Archive for the Category Erzählungen

 
 

Reisefieber

Von hier oben ist der Blick auf Madrid grandios. Doch die Luft ist stickig, auch wenn die schräge Dachluke einen Spalt geöffnet ist. Weiter kann man sie nicht aufmachen, sonst fliegen die Tauben herein, und in Windeseile ist der Dachboden vollgeschmiert mit einer ekligen Schicht weißlicher Taubenscheiße. Nicht dass es hier wertvolle Dinge gibt: eine ausrangierte Truhe mit angeschlagenem Geschirr, Pappkartons mit muffig riechenden Mänteln und Jacken. Ein alter Kinderwagen steht in der Ecke, mit geflochtenen elfenbeinfarbenen Seitenwänden und winzig kleinen Rädern. Von einem grünen Kaufmannsladen blättert die Farbe ab und die Türen klemmen. Unter der Schräge gammeln auf einem primitiv zusammengezimmerten Regal diverse  Plastiktüten mit abgetragenen Schuhen und Stapel von sorgfältig gebündelten Zeitungen vor sich hin. Zwischen all diesen ausrangierten Dingen, den Zeugen besserer Zeiten, hat man auch mich vergessen.
Den ganzen Beitrag lesen…

All-Inclusive

“Geh noch zur Toilette, Alexander“, höre ich in der Flughafenhalle eine ältere Frau zu ihrem Mann sagen. “Sonst musst du wieder im Flugzeug.”
“Du behandelst mich wie ein kleines Kind”, knurrt der Gatte, macht sich aber brav auf den Weg.
Den ganzen Beitrag lesen…

Geistwesen

Harold wollte nicht mitkommen. Kann ich ja verstehen. Er hasst Zusammenkünfte mit vielen Menschen. Fühle sich eingeengt, sagt er. Kriege keine Luft zum Atmen. Früher war er ganz anders. Harold konnte nicht genug kriegen vom Feiern und Tanzen. Trank auch gern mal ein Gläschen zu viel, war lustig und gesellig. Manchmal war ich ganz neidisch, wie beliebt er war bei Freunden und Kollegen. Aber seitdem mit Per Ole passiert ist, was passiert ist, ist er in ein Schneckenhaus gekrochen.
Den ganzen Beitrag lesen…

Urlaubsplanung

Es ist dunkel draußen. Oliver und Marita sitzen im Wohnzimmer. Sie sind Mitte 40, seit fast zwanzig Jahren verheiratet. Sie haben keine Kinder, finanziell geht es ihnen gut. Oliver ist Informatiker, Marita arbeitet in einer staatlichen Kita. Beide sind müde von der Arbeit. Oliver macht den Fernseher an. Marita blättert in einem Stoß bunter Prospekte.

Sie:    Was machen wir in den Herbstferien?
Er:     Wieso Herbstferien?
Sie:    Du hast gesagt, du würdest dir im Oktober zwei Wochen frei nehmen.
Den ganzen Beitrag lesen…

Schulalltag

Eine Berufsschulklasse in einer deutschen Großstadt: 22 Schüler und Schülerinnen, die meisten von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Alle wollen ihren Hauptschulabschluss nachmachen.
Die Englischlehrerin – Ende 20, klein und grazil, blonde, halblange Haare– betritt die Klasse.

Lehrerin:     Good morning, ladies and gentlemen!
Den ganzen Beitrag lesen…

Und darum wird beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt.

Und darum wird beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt. (Tucholsky)

Sie hört, wie sich die Tür langsam öffnet. Erschrocken zieht sie die Decke über den Kopf. Bitte, bitte nicht, wimmert sie in sich hinein. Lieber Gott, hilf mir. Aber die Tür öffnet sich weiter. Ihr Vater kommt leise ins Zimmer. Bis spät in die Nacht hat sie die Eltern streiten hören. Die schrille vorwurfsvolle Stimme der Mutter, die dunklen, lallenden Worte des Vaters. Seine Entschuldigungen, seine Versprechungen. Und nun sucht er wieder Trost bei ihr. Sie riecht den Alkoholatem, als er sich an sie schmiegt. Darf sie ihn im Stich lassen, jetzt, wo es ihm so schlecht geht? Sie versucht, von ihm wegzurollen, aber er hält sie fest. Nicht bewegen, sagt sie sich, ruhig atmen, er wird gleich einschlafen. Sie schiebt die Hand weg, die sich zwischen ihre Beine gelegt hat.
Den ganzen Beitrag lesen…

