Geistwesen

Harold wollte nicht mitkommen. Kann ich ja verstehen. Er hasst Zusammenkünfte mit vielen Menschen. Fühle sich eingeengt, sagt er. Kriege keine Luft zum Atmen. Früher war er ganz anders. Harold konnte nicht genug kriegen vom Feiern und Tanzen. Trank auch gern mal ein Gläschen zu viel, war lustig und gesellig. Manchmal war ich ganz neidisch, wie beliebt er war bei Freunden und Kollegen. Aber seitdem mit Per Ole passiert ist, was passiert ist, ist er in ein Schneckenhaus gekrochen. Harold will keinen Besuch mehr, pusselt immer nur in seinem Hobbykeller herum. Früher, als  Per Ole noch ein Junge war, haben sie im Winter die Eisenbahn aufgebaut. Ganze Landschaften haben sie geschaffen mit Feldern und Bäumen, Straßen und kleinen Dörfern. Wie oft sind die beiden ins Eisenbahnmuseum nach Hamburg gefahren. Und später hat er unseren Enkel Jani mitgenommen. Der kannte dann auch bald jede Lokomotive mit Namen, wusste, wie viel PS sie hatte, wie schnell sie fuhr, kannte ganze Streckenpläne auswendig. Immer wieder hat er versucht, mir den Unterschied zwischen IC und ICE zu erklären, gerade mal sieben war der Lütte damals, aber seitdem mit Per Ole passiert ist, was passiert ist, gammeln Lokomotiven und Waggons vor sich hin. Ich bin mal heimlich runtergegangen in den Keller, aber da war gar nichts mehr aufgebaut. Schienen lagen haufenweise in den Kisten an der Wand, Züge und Wagen waren in die Regale gerammt worden. Was macht der Mann den ganzen Tag da unten? Ich habe ihm sogar angeboten, mal mit nach Hamburg zu fahren ins Eisenbahnmuseum, obwohl mich das gar nicht interessiert, aber er hat nur müde abgewunken. Kein Interesse, hat er gesagt, und ist wieder in den Keller geschlurft. Dünn ist er geworden und grau. Er hatte sich so auf die Pensionierung gefreut, und nun, was macht er aus seiner freien Zeit? Ich kriege ihn kaum dazu, spazieren zu gehen.
Dass er nicht mehr in die Kirche will, das verstehe ich, mit Kirche hat er nie viel am Hut gehabt. Und der neue, junge Pfarrer ist auch zu aufdringlich. So ein Pastor mit Sporthosen und Turnschuhen, als käme er pausenlos vom Joggen. Er denkt vielleicht, das würde den jungen Leuten imponieren. Aber die sieht man sowieso nicht im Gottesdienst. Nach der Konfirmation sind die alle weg. Kassieren ihre Geschenke und sind verschwunden. Nur die Alten sind geblieben.
Immer wieder ist der Pfarrer vorbeigekommen. Wollte mit Harold sprechen, hat gesagt, Harold dürfe nicht alles in sich hinein fressen, er müsse sich öffnen, solle in den Gesprächskreis kommen. Harold war immer ein höflicher Mann, doch als der Pastor ihm eines Tages anbot, mit ihm zu beten, da ist Harold aufgestanden und hat die Tür aufgemacht. Ich will Sie in diesem Haus nicht mehr sehen, Herr Pfarrer, hat er gesagt. Und der war ganz verdattert, er habe doch nur helfen wollen, hat er gestottert, und Gott heile alle Wunden. Harold hat durch ihn hindurchgeguckt. Mir war das natürlich peinlich, der Pfarrer konnte doch auch nichts dafür, dass passiert ist, was passiert ist, er hat es doch nur gut gemeint, auch wenn er natürlich nicht helfen konnte. Da kann keiner helfen, auch der liebe Gott nicht. Aber man kann einen Pfarrer doch nicht so einfach vor die Tür setzen. Irgendwie war er doch auch unser Gast, auch wenn wir ihn nicht eingeladen hatten.
