Archive for the Category Erzählungen

 
 

Im Hospiz

Herzklopfen, das kenne ich, wenn ich unsicher bin oder Angst habe. Auch heute pulsiert das Adrenalin in meinen Adern, bevor ich auf den Klingelknopf drücke.
Hospiz Lilge-Simon Stift steht auf dem Messingschild.
Ursel lebt noch, so viel ist sicher. Sonst hätte man mich benachrichtigt. Aber was erwartet mich?
Der Türöffner surrt, die Glastür gleitet auseinander. Ich fummele die Bänder der FFP2-Maske über die Ohren. Im Eingangsbereich muss ich den Impfpass vorzeigen: viermal geimpft.
»Zimmer 2« sagt die nette Schwester am Tresen. Gehen Sie einfach herein. Frau Melchers schläft wahrscheinlich noch.
Leise drücke die Türklinke leise nach unten. Öffne die Tür einen Spalt und schiebe den Kopf ins Zimmer.
Die Schwester hat recht. Ursel liegt im Bett, das Gesicht eingefallen und grau, die Lider geschlossen. Der Mund steht offen, ein Loch mit dunklen Zahnstümpfen. Ich trete ein, schließe die Tür, schiebe einen Stuhl ans Bett, setze mich und betrachte die Sterbende vor mir. Aus ihrem Mund kommt ein Stöhnen. Sanft berühre ich ihren Arm, streichele vorsichtig über die geschundene, blau angeschwollene Hand mit den vielen Einstichen. Natürlich, im Krankenhaus man hat sie noch an den Tropf gelegt.
Akutes Nierenversagen, hatte vor einer Woche das Blutbild ergeben, das der Hausarzt am frühen Morgen gemacht hatte, nachdem ich ihn angerufen hatte. Er bestand darauf, den Krankenwagen zu rufen. Sprach von Dialyse.
»Doch nicht wirklich«, sagte ich fassungslos. »Ursel will nicht ins Krankenhaus. Sie will keine Behandlung.«
»Das ist unterlassene Hilfeleistung«, sagte der Arzt. »Wir können sie nicht einfach sterben lassen.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Frau Melchers ist 91, sie hat ihr Leben gelebt. Sie will nicht mehr.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht verantworten. Wer sind Sie überhaupt, wenn ich fragen darf. Eine Verwandte?«
»Nein, nur die Nachbarin!«
»Dann können Sie gar nichts entscheiden. Gibt es Angehörige?«
»Ja. Eine Tochter in Australien. Einen Sohn, der zurzeit in Slowenien in Urlaub ist. Ich habe seine Handynummer.«
Ich wählte seine Nummer.
»Ich bleibe bei ihr, Lars«, sagte ich, als ich ihn erreicht und ihm die Situation geschildert hatte. »Sie will nicht ins Krankenhaus.«
»Gib sie mir«, sagte der Sohn. Ich hörte, wie er auf sie einredete.
»Es ist besser für dich und auch für mich«, hörte ich Lars sagen. »Du musst den Krankenwagen rufen.«
»Das tue ich nicht, Lars. Das kann ich nicht verantworten, diese Quälerei im Krankenhaus. Da kommt sie nie mehr raus, das ist dir doch wohl klar. Das hat übrigens auch neulich ihr langjähriger Hausarzt gesagt. «
»Dann rufe ich an«, blaffte der Sohn.
Der Krankenwagen brauchte nur 10 Minuten. Ich machte einem übergewichtigen Pfleger auf, gefolgt von einem jungen, unsicher wirkenden Kollegen.
»Frau Melchers möchte nicht ins Krankenhaus«, sagte ich. »Es gibt eine Patientenverfügung.«
Der Pfleger schob mich zur Seite, ächzte die steilen Stufen hoch, polterte ins Schlafzimmer und herrscht die Kranke an.
»Was habe ich gehört? Sie wollen nicht ins Krankenhaus?«
Ursel schüttelt den Kopf. »Kein Krankenhaus und keine Behandlung«, flüsterte sie.
»So geht das nicht«, sagt der Pfleger. »Ihre Niere ist dabei zu versagen. Sie werden einen schrecklichen, und schmerzhaften Tod erleiden.«
Die Patientin guckte mich verunsichert an. »Stimmt das?«
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Was hat Lars gesagt?«
»Er ist fürs Krankenhaus.«
Resigniert schlosst Ursel die Augen. Weder sie noch ich wussten zu diesem Zeitpunkt, dass das mit dem qualvollen Sterben eine Lüge war. Nierenversagen scheint eher ein gnädiger Tod zu sein.
Das Telefon. Wieder Lars. »Ich sitze im Auto. Ich fahre über Nacht. Bin morgen früh in Bremen.«
»Wo ist die Versicherungskarte?«, fragte der Pfleger. »Die brauchen wir.«
Ich hatte keine Ahnung, ging aber ins Wohnzimmer, um in ihren Akten zu stöbern. Der jüngere Pfleger folgte mir.
»Setzen Sie sich durch. Das ist Wahnsinn, was hier passiert.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben es gehört, was ihr Kollege gesagt hat. Ich habe keinerlei Befugnisse, ich bin keine Verwandte. «
Ein Schrei der Patientin oben. Eine männliche Stimme. »So eine Sauerei!«
Ich renne nach oben. Ursel schreit vor Schmerzen. Der Pfleger hat ihr offensichtlich grob die Infusion aus dem Unterarm gerissen. Die Haut ist mit abgerissen.
»Jetzt brauchen wir nur noch ein Krankenhaus. In Bremen-Nord ist alles voll«, hörte ich den Pfleger sagen. »Wir brauchen eins mit Dialyse-Möglichkeiten.«
Ich begleitete Ursel noch nach unten, sah, wie sie in den wartenden Krankenwagen geschoben wurde. Ich nahm vorsichtig über ihre Hand, murmelte »Keine Angst! Alles in Ordnung« und hasste mich für meine Lüge hoffend, dass ein Arzt im Krankenhaus ein Einsehen haben und sie nicht zu sehr quälen würde.