Therapiestunde

»Und das sind Sie auf dem Bild?«, fragt die Journalistin und zeigt auf das Schwarz-Weiß-Foto an der Wand. »Sie waren eine Schönheit, wissen Sie das?«
Die alte Dame lächelt. »Nun übertreiben Sie mal nicht.«
»Doch, doch«, sagt die Journalistin und schaut ihre Gastgeberin an. Ein Gesicht von einem langen, sicher nicht immer einfachem Leben gezeichnet. Doch die breiten, hohen Wangenknochen, das klar geschnittene Kinn, die sorgfältig hochgesteckten, grauen Haare und vor allen Dingen die funkelnden, hellen Augen sind immer noch bemerkenswert schön.
Den ganzen Beitrag lesen…

Casino Lisboa

 

Jeannette stürmt durch die Glastür und stöckelt auf die Gruppe von elegant gekleideten Frauen zu, die in der Vorhalle des Casino Lisboa Schutz vor dem kalten Novemberwind gesucht haben.
»Na, ganz schön spät!« Luise sieht demonstrativ auf die Uhr,
»Sorry. Christian ist so spät aus der Botschaft gekommen. Ich konnte nicht eher weg. Und die Almeda dos Oceanos ist auch dicht.«
Den ganzen Beitrag lesen…

Häutung

Am Sonntagmorgen ist es der einzige Frühzug in die Stadt. Pauline will ihn auf keinen Fall verpassen. Ab Hauptbahnhof fährt eine Straßenbahn weiter zum Klinikum. Der Wind treibt den Regen schräg über den offenen Bahnsteig. Die braune Wollmütze hat sie tief in die Stirn gezogen, den Mantelkragen hochgeklappt.
Natürlich hatte es Fotos von ihr gegeben, vor zwei Jahren. Wie die Geier hatten die Journalisten auf sie gewartet, draußen auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude. Pauline hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, aber trotzdem war ein Foto von ihr an die Presse gelangt. Ein Familienfoto. Sie und die vier Kinder im Garten: Baby Mia auf ihrem Arm, die Zwillinge Nils und Eike lachend übereinander purzelnd, die siebenjährige Mara an die Mutter geschmiegt. Von Johannes ist nichts zu sehen. Vielleicht war er der Fotograf. Sie sieht glücklich aus, lacht in die Kamera, so wie er es immer haben wollte. Die dunkelblonden Haare fallen ihr ins Gesicht, die dunklen Augen blinzeln in die Sonne, der Mund mit den weichen, ungeschminkten Lippen leicht geöffnet.
Seit zwei Jahren steigt sie einmal die Woche die steilen Stufen zu Frau Dr. Arens Praxis empor. Eine posttraumatische Belastungsstörung hatte die Psychotherapeutin diagnostiziert. Würde Frau Dr. Arens sie weiter behandeln, wenn sie wüsste, wohin sie fährt?
»Sie kommen gut voran«, hat sie neulich gesagt. »Sie sind dabei, Ihre alte Kraft zurückzugewinnen. «
Den ganzen Beitrag lesen…

Praia do Meco – Im Gericht

Eine schwarze Monsterwelle kam auf den Strand zugerast, wurde größer und größer. Das brausende Wasser überrollte Menschen, Liegen, Sonnenschirme, jagte donnernd in Richtung Strandpromenade. Riss alles mit, was ihr in den Weg kam, auch die Schreie der Menschen.
Stöhnend fuhr er hoch. Er starrte in die Dunkelheit. »Querido, was hast du?«, eine besorgte Stimme, die kühle Hand seiner Frau. »Hast du schlecht geträumt?«
Der Jugendstaatssekretär Emidio Guerreiro wälzte sich aus dem Bett. Erst hatte er stundenlang wachgelegen, sich von einer Seite auf die andere gedreht. Dann kamen die Albträume. Er murmelte Unverständliches, nahm die nass geschwitzte Bettdecke und das zerknüllte Kopfkissen unter den Arm und schlich nach nebenan ins Gästezimmer.

