Casino Lisboa

 

Jeannette stürmt durch die Glastür und stöckelt auf die Gruppe von elegant gekleideten Frauen zu, die in der Vorhalle des Casino Lisboa Schutz vor dem kalten Novemberwind gesucht haben.
»Na, ganz schön spät!« Luise sieht demonstrativ auf die Uhr,
»Sorry. Christian ist so spät aus der Botschaft gekommen. Ich konnte nicht eher weg. Und die Almeda dos Oceanos ist auch dicht.«
Dabei war die neunjährige Ana-Lena hinter ihr hergelaufen.
»Mama, wo gehst du hin?« Und als Jeannette sagte, sie gehe ins Kasino – sie sah keinen Grund, das zu verschweigen – hatte die Tochter gesagt:
«Warte, Mama. Bitte, Mama«. Ungeduldig war sie stehen geblieben, hörte die Kleine in ihrem Zimmer eine Schublade aufreißen, herumkramen, und dann kam sie die Treppe hinuntergesprungen, einen 50-Euro-Schein in der Faust.
»Mama«, sagte sie und hielt ihrer Mutter das Geld hin. »Das musst du für mich setzen. Auf die rote Neun. Bitte!«
Und als sie den skeptischen Blick der Mutter sah: »Ist mein Geld. Habe ich gespart. Bitte, bitte.«
»Woher weißt du, wie man Roulette spielt?« Konnten auch Kinder schon spielsüchtig sein? Sie hatte da neulich so einen Artikel in »Eltern« gelesen.
»Spielen wir doch immer bei AnaBela. Kinderroulette. Mit Spielgeld. Bitte, Mama, einmal richtig spielen.«
Jeannette hatte gezögert, die Kleine gebettelt und gefleht. Sie war spät dran. Ok., nur dieses eine Mal. Der Verlust des Geldes würde eine gute Lehre sein.
»Das Geld ist hinterher weg«, sagte sie zu ihrer Tochter. «Das ist dir hoffentlich klar.«
»Bitte, Mama. Nur einmal. Einmal in echt.«