Und nun sitze ich an Ursels Bett im Hospiz. Der langjährige Hausarzt war einen Tag später aus dem Urlaub zurückgekommen, mischte sich ein und sorgte dafür, dass alle Behandlungen abgebrochen wurden. Dank seiner Intervention gelang es sogar, einen Hospizplatz zu bekommen.
»Wir wollen doch alle, dass Ihre Mutter ruhig und würdig sterben kann, ohne Schmerzen«, sagte er zu Lars.
Im Hospiz hatte der Sohn noch versucht, die Leiterin zu überreden, seine Mutter an den Tropf zu hängen. Auch die weigerte sich. »Wir machen hier keine sinnlosen, lebensverlängernden Maßnahmen«, sagte sie entschieden.
Und nun liegt Ursel seit drei Tagen im Hospiz, hat ein Einzelzimmer, wird von liebevollen Krankenschwestern gehegt und gepflegt. Auch Tochter Renate ist aus Australien gekommen. Ursel hat sich gefreut und sich verblüffend erholt, ist wach, klar im Kopf, redet wieder, lächelt.
Auch Lars hat Hoffnung geschöpft. »Wir sollten vielleicht doch versuchen …«
»Nein, sagt seine Schwester rigoros. »Wir versuchen nichts mehr. Wir lassen sie friedlich gehen. Keine Quälereien mehr.«
Und nun sitze ich an ihrem Bett. Seit gestern hat sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert. Sie schläft nur noch, ihr Atem geht schwer, sie stöhnt. Ab und zu fährt sie hoch, schaut mit angstvoll aufgerissenen Augen um sich. Ich berühre ihre Hand. »Ich bin es! Gesa!«, sage ich. »Renate kommt gleich. Keine Angst. Wir bleiben bei dir.«
Sie nickt, ein kurzes Flattern der Augenlider. Sie sinkt zurück in die Kissen.
Was bleibt noch? Wir warten. Warten auf einen gnädigen Tod. Ein Hinübergleiten ohne Schmerzen. Denn Sterben lernen, das tut man hier. Ruhig bleiben und abwarten, leise mit der Patientin spreche, ihr die Angst nehmen. »Du bist nicht allein!«
So möchte ich auch sterben, wenn es keine Hoffnung mehr gibt. Nicht in die gnadenlose Maschinerie eines Krankenhauses geraten. Es klopft leise. Renate kommt, um mich abzulösen. Lars wird heute Nacht auf der Isomatte im Zimmer seiner Mutter schlafen. Mehr gibt es nicht zu tun. Und es ist gut so.