Kaum machte er die Augen zu, sah er den übergroßen Mund des Rektors vor sich, die farblosen Lippen zu einem Strich gedehnt, die vom Rauchen angegilbten Zähne, klein und spitz wie bei einem Frettchen:
»Ich bin gegen jede Form von Zensur. Jeden Tag sterben Leute auf der Straße, aber deshalb werden wir niemandem verbieten, auf die Straße zu gehen«
Wie bitte, hatte er gefragt, die Opfer sind schuld, nicht die Täter? Der Rektor hatte gar nicht verstanden, was er meinte. Der Staatsanwalt hatte eingegriffen. »
»Bei allem Respekt,  Exzellenz«, hatte er gesagt, »hier geht es in erster Linie um die Organisatoren der Rituale, nicht um die Erstsemester, die sich ihnen unterwerfen müssen. Ein tragischer Ausgang!«
» Ja, ja, tragisch, tragisch, tragisch. Egal, welche Zeitung man aufschlägt. Ich kann das heuchlerische Geschrei nicht mehr hören«, polterte der Rektor.

Als hätten diese schreibenden Schmierfinken eine Ahnung, was tragisch bedeutete, dachte der Rektor. Unschuldig schuldig werden: Wer war hier unschuldig schuldig geworden? Er als Rektor der Universität? Das gestörte Kerlchen, das den Dux spielte und sich nun heulend bei seinen Eltern verkrochen hat? Er habe das nicht gewollt, war das einzige, was man aus ihm herausbekommen hatte. Und jetzt das Geschrei, die Aufnahmerituale zu verbieten. Verbieten ist ja immer gut, das ist einfach, kommt gut an, beruhigt die Volksseele und kostet nichts. Er war jedenfalls gegen jede Form der Zensur. Jeden Tag starben Leute auf den Straßen – besonders hier in Portugal – wo das Auto zum Sozialprestige gehörte und keiner dieser rasenden Machos den Wagen wirklich beherrschte, ganz zu schweigen vom Alkoholkonsum. Schrie er deswegen nach Verboten? Keine Autos mehr einführen oder den Leuten verbieten, auf die Straße zu gehen? Sie könnten von irgendeinem Idioten überfahren werden? Das war doch irre.
Klar ging es ihm um den Ruf seiner Universität. Universidade de Lusofana, eine private Institution; es war schwierig, jedes Jahr die Fördergelder zusammenzukriegen. Natürlich war jeder Neustart mit Problemen verbunden. Die Uni hatte  keine lange Tradition wie Coimbra, sie konnte sich noch nicht leisten, die besten Studenten auszusuchen, deshalb aber von einer drittklassigen Universität zu sprechen, traf die Sache nicht. Natürlich nahm sie jeden auch noch so schlechten Abiturienten auf, wenn die Eltern genügend zahlten. Die Universität brauchte das Geld, denn sie musste jede Menge Stipendien vergeben, sonst bekam die die Mindestanzahl  der Studenten gar nicht zusammen. Ihm blutete schon das Herz, wenn er sich die Zeugnisse anschaute oder die akademischen Leistungen gerade der Stipendiaten aus den früheren Kolonien. Aber immerhin war das genau das Ziel der grupo lusofana, den Bildungsgrad  in diesen Ländern zu erhöhen. Sonst bekämen sie überhaupt keine staatlichen Gelder.
Selbstverständlich wollten diese jungen Leute dazugehören, dazugehören zu der akademischen Elite des Landes. Und  wie wollten sie das bewerkstelligen? Durch Aufnahmerituale natürlich. Ein alter Zopf. Kannte er von der Armee zur Genüge. Auch das altehrwürdige Coimbra hatte vor Jahren seinen Skandal, als die reichen Eltern einer der betroffenen Studenten klagten, weil der Schwächling die Mutprobe nicht durchhielt.
Zugegeben, am Strand war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Er glaubte dem Dux  sogar, dass der die Konsequenzen nicht übersehen hatte.  Der Junge war nicht dumm. Nein, eigentlich recht intelligent. Aber Intelligenz und Brutalität schlossen sich  nicht aus. Sah man schon an seinem Vater, einem der einflussreichsten Unternehmer im Lande. Der Junge hatte früh angefangen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Die Organisation der jährlichen praxes war ein Übungsfeld. Aber die  andern sechs – natürlich ein Drama, dass sie ihre Dummheit mit dem Leben bezahlen mussten – waren keine geistigen Leuchten, er hatte sich die Zeugnisse angesehen. Also wichen sie auf eine Nebenkarriere aus, wollten dazugehören, schmeichelten sich ein beim Dux, waren seine Untergebenen. Kannte er doch.  Vive Salazar.
Natürlich war die Krabbelei am Strand auf allen Vieren mitten im Dezember nur lächerlich, dazu noch mit Steinen um die Fußgelenke. Die paar Zeugen – alle naive Dorfbewohner – hatten wohl ihren Augen nicht getraut und sich  hundertmal bekreuzigt. Die Elite des Landes auf Knien im Sand robbend.  Die Beantwortung von Fragen mit dem Rücken zum Meer war allerdings originell. Zumindest Kopfarbeit.  Bei Nichtbeantwortung ein paar Schritte zurück Richtung Meer fand er  nicht schlecht. Sollte man auch in den Seminaren einführen. Ha, ha, ha. Nicht immer dieses Verständnisgesäusel. Nein, Konsequenzen tragen für Nichtwissen, egal ob aus Dummheit oder Faulheit.
Das Meer war seit Tagen unruhig, die Wellen hoch. Als hätten die noch nie was von Monsterwellen gehört. Der Dux hatte sie einfach zu tief ins Wasser gehen lassen. Er selbst war natürlich auf dem trockenen Sand stehengeblieben, seine Macht auskostend. Eine unheilvolle Konstellation. Intelligenz  und Herrschsucht gegen Dummheit und der Sehnsucht nach Gehorsam und Unterwerfung, dem unbedingten Wunsch dazuzugehören.  Das politische Establishment hing mit drin.  Und sein Job als Rektor war es, die Reputation seiner Universität zu schützen. Gottseidank stand er nicht allein da. Auch seine Kollegen fürchteten um ihren Ruf. Um ihren Job. Aber die Presse würde sich abregen, die Meldungen würden aus den Zeitungen verschwinden. Der Prozess wird ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden, das Thema war zu brisant. Kein Politiker hatte Interesse, das portugiesische Universitätswesen der Lächerlichkeit preiszugeben.  Sie mussten die ganze Sache nur aussitzen.