Als ich in der Zeitung von der Veranstaltung gelesen habe, da habe ich zu Harold gesagt, wir könnten da doch einmal hingehen. Nur ein Versuch. Aber Harold hat wieder nur wortlos den Kopf geschüttelt. Seitdem passiert ist, was passiert ist, schlafen Harold und ich auch nicht mehr in einem Bett. Ich glaube, er kann meinen Körper nicht mehr aushalten. Er hat eines Abends einfach seine Bettdecke und das Kopfkissen genommen und ist in sein Arbeitszimmer gezogen, auf die unbequeme Liege. Er hat nichts gesagt, kein Wort, nicht wie lange er dort schlafen will, nichts. Er ist einfach gegangen, mit dem Bettzeug unterm Arm. Ich habe dann später noch einmal gefragt, ob er ein breiteres Bett wolle, aber er hat gesagt, das sei nicht nötig. Mehr nicht. Er schaut auch durch mich hindurch. Als ob ich nicht existiere. Klar, ich mache weiterhin das Essen, wasche, putze das Haus, ich habe ja sonst nichts zu tun, aber er redet nur das Nötigste. Ihm ist auch egal, was er isst oder trinkt. Früher haben wir gern mal abends ein Glas Wein getrunken, aber Alkohol fasst er nicht mehr an. Vielleicht ist das auch gut so, wie schnell kann man süchtig werden. Manchmal denke ich, er würde überhaupt nicht merken, wenn ich auch nicht mehr da wäre. Aber dann erschrecke ich mich und sage mir, versündige dich nicht, Harold braucht dich. Was soll er ohne dich machen? Wer sollte ihn versorgen? Würde er dann nur noch im Keller leben?
Und deswegen bin ich hier, hier in diesem dunklen Dorf auf dem Parkplatz vor dem Bürgerzentrum. Ich bin erstaunt über die vielen Autos, es war schwierig, überhaupt einen Platz zu finden. Dass sich so viele Menschen für das Thema interessieren, das hätte ich nicht erwartet. Und niemand von denen habe ich jemals am Sonntagmorgen in der Kirche gesehen. Sie haben die Veranstaltung sogar in den großen Raum unterm Dach verlegt, so viele Leute sind da. Und alle gut angezogen, mit großen Autos, die können doch nicht alle dumm und verblendet und abergläubisch sein. Ich suche mir einen Stuhl in der letzten Reihe direkt an der Tür, damit ich ohne zu stören gehen kann, wenn ich es nicht mehr aushalte. Rechts vor mir sitzt ein junges Paar, das Händchen hält. Per Ole war ja auch immer so liebevoll zu Martina, und dann, als der Kleine geboren wurde, waren beide  glücklich. Sie haben das schöne Haus gekauft, ganz in unserer Nähe, es war vielleicht ein bisschen zu groß, aber Per Ole hat doch gut verdient in der Bank, und Martina hat halbtags gearbeitet. Sie hätten sicher noch ein Baby bekommen. Ich hätte mich so über eine kleine Enkeltochter gefreut. Stopp, sage ich mir, fang nicht so an. Konzentrier dich auf das, was hier passiert.
Die Musik ist ja ein bisschen süßlich, Geigen und Flöten und Harfen. Aber immer noch besser als die lauten Rockkonzerte in der Kirche. Jesus Christ Superstar. So ein Schwachsinn. Da kann man sich nur die Finger in die Ohren bohren. Und jetzt tritt diese Frau in einem Kranz aus Licht vorne ans Mikrofon, schön sieht sie aus, wie ein Engel sieht sie aus. Hinter ihr ein riesiges Foto von einem Sonnenaufgang über dem Meer. Zwischen den Welten, steht auf dem Bild. Ob sie das Medium ist?