 

 

 

 

Bücher

Bücher

Die Schriftstellerin Luise Rinser erzählt in ihren Memoiren, dass sie eines Tages ins Wohnzimmer kam und den kleinen Sohn bewegungslos auf dem Boden liegen sah, beide Arme weit ausgestreckt. Besorgt hatte sie sich sie sich über ihn gebeugt.
»Bist du krank, Liebling?«
»Nein«, sagte der Kleine. »Ich bin ein Buch. Und nun musst du hier bleiben und mich lesen.«
Luise Rinsers Muttergewissen wurde rabenschschwarz. Um Gottes willen, der Kleine dachte wohl, er müsse sich in ein Buch verwandeln, damit sie ihn wahrnahm.
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Kinderlandverschickung

 

Auf Bahnsteig 3 standen Eltern dichtgedrängt, aufgeregte, zappelnde oder still vor sich hinweinende Kinder an der Hand. Der Schnellzug von Essen nach Dagebüll über Gelsenkirchen, Dortmund, Hamburg hatte dreißig Minuten Verspätung. Es war Anfang November, die stählerne Überdachung bot nur behelfsmäßigen Schutz gegen Regen und Wind. Mütter hatten die Kragen ihrer Kaninchenfellmäntel hochgeschlagen und hielten den kleinen Sohn, die kleine Tochter an sich gedrückt, halb in den wärmenden Mantel geschlagen. Einige größere Jungen tobten über die Plattform, neckten die kleinen Geschwister und ließen sich erst von den entnervten Worten ihrer Väter zurückpfeifen.
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Liebe in Zeiten von Corona

Natürlich hatte Margrit damals ihren Gabriel Marquez gelesen. Bücher zu lesen war das einzige Mittel, aus der engen Gegenwart zu flüchten. »Liebe in Zeiten der Cholera«, ein absolutes Muss in den 80ern. Über 50 Jahre hatte Florentino Ariza auf Fermina Daza gewartet. Als junger Mann hatte er sich in sie verliebt, verliebt in ihr Gesicht, in den Klang ihrer Stimme, in ihr Lächeln. Er hatte ihr Liebesschwüre geschickt, sie mit Blumen vor der Haustür überfallen, alles umsonst. Ein Doktor Juvenal Urbino war die bessere Partie gewesen, nicht nur für die Eltern, auch für Fermina. Natürlich hatte er nicht jungfräulich auf sie gewartet.Er hatte geheiratet, mehrere wohlgeratene Kinder gezeugt. Und dann – mit über 80 trafen sie sich wieder und erfüllten ihre Träume, so beschreibt es der kolumbianische Autor Gabriel García Marquez in seinem Roman »El amor en los tiempos del cólera.«
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Der Clown

 