Die Frauen drängen ins glasüberdachte Foyer. Leise prasselt herbstlicher Regen auf die Glaskuppel. Sie gehen zur Garderobe an der hinteren Wand, schälen sich aus ihren feuchten Mänteln.
Befremdet schaut Jeannette sich um. Sie muss zugeben, um Kasinos hat sie bisher einen Bogen gemacht. Eigentlich hat sie eher eine barocke Atmosphäre erwartet, rote Veloursteppiche, goldene Spiegel an den Wänden, glitzernde Lüster. Die gläserne, kalte Pracht dieses modernen Gebäudes stößt sie ab. Und leise ist es auch nicht. Sie wirft einen Blick in die untere Galerie mit den vor sich hindudelnden und scheppernden Spielautomaten. Alte Frauen grabschen Münzen aus Plastikbechern. Ein Mann schlägt mit der Faust auf einen blinkenden, wummernden Automaten. Neben dem Eingang stehen einarmige Banditen in Reih und Glied. Wie im wilden Western.
»Jetons bekommen Sie oben am Schalter.« Der Empfangschef eilt hinter ihnen her. »Haben Sie noch Fragen zum Prozedere, meine Damen?« Seine schwarzen Lederschuhe glänzen.
»Nein, nein!« Luise spreizt die lilalackierten Finger und scheucht ihn weg wie eine Fliege. »Wir kommen schon zurecht. Es ist nicht unser erstes Mal.«
Sie lassen die lärmende Welt der Spielautomaten hinter sich, drängen sich in den verspiegelten Lift zur dritten Etage. Ein prüfender Blick in den Spiegel, schnell ein Strähnchen in die Stirn gezupft, die Lippen nachgezogen.
Gedämpftes Stimmengewirr aus dem Salon, Orientteppiche auf glänzendem Parkett, der Empfangstresen aus schwarzem Marmor. Jeannette bleibt stehen, betrachtet die zwei langen Spieltische mit den Roulette-Maschinen am Kopfende. Befrackte Croupiers singen französische Laute. Weiße Kugeln klacken in den sich drehenden Scheiben. Auf grünen Tableaus schieben gepflegte, goldberingte Hände Jetons hin und her. Fatima kommt auf sie zu, im langen, roten Kleid, die dunklen Haare mit Perlklammern hochgesteckt, die Lippen üppig geschminkt. Hinter ihr ein Ober mit einem Dutzend gefüllter Champagnergläser.
»Da seid ihr ja!« Fatimas Gesicht strahlt. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
Luise will etwas sagen, aber Fatima schnattert weiter. »Mein Vierzigster. Das muss gefeiert werden. Da will ich alle meine lieben Freundinnen um mich haben. Zum Trösten.«
Eigentlich ist Fatima eine dumme, eingebildete Pute. Jeannette kneift die Augen zusammen. Und ihre Freundin ist sie schon gar nicht. Sie ist doch nur eingeladen, weil Fatimas Mann mit ihrem Mann ….
Sie beugt sich zu Fatima, haucht ihr ein Küsschen links, ein Küsschen rechts auf die Wange, vorsichtig, damit die Schminke nicht verschmiert:
»Alles Gute zum Geburtstag, liebe Fatima. Parabens und dass du…«
Fatima hat sich schon abgewendet, lässt sich von der nächsten Frau küssen: links, rechts, links, rechts. Ein wenig hilflos stehen sie alle da, mit ihren aufwändig verpackten Geschenken in den Händen.
»Die Päckchen könnt ihr dort ablegen, meine Lieben«, Fatima zeigt auf einen glänzenden Mahagony-Tisch neben der Eingangstür. »Und dann trinken wir erst einmal einen Champagner.« Sie kichert. »Haben alle genügend Jetons? Ihr habt euch doch sicher gut bewaffnet heute Abend. Die Männer ordentlich bluten lassen?“
Hast du bestimmt, denkt Jeannette. Sie hat 1000 Euro von ihrem Konto abgehoben. Christian um Geld zu bitten, das wäre ihr schäbig vorgekommen. Sie weiß ja, wie skeptisch er dem Glücksspiel gegenübersteht, er, der streng erzogene Pfarrerssohn.
Sie geht an den protzigen Schalter, schiebt einen Bündel Scheine hinüber, kauft Jetons für 1050 Euro. Absolutes Limit, sagt sie sich. Keinen Cent mehr. Am hinteren Roulette-Tisch werden Plätze frei, Fatima winkt. Sie setzen sich, legen die Jetons in 10er-Stapel vor sich auf den Tisch.
Was hatte Ana-Lena gesagt? 50 Euro auf die rote Neun? So ein Irrsinn. Das kann nur schiefgehen. Die Scheibe trudelt vor sich hin, links und rechts platzieren die Frauen ihre Wetten. Jeannettes Hände flattern, sie fühlt ihr Blutdruck steigen. Der Croupier sagt: »Faites vous jeux, Mesdames et Messieurs«, und sie schiebt Ana-Lenas gelben Jeton auf die rote Neun. Luise neben ihr schaut verdutzt auf.
„Rien ne va plus!« Der Croupier setzt die Drehscheibe in Bewegung und wirft die Elfenbeinkugel geschickt gegen die Drehrichtung in den Zylinder. Die weiße Kugel fällt und steigt, hüpft durch die Nummerfächer, verharrt kurz in der schwarzen 15, hüpft hinüber in die rote 19, klackert rauf und runter, wird langsamer, springt auf den Metallrand, der die einzelnen Nummernfelder trennt, verlangsamt den Schwung, wird wieder mitgenommen von der Bewegung der kraftvoll sich drehenden Scheibe, hopst in das Fach der roten Neun. Jeannette schreit auf, wow, schlägt die Hand vor den Mund. Routiniert zieht der Croupier verlorene Einsätze mit dem Rechen vom Tisch und schiebt die Steine mit beiden Händen in ein Loch, zahlt die Gewinne aus für diejenigen, die auf Rot gesetzt haben oder auf Ungerade. Erst am Schluss harkt er die Jetons auf der roten Neun zu sich heran, zählt sie sorgfältig und verfünfunddreißigfacht die Anzahl der Steine. Jetons im Wert von 1750 Euro. Jeannettes Herz rast. Die Frauen um sie herum lachen, prosten ihr zu.
»Anfängerglück«, sagt Luise.
»Ist nicht mein Gewinn«, sagte Jeannette und ihr Hals hat rote Flecken. »Ich habe für meine Tochter gesetzt.«
Sie steht auf, geht in den Flur, wechselt die Jetons in Bargeld, stopft das Bündel Scheine in die Tatsche.
»Ist Ana-Lena schon im Bett?«, fragt sie ihren Mann am Telefon. »Ich muss sie unbedingt sprechen.«
Da hört sie schon die Kinderstimme. »Ist das Mama? Habe ich gewonnen?«
»Ja«, sagt Jeannette. »1750 EU. Die rote Neun kam sofort.«
»Ich wusste es!«, schreit Ana Lena.
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Gar nichts, Mama!« Ana-Lenas Stimme klingt entschlossen. «Jetzt kann ich mir ein Pony kaufen.«
Jeannette schluckt. »Darüber sprechen wir noch«, sagt sie. «Aber eines musst du mir noch verraten. Warum die rote Neun?«
»Ist doch logisch, Mama. Ich bin neun und ein Mädchen.«
»Ja, total logisch«. Jeannette muss lachen. »Nun schlaf schön, mein Schatz.«

Sie hängt ein, geht zurück zum Roulette-Tisch, lässt sich noch ein Glas Champagner reichen und setzt zwei 25-Euro-Jetons auf 36 Rot. Ihr Adrenalin feuert. Die Kugel läuft und hüpft, klackert hoch in die Schüssel und wieder hinunter. Wird langsamer, torkelt von Nummernfach zu Nummernfach. Bleibt endlich liegen. Nicht auf der roten 36, natürlich nicht. Sie versucht es noch einmal. Und noch einmal. Die schiere Möglichkeit zu gewinnen treibt sie an. Sie verliert. Und verliert wieder. Ein Rausch fegt sie aus dem Alltag, macht sie unzugänglich für jedes logische Argument. Gebannt verfolgen ihre Augen die kleine weiße Kugel, sie fühlt das Blut in ihren Adern tosen. Wieder verloren. Es ist doch nur ein Spiel. Ein Spiel mit Plastikchips, kein wirkliches Geld. Sie verspielt ihre tausend Euro, leiht sich von Luise den gleichen Betrag noch einmal. Sie kann nicht aufhören. Nicht jetzt. Ihr Kopf ist rot, die Hände feucht. Sie trinkt ihr viertes oder fünftes Glas Champagner. Die rote 36 muss einfach fallen. Ana-Lenas Geld wird ihr Glück bringen.
Sie kommt zu sich, als kein Jeton mehr vor ihr liegt; abrupt steht sie auf. Sie hat Schulden gemacht, reale Schulden, Spielschulden. Tief in ihrem Herzen ist sie eine Spielerin. Eine süchtige Spielerin. Und zuviel getrunken hat sie auch. Obwohl sie eigentlich gar keinen Champagner mag.  Überstürzt verlässt sie das Kasino.
Zuhause stellt Christian keine Fragen. Sie hört ihn im Bad summen: «Im Wartesaal zum großen Glück, da warten viele, viele Leute …«

 


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