Eine angenehme Stimme hat sie. Das Leben ende nicht mit dem Tod, sagt sie. Das Bewusstsein sterbe nicht, sagt sie. In allen Religionen werde seit Urzeiten ein Brückenschlag zu den Verstorbenen gesucht, denn nach dem Tod lebten die Menschen weiter als Geistwesen – das sei die frohe Botschaft. Auch die Dahingegangenen wollten in Verbindung treten mit ihren Lieben auf Erden. Sie brauchten den Kontakt genauso dringend wie wir. Wir vermissten die Dahingegangenen, aber diese vermissten uns auch. Auf beiden Seiten brauchten die Menschen emotionale Heilung, und hier kämen Menschen wie sie ins Spiel, Menschen, die die Gabe hätten, den Kontakt zum Jenseits herzustellen.
»Wir bauen eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits«, sagt sie und lächelt. »Lassen Sie sich darauf ein. Lassen Sie Ihre Chakren mit Energie aufladen, und ich als Medium werde Ihnen helfen, eine Verbindung zu Ihren lieben Verstorbenen herzustellen.«
Und dann benutzt sie noch viele Fremdwörter, um zu beweisen, dass nichts auf dieser Welt vergeht, dass die Energie immer bleibt, das sagten auch die Naturwissenschaften. Und sie zitiert Max Planck und Albert Einstein und nennt Namen, die ich noch nie gehört habe. Und der Herr neben mir nickt und die elegante Frau an seiner Seite nickt und alle hören gespannt zu, und ich denke, schade, dass Harold nicht mitgekommen ist, er hätte alles so viel besser verstanden als ich.
Die Frau sagt jetzt, sie wolle  eine Séance abhalten und die Geistwesen rufen. Vielleicht sei ja für den einen oder anderen auch der liebe Verstorbene dabei, und man könne in Kontakt treten mit ihm. Und ich denke, wie will Per Ole denn erscheinen, er ist doch verbrannt, alle drei sind verbrannt, als das Auto gegen den Tankzug raste. Und da war doch nichts mehr außer Asche und ein paar Knochen und Zähne. Dass Per Ole seinen Job verloren hatte, dass Martina ihn mit dem Kind verlassen wollte, das haben wir doch erst später erfahren. Und dass er immer mehr getrunken hat. Sie haben ja nie was gesagt. Vielleicht hätten wir ja helfen können. Aber Per Ole war ja wie sein Vater, schon früher in der Schule, wenn es ihm schlecht ging, wenn Schwierigkeiten auftraten, dann ist er einfach verstummt. Vielleicht hat auch Martina das nicht mehr ertragen. Dass das Ganze gar kein Unfall war, sondern … Nein, nein, das glaube ich nicht, auch wenn in der Gemeinde natürlich gemunkelt wird. Das hätte Per Ole nie getan, nicht mit Martina, nicht mit dem Kind. Harold will nicht über den Unfall reden, ich habe es immer wieder versucht. Glaubt er auch, dass…?

Was sagt die Frau? Der erste Besucher aus der Geisterwelt sei da? Sie spüre sie ganz deutlich. Ja, sie, es sei eine Frau.Und sie rieche den Duft von Rosen.
»Wer kann es nehmen?«, fragt sie in den Saal und mehrere Hände gehen in die Höhe.
»Ja«, sagt das Medium. »Die Frau kommt näher, jetzt sehe ich sie genauer. Sie ist älter, alt, sicher um die 80, und sie riecht nach Rosen. Wer kann es nehmen?«
Ich schaue mich um. Ein paar Hände sind heruntergegangen, aber zwei  sind oben geblieben, ein Mann vor mir und eine Frau in der ersten Reihe strecken die Arme in die Luft.
»Es ist eine sehr liebevolle Frau«, sagt das Medium. »Können Sie es nehmen?«
»Ja!«, hauchen der Mann und die Frau nacheinander.
»Die alte Frau liebte Rosen!«, sagt das Medium.
Das »Ja« wird lauter.
»Sie hatte einen großen Rosengarten«, sagt die Frau aus der ersten Reihe.