Warum dieses Skelett auf dem Motorrad sitzt, wollen Sie wissen. Neben meinem grün-weißen Zirkuswagen? Und warum ich so traurig aussehe. Das wollen Sie auch wissen? Weil Clowns fröhlich zu sein haben, unbeschwerte Spaßmacher, die die Leute zum Lachen bringen, nicht wahr? Und ich hätte in meinem weiß geschminkten Gesicht schon Trauerfurchen, die die Schminke sprengen würden, sagen Sie. Und meine Mundwinkel seien auch künstlich nach oben geschminkt. Alles Maske, denn meine Augen würden mich verraten. Die blickten so traurig. Ob ich depressiv sei, wollen Sie wissen? Ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen meine Geschichte. Aber nur, wenn Sie Zeit und Lust haben. Ich will mich nicht aufdrängen.
Tue ich nicht, sagen Sie. Sie sammelten Schicksale, sagen Sie. Sie seien süchtig nach Geschichten, die Sie aufschreiben. Ich weiß nicht, ob meine Geschichte interessant genug ist für einen Schriftsteller. Ich solle nur mal anfangen? Kommen Sie rein, kommen Sie einfach rein in mein Zuhause! Drinnen ist es gemütlicher als auf den Stufen hier. Und wärmer. Ich mache uns einen Tee. Kommen Sie!
Ob ich traurig bin, fragen Sie. Eine komische Frage. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Traurig? War ich mal. Ich fühle gar nichts mehr. Keine Freude, keine Traurigkeit. Einfach nichts. Erst in der Manege, wenn die Leute lachen und die Kinder mir zujubeln, werde ich wieder ein bisschen lebendig.. Klar doch, ich liebe das Zirkusleben, das Herumziehen von Ort zu Ort, ohne festen Wohnsitz. Ich liebe die Abende in der Manege und die Zauberwelt der Illusion.
Mein wahres Gesicht, fragen Sie. Was ist mein wahres Gesicht? Und wenn ich eins hätte, wer würde es sehen wollen? Ich jedenfalls nicht. Meine Geschichte wollen Sie hören? Sagen Sie Bescheid, wenn Sie genug haben.
Zuhause waren wir sieben Kinder. Meine Mutter hat sich abgerackert und anderen Leuten die Wäsche gewaschen und den Dreck weggewischt. Mein Vater versoff das wenige Geld, das er als Landarbeiter verdiente und starb, kurz nachdem meine Mutter mich und meine Zwillingsschwester in die Welt katapultiert hatte. Ungewollte Nachzügler waren wir, meine Schwester und ich, ungewollt und ungeliebt. Es war auch ohne uns schwer genug, die Mäuler zu stopfen. Aber meine Mutter sprang von Tischen und Schränken, versuchte, sich in der Badewanne zu verbrühen, trank bitteren Pflanzensaft, den die Dorfhexe ihr heimlich zusteckte. Nichts nützte. Eine Abtreibung kam in unserem bayrischen Dorf selbstverständlich nicht infrage. Eine Todsünde, für die man in die Hölle kam. Als ob wir nicht schon in der Hölle waren! Und dann starben zwei meiner älteren Brüder nach einem alkoholtriefenden Abend, als sie mit ihrem Moped gegen einen Baum knallten. Sie hatten gerade eine Lehre angefangen und brachten ein wenig Geld mit nach Hause.
Meine Schwester haute mit 16 ab mit dem Typen vom Wanderzirkus, der durch unser Dorf kam und auf der Hauptstraße für seine Tiere bettelte. Sie war eines Tages einfach weg. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich auch schon, dass ich nicht war wie die anderen Jungen, die sich mit Mädchen herumtrieben, rauchten, soffen und die eine oder andere Schickse in der Scheune flachlegten.
Weichei, sagten sie zu mir, Sissy, weil ich lange Zeit klein und zart geblieben war, mit blonden Locken. Ich denke, meine Mutter hätte gerne zwei Mädchen gehabt, wenn schon. Aber dass ich schwul war, das passte ihr auch nicht, da schämte sie sich für mich.
