Häutung

Am Sonntagmorgen ist es der einzige Frühzug in die Stadt. Pauline will ihn auf keinen Fall verpassen. Ab Hauptbahnhof fährt eine Straßenbahn weiter zum Klinikum. Der Wind treibt den Regen schräg über den offenen Bahnsteig. Die braune Wollmütze hat sie tief in die Stirn gezogen, den Mantelkragen hochgeklappt.
Natürlich hatte es Fotos von ihr gegeben, vor zwei Jahren. Wie die Geier hatten die Journalisten auf sie gewartet, draußen auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude. Pauline hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, aber trotzdem war ein Foto von ihr an die Presse gelangt. Ein Familienfoto. Sie und die vier Kinder im Garten: Baby Mia auf ihrem Arm, die Zwillinge Nils und Eike lachend übereinander purzelnd, die siebenjährige Mara an die Mutter geschmiegt. Von Johannes ist nichts zu sehen. Vielleicht war er der Fotograf. Sie sieht glücklich aus, lacht in die Kamera, so wie er es immer haben wollte. Die dunkelblonden Haare fallen ihr ins Gesicht, die dunklen Augen blinzeln in die Sonne, der Mund mit den weichen, ungeschminkten Lippen leicht geöffnet.
Seit zwei Jahren steigt sie einmal die Woche die steilen Stufen zu Frau Dr. Arens Praxis empor. Eine posttraumatische Belastungsstörung hatte die Psychotherapeutin diagnostiziert. Würde Frau Dr. Arens sie weiter behandeln, wenn sie wüsste, wohin sie fährt?
»Sie kommen gut voran«, hat sie neulich gesagt. »Sie sind dabei, Ihre alte Kraft zurückzugewinnen. «

Als sie vor zwei Jahren aufs Land zog, weit entfernt von dem Ort, in dem sie mit ihrer Familie gelebt hatte, als die Welt noch heil war, da sorgte sie dafür, dass niemand sie wiedererkennen würde. Ihr langes dunkelblondes Haar, das Johannes geliebt und oft durch seine Finger hatte gleiten lassen, ließ sie raspelkurz schneiden und schwarz färben. Ihr Gesicht ist aufgedunsen infolge der Psychopharmaka, die Frau Dr. Arens in den ersten Monaten für unabdingbar hielt und die sie heimlich weiter nimmt, um überhaupt morgens aufstehen zu können. Vor einem halben Jahr hat sie wieder angefangen zu arbeiten. Nicht in ihrem alten Beruf. Um Gottes willen, sie kann keine Kinder ertragen.
»Das ist völlig normal«, sagt Frau Dr. Arens, hütet sich aber davor zu behaupten, allen Frauen ginge es so nach einer dermaßen traumatischen Erfahrung. »Wir machen Krisenintervention. Eine Analyse hilft im Moment nicht weiter. «
Achtsamkeitstraining nennt Frau Dr. Arens die Übungen, und Pauline hat an guten Tagen gelernt, ihren Atem zu beobachten, ihren Herzschlag zu beruhigen. Auch im Alltag haben ihre Panikattacken nachgelassen. Sie hat nicht mehr das Gefühl zu ersticken, wenn sie über die Kinder spricht oder das Gesicht von Johannes vor ihr auftaucht. Setzt sie das alles aufs Spiel? Was macht sie in diesem Zug?

Pauline war 19, als sie Johannes kennen lernte, im letzten Jahr ihrer Erzieherausbildung. Er hatte sich im Zug neben sie gesetzt. Er sei Oberfeldwebel bei der Bundeswehr, sagte er. Fallschirmspringer. Seine zurückhaltende Art, seine lächelnden blauen Augen gefielen ihr. Sie trafen sich öfter. Er brachte ihr Blumen, machte Komplimente. Von seinem Einsatz in Afghanistan erzählte er Pauline nichts. Davon erfuhr sie erst später, nach der Trauung. Pauline wurde schwanger. Sie heirateten an ihrem 20. Geburtstag.
»Über den Krieg wollte er nicht mit mir sprechen«, sagte Pauline zu Frau Dr. Arens. »Nachts hat er oft geschrien. Tagsüber verhielt er sich völlig normal. Ging zum Dienst, spielte mit den Kindern, arbeitete im Garten. «
»Er hat Sie nicht belasten wollen«, sagte die Therapeutin. »Er hat alles in sich hineingefressen. Seine Familie war sein Halt. «
»Habe ich versagt?«, flüsterte Pauline. »Hätte ich ihn besser stützen müssen?«
»Sie waren total überfordert. Er hätte professionelle Hilfe gebraucht. «