»Die Frau, die uns besucht, ist eine Großmutter, eine stattliche Gestalt. Ich will sagen«, hier lächelt das Medium, »sie hat einen großen Busen, an den sie Sie oft gedrückt hat. Können Sie es nehmen?«
Der Mann zögert jetzt, aber die Frau da vorne ruft erregt »Ja, ja, sie hat mich so oft an sich gedrückt!«
»Sie lebte nur für andere«, sagt der Engel da vorne. »Und Sie, Sie sind genauso. Immer nur für andere da!«
»Ja«, sagt die Frau. »Das stimmt.«
»Sie hat sich selbst verleugnet. Hat immer nur für andere gesorgt!«
»Ja, ja!«
»Und das tun Sie auch. Sich immer nur um andere kümmern!«
»Ja, das tue ich!«
»Wie Ihre Großmutter!«
»Ja, wie meine Großmutter!«
»Ihre Großmutter liebte Sie abgöttisch!«
»Ich weiß«. Ein Schluchzen.
»Sie haben als Kind oft auf Ihrem Schoß gesessen!«
Warum weint die Frau jetzt, frage ich mich. Ist doch eine schöne Erinnerung.
»Wissen Sie, warum Sie heute Abend zu Ihnen gekommen ist?«, fragt das Medium. »Sie will Ihnen sagen, Sie sollen sich mehr um sich selbst kümmern, nicht immer um die anderen. Und Sie will Ihnen sagen, dass Sie sie sehr lieb hat.«
Und nun zückt auch die Frau neben mir ihr Taschentuch.

Aber schon kündigt das Medium die nächste Geistererscheinung an. Ein kleines Kind.
»Wer kann es nehmen?«
Mehrere Arme gehen hoch. Auch meiner. Bin ich verrückt. Spätestens jetzt würde Harold aufstehen und weggehen.
»Und dieser Junge ist zwei, drei Jahre alt. Wer kann es nehmen?«
Alle Hände werden zurückgezogen. Auch ich senke den Arm. Der Kleine war schon sechs.
»Nein, ich habe nicht richtig hingesehen«, sagt das Medium. »Das Kind ist näher gekommen, es ist älter, vielleicht sechs.«
Zögernd hebe ich die Hand. In der dritten Reihe sehe ich noch einen Arm.
»Es ist ein Mädchen«. Beide Arme gehen runter.
»Halt, halt, das Kind hat längere Haare und ein allerliebstes Gesichtchen, deshalb habe ich gedacht, es sei ein Mädchen. Aber es ist ein Junge. Jetzt sehe ich ihn deutlich.«
Hm, denke ich, der Kleine hatte kurze Haare, viel zu kurze für meinen Geschmack, aber vielleicht sind sie nachgewachsen in diesen zwei Jahren. Und ein allerliebstes Gesicht, das hatte er. Zögernd hebe ich den Arm. Die andere Frau tut es mir gleich. Sie wird mir doch wohl nicht den Jungen wegschnappen wollen? Das ist meiner!
»Es ist Ihr Enkelkind.«
»Ja«, sage ich.  Sagt die Frau.
»Und es ist der Sohn Ihres Sohnes!«
Die Frau vor mir gibt auf. Ich jubele innerlich, mein Kleiner ist gekommen. Er will mich besuchen. Mich.
»Sie haben ihm immer Geschichten vorgelesen!«
»Ja«, nicke ich und merke, wie mir die Tränen kommen.
»Und er ist gekommen, um Ihnen zu sagen, dass er Sie sehr, sehr lieb gehabt hat. Und dass es ihm gut geht in dieser anderen Welt und dass er immer wieder zu Besuch kommen will.«
Ich merke, wie mir Tränen der Freude übers Gesicht laufen. Ich muss nachhause. Sofort. Ich muss Harold erzählen, was passiert ist. Der Kleine lebt, er will mit uns sprechen. Wir sind nicht allein. Und vielleicht bringt er eines Tages auch seinen Vater mit. Und seine Mutter.
Das Haus liegt im Dunklen. Ich trete in den finsteren Flur, nur im Keller brennt noch Licht. Ich stürze die Treppe hinunter, reiße die Tür auf. Vor meinen Augen baumeln sorgfältig geputzte, braune Schuhe.


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