Die Hauptschule habe ich mit guten Noten abgeschlossen und eine Lehre beim Bäcker in der nächsten Kleinstadt gemacht. Gekocht und gebacken habe ich schon immer gerne. Auch das frühe Aufstehen hat mir nichts ausgemacht. Aber als der Bäcker mich eines Tages mit seinem Sohn im Heu erwischt hat, da bin ich rausgeflogen. In der Stadt habe ich dann als Küchenjunge in einem Schnellimbiss gejobbt, durfte später auch als Hilfskoch arbeiten, denn mein Chef hat schnell gesehen, dass ich was vom Kochen verstand und ausgezeichnete Geschmacksnerven hatte. Die Leute mochten meine Sachen.
Mit 22 habe ich Reinhard kennengelernt, der war 25 Jahre älter als ich und hat sich in mich verliebt. Wir hatten eine gute Zeit, haben zusammen ein Bistro in Garmisch eröffnet. Der Laden war in, lief gut in der Szene. Von Reinhard habe ich viel gelernt: Autofahren, Motorradfahren und so Sachen. Wir waren fast 6 Jahre zusammen und dann – bums – ein Verkehrsunfall und Reinhard gab es nicht mehr. Ein vollgedröhnter Porschefahrer hatte ihn totgefahren. Einfach so. Eigentlich hatte er gesagt, er wolle mir das Bistro vermachen, wenn ihm mal was passieren würde. Aber es gab nichts Schriftliches. Wer rechnet denn mit so was? Reinhard war doch erst knapp über 50. Die gierige Verwandtschaft hat sich natürlich alles unter den Nagel gerissen. Das schwule Früchtchen kriegt keinen Penny, haben sie gesagt. Da stand ich wieder – völlig mittellos – auf der Straße, 26 Jahre alt. Ich bin in der Münchener Schwulenszene abgetaucht, habe eine Zeitlang auf dem Strich gearbeitet, war Diskjockey in den einschlägigen Kneipen. Musik mochte ich immer schon.  Habe mir alles selbst beigebracht: Guitarre spielen, Mundharmonika, Schifferklavier. Alles ohne Noten. Mein Traum war immer eine Drehorgel, aber die konnte ich mir nicht leisten.
Ja, und dann kam Josef. Josef aus Augsburg. Wir verstanden uns auf den ersten Blick. Er hatte mich den ganzen Abend angesehen. Als die Disko zumachte, stand er auf der Straße und wartete auf mich. Josef war Besitzer eines Sterne-Restaurants im Alpenvorland, suchte dringend einen Koch. Ich kam für ihn wie gerufen. Wir haben blendend zusammengearbeitet, Josef hat mir das Kochen beigebracht. Ich meine, richtig kochen. Sterne kochen. Ich habe alles von ihm gelernt. Er war auch 20 oder 25 Jahre älter als ich, aber fit und fröhlich. Wir hatten ein gutes Leben. Im Winter machten wir immer wochenlang das Lokal zu. Gingen auf Reisen. Wollten die Welt sehen. Hauten dabei alles Geld auf den Kopf, das wir verdient hatten. Es war wunderbar. Wir waren in Namibia und Südafrika, bereisten Vietnam und Thailand und Laos. Mieteten ein Wohnmobil in Neuseeland. Ich dachte nicht an die Zukunft. Ich war jung, hungrig nach Leben und Abenteuer. Er wollte mich immer absichern, sagte er, er sei so viel älter. Ich sollte das Restaurant weiterführen, wenn ihm was passieren würde. Es fehlte nur noch die Unterschrift des Notars. Ich winkte ab. Wir hatten doch noch so viel Zeit. Wir fuhren nach Südamerika, besichtigten die Maya – Tempel in Guatemala, die Wasserfälle in Iguazú, durchquerten im Jeep die Atacama-Wüste, fuhren im Kanu den Amazonas hinunter. Und dann – warten Sie – ich hole uns noch etwas Tee. Oder etwas Stärkeres? Ein Bier? Einen Schnaps? Nein, Sie seien zu gespannt, sagen Sie. Ich solle weiter erzählen.