Der Staatsanwalt hob wieder einmal theatralisch die Hände. »Meine Herren, meine Herren, lassen Sie uns vernünftig bleiben. Wir müssen eine Lösung finden. Die Presse wartet draußen. Die Eltern der Opfer auch.«
Es gehe ihm um den Ruf seiner Universität, sagte der Rektor. Die Investorengruppe Lusófona habe die Universität gegründet, um an einer privaten Uni auch den Jugendlichen ein akademisches Studium zu bieten, die…«
»für eine renommierte Universität zu schwache Leistungen bringen«, warf der Staatsanwalt ein und erntete einen vernichtenden Blick. Doch das war die Realität. Alle wussten um die Stipendien und auch, warum sie vergeben wurden. So konnten Gelder aus staatlichen Bildungsprogrammen abgeschöpft werden. Nein, hatte der Rektor das Gespräch zusammengefasst und sich eine Zigarre aus dem silberbeschlagenen Etui genommen, die Uni treffe keine Schuld. Sie müssten nur auf die Aussagen des einzigen Überlebenden warten.
»Der hat sich seit Wochen im Haus seiner Eltern versteckt und würde mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft abgeschirmt«, behauptete der Jugendstaatssekretär. Schließlich sei der Vater des jungen Mannes ein nicht ganz unbekannter Unternehmer.
Der Rektor ignorierte den Einwurf, sah den Staatsanwalt an. »Wir sitzen alle im selben Boot und sollten uns nicht gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben.«
Er nicht, er sitze nicht im selben Boot, hatte Emidio Guerreiro gesagt, aber die andern beiden Herren hatten mitleidig gelächelt. Natürlich nicht, weder vom familiären Hintergrund noch von den akademischen Würden her konnte er ihnen das Wasser reichen.

Emidio Guerreiro wusste, an Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Er ging ins Wohnzimmer, machte die Stehlampe an und goss sich ein Glas Periquita ein. Morgen früh würde er den Chefredakteur vom Diario anrufen. Oder hatte der auch in Coimbra studiert?

 

 

fredakteur vom Diario anrufen. Oder hatte der auch in Coimbra studiert?