Voyeurismus

Claudia ist Schwimmerin. Begeisterte Schwimmerin. Süchtig nach dem kühlen Nass, der gleitend-rhythmischen Bewegung des Kraulschlages, der wohligen Leere im Kopf, die sich nach wenigen Minuten einstellt. Im Herbst, im Winter und im Frühling schwimmt sie im ausgebauten Hallenbad in ihrer Nähe. Zwei der Bahnen sind 50 m lang, das Wasser hat 22 Grad, also ideal, um jeden Tag eine Stunde durchs Wasser zu pflügen. Vergnügen pur. Im Sommer allerdings – von Mitte Mai bis Mitte September – sind für sie nur offene Gewässer diskutabel: Seen, Flüsse, das Meer. Sie wohnt in Süddeutschland, nördlich von München. Die Auswahl an Seen ist groß: Chiemsee, Ammersee, Starnbergersee. Auch die kleineren Baggerseen im Norden bieten klares Wasser, saubere Kiesufer, eine übersichtliche Anzahl von Besuchern.
Claudia genießt es, nackt zu schwimmen. Auf diese Weise erspart sie sich, ohne abstruse Verrenkungen ihre Unterhose und den BH aus- und den Badeanzug anzuziehen und vice versa. Im letzten Sommer an der Atlantikküste hat sie einem mageren Teenager zugesehen , wie die Kleine – verspottet von ihrem älteren Bruder – es geschafft hat, die Bikinihose unter den Slip und die kurze Jeans zu ziehen, ohne dass jemand auch nur einen Blick auf ihren kleinen, runden Popo erhaschen konnte. Eine artistische Leistung ohnegleichen. Sie nahm sich vor, die Übung zu Hause nachzuahmen, hat aber frustriert aufgegeben, nachdem sie nach zwei Minuten – auf einem Bein stehend, das andere in der Unterhose verhakt – einfach umgekippt ist. Ok., vielleicht klappen solche Verrenkungen nur mit Zwölf oder Dreizehn. Aber was hat ein dreizehnjähriges Mädchen zu verbergen? Auch die Eltern schienen genervt, haben aber – vernünftigerweise? – sich jeden Kommentars enthalten.
Die Frage ist, war Claudia, als sie die kleine Französin beobachtete und versucht hat, sich die Verrenkungen zu merken, die das Mädchen brauchte, um die Bikinihose unter dem Slip und der kurzen Jeans durchzuziehen, ein Voyeur? Eine Voyeurin? Gibt es überhaupt die weibliche Form? Eine Voyeurierende wahrscheinlich – wegen der political correctness. Hat die Kleine sie in irgendeiner Form angeturnt? Sie hat das Mädchen nicht aus den Augen gelassen.
Von einem anderen Kaliber war allerdings die Szene am Nacktbadestrand des Baggersees in Pullingen, einem vor zwei Jahren ausgebaggerten See, über den im Minutentakt die Lufthansa-Maschinen fliegen, die im Franz-Josef-Strauss Airport starten und landen. Claudia fährt oft hin, wenn sie am frühen Abend – aus dem Büro kommend – noch ein paar Bahnen schwimmen will. An diesem späten Nachmittag ist die Sonne hinter den Wolken verschwunden, das Thermometer zeigt etwas über 20 Grad an. Nur wenige Autos stehen auf dem Parkplatz. Sie löst die Eintrittskarte, schließt ihr Rad an einen Pfosten und läuft ein Stück über die Wiese bis zur textilfreien Zone.
Schon von weitem sieht sie zwei nackte junge Männer auf einer Strandmatte liegen, in Löffelstellung, der eine mit dem Bein über die Hüfte des anderen, den Kopf an den Rücken des Partners geschmiegt. Sie legt ihr Handtuch im Sand ab, zieht sich aus, wirft immer wieder einen Blick auf das – schwule? – Paar. Angeturnt? Nein, eher angewidert. Auf Zehenspitzen steigt sie über die Schlingpflanzen am Rand, lässt sich ins Wasser fallen, krault hinüber zum anderen Ufer. Kann nicht abschalten. Was wäre, wenn dort zwei Frauen lägen? Oder ein Mann und eine Frau? Wäre sie dann auch angeekelt? Sie krault und krault, um den Kopf frei zu kriegen. Dreht weit genug vom Ufer ab, traut sich nicht zurück zum Strand. Wie viel Zeit soll sie ihnen geben? Haben die keine eigene Wohnung? Kein Geld für ein Hotelzimmer? Sie wird immer wütender. Empfindet die Situation als Zumutung. Kalt wird ihr auch. Ein Krampf im linken Oberschenkel. Vielleicht haben die gar keinen Sex. Schmusen nur. Schmusende Homos? Machen die das extra? Wollen die gesehen werden? Erregung öffentlichen Ärgernisses, also Kick? Sie schwimmt zurück. Die Männer sind auseinandergerückt. Einer – der hintere Löffel – hat eine Brille aufgesetzt. Blättert in einem Magazin. Hat allerdings sein Bein immer noch über der Hüfte seines Partners liegen. Keiner von beiden schaut auf.
Eilig zieht sie sich an. Soll sie vorne beim Pförtner Bescheid sagen, dass es so aussieht, als ob der FKK-Strand zum Schwulentreff wird? Die Eingangspforte steht offen, es ist niemand mehr da. Was geht sie das Ganze an? Sie wird in Zukunft zu einem anderen Baggersee fahren.


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