Das Ende ist nicht schön. Wir saßen in Rio an einem frühen Abend in einer Strandbar an der Copa Cabana. Sonnenuntergang. Reges Strandleben, fröhliche Menschen um uns herum, Musik. Ich hob gerade das Glas Bier an meine Lippen, da spürte ich etwas Kaltes in meinem Rücken. Ganz ruhig bleiben, sagte eine Stimme. Keep calm! Der Lauf einer Waffe bohrte sich zwischen meine Schulterblätter. Der Räuber wandte sich an die anderen Gäste. Alles Geld auf den Tisch, Portemonnaies, Ausweise, Schmuck ablegen, Ketten, Ohrringe, Uhren. Alles … sonst! Er fuchtelte mit der Pistole. Sonst knall ich den Mann hier ab. Auch wer kein Spanisch konnte, verstand, was er sagte. Die Leute gehorchten, starr, schweigend, voller Angst. Ein zweiter Mann mit schwarzem Kapuzenpullover sammelte Geld und Wertsachen ein. Niemand rührte sich. Und dann geschah das Unbegreifliche. Die Männer wandten sich zum Gehen, doch ehe sie verschwanden, schoss der eine von ihnen meinem neben mir sitzenden Freund in den Kopf. Richtete ihn hin. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Josef hatte nichts getan. Alle seine Sachen abgeliefert wie die anderen auch. Er wurde einfach abgeknallt. Starb in meinen Armen. Wissen Sie jetzt, warum es mir schwerfällt, fröhlich zu gucken? Nicht, weil ich wieder alles verlor. Natürlich bekam ich das Restaurant nicht. Josefs Brüder schmissen mich sofort raus, teilten sich die Beute, wenn man so sagen darf. Ich war wieder allein, hatte meine große Liebe verloren, war mittellos, musste wieder von vorne anfangen.
Ich brauchte lange, um mich zu erholen. Flog nach Madeira, arbeitete als Gärtner, Koch, Verwalter, was immer so gebraucht wurde. Das war die Zeit, als ich das angestaubte Skelett auf dem Jahrmarkt ersteigerte. Ich montierte es auf den Soziussitz meiner alten Harley, die ich aus Deutschland mitgenommen hatte. Mephisto heißt er, mein permanenter Begleiter. Von da an fuhr der Tod immer mit. Ich war bald das bekannteste Fotomotiv in Funchal, die Leute fanden uns geil. Und lachten. Ich lachte auch. Tat zumindest so. Was sagen Sie, vielleicht brauchte ich den Tod als ständigen Begleiter, um überhaupt dem Leben noch etwas abgewinnen zu können? Weiß nicht, klingt mir zu kompliziert. Ich bin kein Seelenklempner.
Langsam ging es wieder aufwärts. Ich bin wohl ein Stehaufmänneken, wie man so sagt. Aber was sollte ich tun? Auf Dauer konnte ich den ewigen Frühling, die überall explodierende Blütenpracht der Paradies-Insel nicht ertragen. Mich widerte der Reichtum der ausländischen Villenbesitzer an. Ich zog zurück nach Deutschland. Ja, sie haben richtig gehört. Ins kalte, nasse Deutschland. Ich suchte und fand meine Zwillingsschwester, die immer noch mit ihrem Mann mit dem kleinen Wanderzirkus durch Deutschland tourte. Sie nahm mich auf und sagte, ich gäbe einen guten Clown ab. Die Kinder würden sich totlachen über mein trauriges Gesicht, da sei sie sicher. Und mehrere Instrumente spielte ich auch. Und nun stehe ich als dummer August in der Manege, schwinge die Peitsche, die sich zum Ergötzen des Publikums immer wieder um meinen Körper wickelt, stolpere durch die Arena und falle über meine viel zu großen Schuhe. Vielleicht waren die Schuhe immer zu groß für mich. Jetzt fang ich an zu philosophieren.
Aber wissen Sie, was ich am liebsten tue? Drehorgel spielen. Eine Drehorgel habe ich mir geleistet, als ich die Harley verkauft habe. Und wenn Sie wollen, spiele ich Ihnen zum Abschied was vor auf der Drehorgel. Kennen Sie das Lied von der »Anneliese«, die ihren Liebsten im Stich gelassen hat, so wie ich immer im Stich gelassen wurde.
Er steht auf, holt die Drehorgel hinter dem Sofa hervor, legte eine Walze ein und schon bald hörte man die klagende Stimme des untröstlichen Liebhabers:

