Glück

Sie liegt im weißen Krankenhausbett, schaut in Richtung Fenster, sieht einzelne Sterne am Himmel, einen runden Mond. Draußen fährt ein Bus an, ein Motorrad knattert vorbei.  Ihr Kopf ist weit und hell, der Atem schnell und leicht. Sie möchte jubeln, tanzen, singen,  Wogen von Glück und Liebe rollen über ihren Körper. Doch sie hat kein Einzelzimmer, und die Nachbarin will sie nicht aufwecken. Dopamin sei zuständig für Glückszustände, hat sie gelesen. Ihr Gehirn scheint von Dopamin überschwemmt zu sein.  Dabei ist das Baby gar nicht bei ihr. Sie solle sich ausruhen, hat die freundliche Krankenschwester gesagt. Sich erholen von der Anstrengung. Dabei will sie sich gar nicht erholen. Natürlich zieht es noch ein bisschen im Bauch, und der Riss und die Stelle, an der sie genäht worden ist, schmerzt, wenn sie sich bewegt. Doch was macht das schon im Vergleich zu dem Moment, als die Hebamme ihr das schreiende, nackte Bündel zeigte. »Es ist ein Junge!«
Nicht, dass sie sich nicht über eine Tochter gefreut hätte. Hauptsache, gesund, wie oft hatte sie das in den langen Monaten vor sich hingesagt. Hauptsache, gesund. Und das Baby ist gesund, ein gesunder kräftiger Junge. Am späten Vormittag war dieFruchtblase geplatzt, bei einem Spaziergang ganz allein in den Feldern. Zum Glück war es nicht weit bis nach Hause, sie hatte das Krankenhaus angerufen, einen Krankenwagen angefordert.  Im Liegen transportieren, hatte der Ratgeber geschrieben. Die Nabelschnur könne sich um den Hals wickeln, wenn das Fruchtwasser auslaufe. Sie las sowieso zu viel, was alles passieren konnte unter der Geburt. Grässlich. Bitte, kein behindertes Kind, hatte sie gebetet zu einem Gott, an den sie nicht glaubte, bitte, kein behindertes Kind.
Sie war natürlich viel zu früh im Krankenhaus. Der Muttermund sei so gut wie gar nicht geöffnet, hatte der Arzt gesagt. Eine Krankenschwester hatte sie auf ihr Zimmer gebracht. »Rumlaufen geht nicht bei einer geplatzten Fruchtblase. Wir spritzen ein wehenförderndes Mittel.«
Die Wehen hatten wieder aufgehört. Sie wartete. Machte sich Sorgen. Ihr Mann kam erst nachmittags. »Wir haben noch viel Zeit«, sagte die Hebamme.
Feierabend im Krankenhaus. Schichtwechsel.
»Wir machen das morgen.« Der Oberarzt hatte noch kurz nach ihr gesehen. Wir geben Ihnen für heute Nacht ein wehenhemmendes Mittel. Sie können schlafen und morgen geht es los – mit frischen Kräften. Alles bestens.«
Das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Trotz der wehenhemmenden Medikamente wurden die Schmerzen stärker, die Abstände kürzer.  Sie rief die Schwester. Die zuckte die Achseln. Bei Vollmond würden auch die meisten Kälber geboren,  sagte sie. Sie schaute aus dem Fenster. Der Mond groß und gelb. Lassen sich Babys aufhalten durch Medikamente? Die Wehen kamen und gingen. Wurden stärker. Gegen Mitternacht klingelte sie.
Wir rufen den Oberarzt, sagte die Krankenschwester. Sie wurde in den Kreißsaal geschoben. Der Arzt kam mit zerknittertem Gesicht und strubbeligen Haaren. Infusion, diesmal wehenverstärkende Mittel.  Eine Wehe jagte die nächste. Sie hatte keine Zeit mehr, sich zu erholen. Es tat weh. Sehr weh. Sie bettelte um eine Spinalanästhesie.
Zu spät, sagte der Arzt. »Sie wollten doch keine Betäubung!« Ihr Mann hielt ihre Hände. Bei jeder Wehe krampfte sie sich an ihm fest.
»Nie mehr ein Kind«, schrie sie. »Nie mehr«. Endlich die Presswehen.
»Hecheln«, sagte die Hebamme. »Hecheln! Und jetzt pressen! Pressen!«
»Ich will nicht mehr«, jammerte sie. «Ich halte das nicht  aus.«
Dann der erlösende Moment, als das Kind herausrutschte.
»Ein Junge«, sagte die Hebamme und hob ihn an den Beinen hoch. »Alles dran.«
Er wimmerte. Hing ein bisschen schlaff nach unten. Dann wurde alles schwarz, als der Arzt den Riss nähte.

Seitdem hat sie das Baby nicht mehr gesehen. Ihren Sohn. Ihr erstes Kind.
Sie ist aufgewacht in diesem weißen, sterilen Bett. Und ist glücklich. So berauscht von Glück wie noch nie in ihrem Leben. Was hatte man ihr bei ihrer ersten gynäkologischen Untersuchung gesagt? Sie könne keine Kinder bekommen. Ihre Gebärmutter seit zu klein. Idioten! Sie ist jetzt Mutter. Mutter eines Sohnes. Dieses Kind wird sie mehr lieben als alles andere auf der Welt, das weiß sie.
»Ich hoffe, Sie haben sich nicht zu sehr erschreckt«, sagt der Kinderarzt und tritt zu ihr ans Bett.
»Wieso erschreckt?«, fragt sie.
»Ach, Sie haben den Kleinen noch nicht gesehen?«
»Wieso?« Angst drückte ihr den Brustkorb zusammen.
»Eine Geburtsgeschwulst am Kopf. Keine Sorge. Die entwickelt sich zurück. Meistens wenigstens.«
»Ich will meinen Sohn sehen«, sagt sie. Ihre Kehle verengt sich. Tränen steigen ihr in die Augen. »Jetzt sofort!«


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