
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Abgestürzt

Es war die letzte Gelegenheit für den Auslandsschuldienst, dieses Angebot der deutschen Schule in Santiago de Chile. Dem Oberstudienrat für Deutsch und Mathematik Hans-Jürgen Kassens wurde eine Funktionsstelle als stellvertretender Schulleiter am Colegio Aleman angeboten. Seine Frau Helene, Diplom-Übersetzerin für Englisch und Spanisch, erklärte sich auf Anfrage bereit, wöchentlich zwölf Stunden Englisch zu unterrichten.
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Blauschmuck

 

Der Wind peitscht über die Autobahn. Die dunklen Äste der Bäume schwanken bedrohlich. Unaufhörlich prasselt der Regen aufs Autodach, die Scheibenwischer schmieren auf hoher Stufe über die Frontscheibe. Hella hält das Lenkrad umklammert, sitzt mit der Nase an der Scheibe, um besser sehen zu können. Der Gegenverkehr blendet. Sie hätte auf der rechten Spur bleiben sollen, aber hinter den Lastern herschleichen? Bei der nächsten Baustelle würde sie auf dem rechten Seitenstreifen  bleiben.
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Voyeurismus

Claudia ist Schwimmerin. Begeisterte Schwimmerin. Süchtig nach dem kühlen Nass, der gleitend-rhythmischen Bewegung des Kraulschlages, der wohligen Leere im Kopf, die sich nach wenigen Minuten einstellt. Im Herbst, im Winter und im Frühling schwimmt sie im ausgebauten Hallenbad in ihrer Nähe. Zwei der Bahnen sind 50 m lang, das Wasser hat 22 Grad, also ideal, um jeden Tag eine Stunde durchs Wasser zu pflügen. Vergnügen pur. Im Sommer allerdings – von Mitte Mai bis Mitte September – sind für sie nur offene Gewässer diskutabel: Seen, Flüsse, das Meer. Sie wohnt in Süddeutschland, nördlich von München. Die Auswahl an Seen ist groß: Chiemsee, Ammersee, Starnbergersee. Auch die kleineren Baggerseen im Norden bieten klares Wasser, saubere Kiesufer, eine übersichtliche Anzahl von Besuchern.
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Zugfahrt erster Klasse

Spätestens seit Lars von Triers Film Melancholia weiß man, dass schwer depressive Menschen erst im Angesicht vom Weltuntergang zu großer Form auflaufen, tanzen und singen und lachen. Bei Gesa lag der Fall nicht ganz so dramatisch wie bei Justine, trotzdem fühlte sich ihr Therapeut zunehmend hilflos angesichts ihr hartnäckigen depressiven Verstimmungen und ihrer negativen Weltsicht.
»Für Sie ist das Glas immer halb leer«, sagte er und hatte die Idee, Gesa mit der Deutschen Bahn kreuz und quer durch Deutschland zu schicken. Eine zugegebenermaßen unorthodoxe Maßnahme, deren Kosten die Krankenkasse nicht übernehmen wollte. Er konnte nur hoffen, dass auf der Reise nicht alles glatt lief, aber das war bei der Deutschen Bahn ja auch höchst unwahrscheinlich.
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