Anneliese, ach Anneliese,
warum bist du böse auf mich?
Anneliese, ach Anneliese,
du weißt doch, ich liebe nur Dich.
Doch ich kann es gar nicht fassen,
Dass du mich hast sitzen lassen,
wo ich mit dem letzten Geld
die Blumen hab für Dich bestellt.
Und weil du nicht bist gekommen,
hab’ ich sie vor Wut genommen,
ihre Köpfe abgerissen
und dann in den Fluss geschmissen.
Anneliese, ach Anneliese,
Du weißt doch, ich liebe nur dich.

 

 

 

 

 

It is Bear Country

 

10. April 2017
Gestern bin ich mit meinem Professor nach Oslo geflogen. Von Bremen aus mit Ryanair. Logo, auch die Uni muss sparen. Aber das Angebot des Alfred-Wegener-Instituts, gemeinsam auf Spitzbergen zu forschen, konnte mein Prof sich nicht entgehen lassen. Und ich habe Luftsprünge gemacht, als er mich fragte, ob ich nicht mitkommen wolle zu der internationalen Forschungsstation nach Ny-Alesund. Wäre sicher gut für meine Master-Arbeit. Und wer weiß, vielleicht springt noch eine Promotion dabei heraus. Atmosphärische Forschung, das genau ist es, wofür ich mich als Biologin interessiere. Ein Forscherteam soll die riesigen Algenteppiche im Nordmeer untersuchen und die Auswirkung des Klimawandels auf die Pflanzen: Chlorophyllgehalt, Pigmente, Antioxydantien. Die Gletscher schmelzen und das ist der Grund, dass das Wasser im Nordmeer immer weniger salzhaltig ist. Die Konsequenzen für Flora und Fauna sind unübersehbar.
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Vierer mit Steuermann

 

 

Trotz der Hitze war die Klimaanlage nicht ausgefallen. Im ICE von Hamburg nach München war es angenehm kühl. Helmut hatte ein Ticket erster Klasse gebucht, setzte sich auf seinen Platz am Fenster, klappte das Tischchen hinunter, legte den Laptop ab, verband ihn mit der eingebauten Stromdose unter dem Sitz. Er lehnter sich zurück, ließ die Hamburger Vororte an sich vorbeiziehen und schaute in den wolkenlosen Himmel. Schade, der perfekte Tag zum Segeln, dachte er. Seine Hallberg Rassy schaukelte schon seit Wochen ungenutzt im Yachthafen vor sich hin. Immer wieder waren ihm, dem Wirtschaftsprüfer einer alteingesessenen Hamburger Consultingfirma, Geschäftstermine dazwischengekommen. Für dieses Wochenende war die verblüffende Einladung aus Starnberg gekommen. Ein Anwaltsbüro in München hatte ihn mit nüchternen Worten von Ulrich Wagners Tod in Kenntnis gesetzt und ihm den letzten Willen des Verstorbenen übermittelt: Die alten Kameraden des siegreichen Vierers mit Steuermann mögen sich vor der Beisetzung der Urne in Ulrich Wagners Haus in Starnberg treffen. Man bitte darum, den Willen des Toten zu respektieren.
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Termessos – Stadt der toten Helden

Der zottelige Hirtenhund kommt auf uns zugesprungen, als wir aus dem Auto steigen. Jung scheint er zu sein und übermütig. Er versucht, an mir hochzuspringen und ich wehre ihn ab und streichele sein struppiges Fell. Hat ihn ein Besucher hier ausgesetzt? Oder hat er die Ziegenherde zurückgelassen oben in den Ruinen von Termessos, um in die Welt der Lebenden zurückzukehren?
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Engel mit gebrochenen Flügeln

Sie hatte sich lange gescheut, davon zu erzählen, hatte sich zu sehr geschämt. Sie, Beate, eine gestandene Frau Anfang 40, Anästhesistin, zwei pubertierende Töchter, allein erziehend. Sie kam ja auch gut klar, war praktisch und kontaktfreudig, hatte einen großen Bekannten- und Freundeskreis. Wenn nur diese nagende Sehnsucht nicht gewesen wäre, diese Hoffnung, es könnte doch noch klappen mit einer harmonischen Partnerschaft, vielleicht sogar mit einer leidenschaftlichen Liebesaffäre.
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Teachers` Outing

She was hopeless at reading maps. Utterly hopeless. Maybe that was one of the reasons why her husband divorced her. He just couldn’t stand her looking at a map upside down figuring out where they were. He started to yell, she started to cry. Same procedure every year.
But she was not completely stupid. As a matter of fact she was pretty good at organizing things. For example, the yearly outing of her colleagues at school. The other teachers liked her ideas. And when she proposed at the end of the summer term to hire a fishing boat to take them to the seals banks in the North Sea, they enthusiastically accepted. The school being only an
hour’s drive away from Fedderwardersiel, a small fishing village where the boat would set off at 10 o‘ clock in the morning.
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