Als Mara geboren wurde, ließen Johannes Albträume nach. Er war ein liebevoller Vater. Mara hatte in den ersten Monaten Koliken, weinte viel. Nachts hielt Johannes das Baby im Arm, ging mit ihm in der Wohnung auf und ab.  Doch nach einem Jahr verschlimmerte sich sein Zustand wieder. Die Träume kamen zurück. Er war morgens so zerschlagen, dass er nicht aufstehen konnte, wurde wegen schwerer Depressionen wochenlang krankgeschrieben. Nach einer dreimonatigen Reha in der psychosomatischen Abteilung einer Bundeswehr-Klinik schien er wieder gesund zu sein.
»Es wird schon wieder«, sagte er und umarmte sie. »Ich bin so froh, dass ich dich habe. Dich und Mara.«
Es sei eine schöne Zeit gewesen, wie frisch verliebt, sagte Pauline. Die Zwillinge wurden geboren. Sie schloss die Augen. Die Therapeutin schob eine Packung Tempos näher. Pauline schüttelte den Kopf. Kein Taschentuch. Ihre Augen waren trocken. Sie presste ihre Arme gegen den Bauch. Atmete flach.
»Überfordern Sie sich nicht«, sagte die Therapeutin. »Sie sind auf dem Weg. Sie schaffen das. «

Der Zug fährt ein. Er ist fast leer. Im hinteren Abteil blättert ein älterer Mann in einer Zeitung. Nein, sie wird ihrer Therapeutin nichts erzählen von dieser Fahrt. Gar nichts. Vielleicht sollte sie die Therapie abbrechen.

Johannes hatte angefangen zu trinken. Nicht regelmäßig. Er wurde aggressiv. Nicht gegenüber den Kindern, nie. Aber sie schlug er, nachts, wenn die Kinder schliefen. Schlug sie, warf sie aufs Bett, vergewaltigte sie.
»Du wirst mich sowieso im Stich lassen«, sagte er. »Wie alle vor dir. Nun gebe ich dir einen Grund, mich zu hassen. Damit du kein schlechtes Gewissen hast.«
»Ich hätte ihn verlassen müssen. Damals schon«, sagte Pauline in einer Therapiestunde. »Aber ich habe geglaubt, er würde sich ändern. Am nächsten Morgen hat er vor mir auf den Knien gelegen. Um Verzeihung gebettelt.«
»Sie wollten ihm glauben. «
»Ich wurde wieder schwanger, habe die Pille nicht vertragen. Und er hatte versprochen aufzupassen. «
»Sie fühlten sich in der Falle. «
»Ich wollte den Kindern den Vater nicht nehmen. Er liebte sie. Abgöttisch. Ich bin an diesem Wochenende nur weggefahren, um in Ruhe nachdenken zu können. «
»Sie haben geglaubt, die Kinder seien gut aufgehoben. «
»Aber warum wollte er die Kinder mitnehmen in den Tod?« Zum hunderttausendsten Mal dieselbe Frage.
»Weil er krank ist. Eine krankhafte seelische Störung. Sie kennen das Gutachten. Sie wissen, warum er nicht im Gefängnis ist, sondern in der Psychiatrie. «
»Das bringt mir die Kinder nicht zurück. «
»Ich weiß«, die Stimme der Therapeutin ist sanft. »Nichts bringt Ihnen die Kinder zurück. «
»Jede Nacht sehe ich sie. Aufgebahrt im Ehebett. Mit durchschnittener Kehle. Wie soll ich dieses Bild vergessen? «
»Sie werden das Bild nicht vergessen. Aber es wird schwächer werden. Mit der Zeit wird es schwächer werden. «

