Blauschmuck

 

Der Wind peitscht über die Autobahn. Die dunklen Äste der Bäume schwanken bedrohlich. Unaufhörlich prasselt der Regen aufs Autodach, die Scheibenwischer schmieren auf hoher Stufe über die Frontscheibe. Hella hält das Lenkrad umklammert, sitzt mit der Nase an der Scheibe, um besser sehen zu können. Der Gegenverkehr blendet. Sie hätte auf der rechten Spur bleiben sollen, aber hinter den Lastern herschleichen? Bei der nächsten Baustelle würde sie auf dem rechten Seitenstreifen  bleiben.Die weißen Begrenzungslinien sind gelben Behelfsmarkierungen gewichen, schimmern undeutlich in der Nässe. Das penetrante Flackern der Baustellen-Absperrungen erschwert die Orientierung auf der Fahrbahn. Ein BMW an ihrer hinteren Stoßstange blendet auf. Ich lasse mich nicht jagen, denkt Hella, beschleunigt aber trotzdem, flucht halblaut vor sich hin, die Hände schweißnass. An der Brille kann es nicht liegen, sie ist gerade beim Augenarzt gewesen. Nur mit der Ruhe, sie versucht, gleichmäßig zu atmen, den Puls unter Kontrolle zu halten. Bloß keine Panik. Bloß keinen Unfall. Sie schaut auf den Navi, muss alles im Blick behalten: die Straßenführung, die Schilder, den laufenden Verkehr, den TomTom, und das bei Regen und Dunkelheit. Früher war doch nachts wenig Verkehr, heutzutage scheint es umgekehrt zu sein. Sie ist mit Absicht spät losgefahren, um nicht stundenlang auf der A1 im Stau zu stehen, aber die Autobahn ist voll, voll, voll. Ein Laster hinter dem anderen. Jede Brücke eine Baustelle. Und Brücken gibt es viele auf der Sauerland-Linie. Unendlich viele. Und die brechen überall zusammen. Jahrzehntelang hat man sich nicht um die Infrastruktur der Straßen gekümmert, nun die Quittung.
Früher, ja früher ist Andreas immer gefahren, wenn es schwierig wurde. Er war die Ruhe selbst. Aber soll sie zu Hause bleiben, jetzt, wo er tot ist? Den Zug nehmen? Das hat sie neulich ausprobiert und ist gnadenlos gescheitert. Auf der Strecke geblieben im wahrsten Sinne des Wortes. Hatte in Dortmund übernachten müssen, weil gar nichts mehr ging. Mehrere Strecken gesperrt. Wetterbedingt. Hätte sie heute vielleicht doch  besser … ? Reiß dich zusammen, nur noch einhundertzwanzig Kilometer. Das kriegst du hin.
Jetzt braucht sie auch noch ein stilles Örtchen. Dringend. Schafft sie es zur nächsten Raststätte? In drei Kilometern gibt es einen Parkplatz, wahrscheinlich mit einem dieser stinkenden Klohäuser. Besser als nichts. Dort kann sie eine kurze Pause machen, ein bisschen heißen Tee aus der Thermoskanne trinken. Sie hat sich während der Fahrt nicht getraut, eine Hand vom Steuer zu nehmen, ein paar Kekse einzuwerfen, den Blutzuckerspiegel hochzukitzeln. Noch eine Steigung, sie kriecht hinter einem Laster her, will nicht  überholen, setzt den Blinker, biegt ab in das gähnende Loch des Parkplatzes, mitten im Wald. Sie fährt an einer Reihe unbeleuchteter Lastwagen vorbei, deren Fahrer wohl die vorgeschriebene Pause einlegen müssen und nun zu schlafen versuchen. Kein Job für mich, denkt Hella. Die armen Kerle, immer auf der Straße, immer unter Zeitdruck. Dieses stundenlange Geradeausgeglotze, da ist doch klar, dass sie mit dem I-Phone spielen, sich die Nägel schneiden, Pornos gucken. Die Unfälle wurden ja auch immer gruseliger, die Zeitungen waren voll davon: Laster auf Autoschlange aufgefahren, drei zerquetschte Autos, Tote und Verletzte.
Der Parkbereich für PKWs ist leer. Klar, die Leute halten lieber an einer erleuchteten Tankstelle. Ein bisschen unheimlich ist ihr schon in dieser Finsternis. Die hat allerdings auch einen Vorteil: Schnell zieht sie die Hosen hinunter, pinkelt ans Hinterrad. Welche Erleichterung! Dann setzt sie sich gemütlich auf den Beifahrersitz, schraubt die Thermoskanne auf, gießt heißen Tee in die Kappe, schlürft genüsslich. Nein, essen muss sie nichts. Hochgeputschtes Adrenalin verhindert jeden Zuckerabfall. Ihr Magen ist wie zugeschnürt. Außerdem wartet die Freundin mit dem Abendessen. Sie schaut auf die Uhr: 21.30 Uhr. Noch 45 Minuten bis zum Zielort, zeigt der Navi. Sie tippt eine WhatsApp: Ich bin in einer Stunde da. Mit dem Handrücken reibt sie über die Lippen, steigt aus, reckt und dehnt sich. Den Rest der Strecke schafft sie auch. Sie drückt auf den Startknopf des Mazda, der Motor springt an. Kupplung kommen lassen, Gas geben, der Wagen beginnt zu rollen.
Halt! Die Scheinwerfer erfassen eine dunkle Gestalt am Rand. Hektisches Gewinke. Ein Mann? Eine Frau? Nein, sie würde nicht stoppen. Sicherlich nur ein Trick. Die Zeitungen sind voll davon. Ein Hold-up, ein Überfall. Man sollte nicht anhalten, warnt die Polizei immer wieder. Noch nicht einmal, wenn ein Mensch auf der Straße liegt. Wahrscheinlich simuliert er. Ein gefakter Unfall. Sie würde nicht so blöd sein.
Hellas Fuß zuckt zur Bremse, der Wagen wird langsamer, bleibt stehen. Mit einem Fuß auf dem Kupplungspedal spielend lässt sie auf der Beifahrerseite die Scheibe ein kleines Stück hinunter. Die dunkle Gestalt kommt näher. Ein junges Gesicht, weiblich, blass, ein schwarzes Tuch über Kopf und Schultern, die Hände bittend zusammengelegt.
»Hilfe! Help! Please, help me!«, sagt die Frau.
»What`s the matter?«, fragt Hella.«Was ist los?« Wo kam die denn her? Aus einem der Laster gesprungen?
Die Frau redet unverständliches  Zeug. Wirft immer wieder einen Blick über die Schulter.
»Bitte, please, schnell, schnell. Mann kommt!«
»Werden Sie verfolgt?«
Die Frau versteht nicht.
»Where are you from?«, fragt Hella »Wo kommen Sie her?«.
Die Frau wimmert.
Hella beugt sich hinüber und öffnet die Beifahrertür. Die Frau springt hinein. Kauert sich zitternd in den Sitz. Hella gibt Gas, reiht sich ein in die Schlange der vorbeijagenden Autos.

Auf dem Rücksitz liegt der Roman »Blauschmuck«, die Geschichte einer  misshandelten Frau.


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