Nun fährt sie hin zu diesem Mann, zu dem Mörder ihrer Kinder. Frau Dr. Arens würde sie dazu bringen einzusehen, wie verrückt der Brief ist, den Johannes ihr geschrieben hat. Krank und verrückt.
Und doch gibt es nichts Wichtigeres in ihrem Leben, als mit Johannes zu sprechen. Es ist Johannes, der ihr geschrieben hat, er habe die Kinder gesehen. Den Kindern gehe es gut. Sie seien glücklich dort, wo sie sind. Sie muss zu Johannes. Unbedingt. Er ist ihre einzige Verbindung zu den Kindern, der einzige, der sie kennt, der noch weiß, wie sie aussehen, der mit ihnen gelacht und sie getröstet hat, wenn sie weinten. Er kennt die Farbe ihrer Augen, hat über ihre Haare gestrichen, mit ihnen geredet.
Der Regen hat nachgelassen. Ein junger Afrikaner ist zugestiegen, holt seinen iPod aus der Tasche, fummelt Kopfhörer aus dem kleinen, braunen Rucksack, tippt auf dem Display herum und legt den Kopf zurück ans Polster, schließt die Augen. Pauline starrt aus dem Fenster. Eine graue nasse Decke wabert auf Feldern, weicht die Konturen der roten Klinkerhäuser auf, an denen der Vorortzug vorbeirauscht.
Am nächsten Halt torkeln drei Männer mit kahl rasierten Schädeln ins Abteil. Skins, durchzuckt es Pauline. Die muskulösen Arme tätowiert, Bierflaschen in den Fäusten. Sie grölen, als ihr Blick auf den jungen Schwarzen fällt. Die Spitze eines Springerstiefels schnellt vor.
«He, Kanake, steh auf! Das ist unser Sitzplatz.«
Der Junge starrt die drei Männer an.
»Was hat der denn da? Einen iPod? Geklaut, was? Oder vom Sozialamt spendiert?« Sie lachen.
»Ich habe ihn gekauft«, sagt der junge Mann leise. »Von meinem Geld. Ich habe eine Putzstelle im Krankenhaus. «
»Krankenhaus, da gehörst du auch hin. «
Verstört blickt sich der Junge um. Der ältere Mann hat das Abteil verlassen. Hat wohl geahnt, dass es Stunk gibt.
»Lasst den Jungen in Ruhe«, sagt Pauline. «Er hat euch nichts getan «
Sie zerren ihn vom Sitz. Werfen ihn auf den Boden. Einer tritt zu. Der Junge schreit. Wo ist ihr Handy? In der Handtasche. Natürlich ausgestellt. Ihre Augen gehen hinauf zur Notbremse.
»Lass das, Alte«, sagt einer der Skins.
Der Junge windet sich, versucht einem Angreifer in die Hand zu beißen. Der jault auf, schlägt zu. Der Kopf des Jungen knallt auf den Boden. Die Klinge eines Messers blitzt auf.
»Nein«, schreit Pauline und stürzt sich über den Jungen. Versucht, ihn mit ihrem Körper zu schützen. Das Messer zuckt durch die Luft. Ein stechender Schmerz. Schwärze.
»Glück gehabt«, sagt eine Stimme, als sie auf dem Boden liegend wieder zu sich kommt. »Die Klinge hat den Oberarm nur gestreift. «
Pauline schaut auf. Ein Mann in weißem Kittel fühlt ihren Puls, ein Stethoskop um den Hals. Der schwarze Junge kniet neben ihr, ein blutiges Taschentuch vor die Nase gepresst.
Ein Polizeibeamter macht Notizen. »Leichtsinnig von Ihnen, sich einzumischen. Doch wahrscheinlich haben Sie dem jungen Mann hier das Leben gerettet.“
»Ein älterer Herr hat im nächsten Wagen die Notbremse gezogen, die Typen sind abgehauen. » Der Arzt zuckt die Schultern. „Wir nehmen Sie mit ins Krankenhaus. Für alle Fälle. Können wir jemanden aus ihrer Familie benachrichtigen? «

»Nein, danke«, sagt Pauline. »Ich komme zurecht. Mir geht es gut. «

»Wo wollen Sie hin? Sollen wir ein Taxi rufen? «, fragt ein Polizist.

»Ja, bitte. Ich werde den Jungen nach Hause bringen. «

»Sind Sie sicher? «

»Ja. Ganz sicher!«

 


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One Response to “Häutung”

  1. Gravatar of Gisela Gisela
    13. Dezember 2014 at 14:31

    Hallo Anne,
    mal wieder irre spannend. Ich habe um mich herum alles vergessen.
    Schreibe unbedingt auch zukünftig!
    Gruß
    Gisela

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