Mülltrennung

»Wo sind die Hausunterlagen?«, fragte Eberhard und räumte Aktenordner vom Wandschrank auf den Tisch. Stefanie zuckte zusammen. Um Gottes willen, sie hatte die letzten Tage damit verbracht, einmal gründlich aufzuräumen. Säckeweise hatte sie den Müll zum Recyclinghof gekarrt. Erst heute Morgen noch den Kombi voll mit Papier und Pappkartons geladen. Alte, hässliche Ordner waren auch dabei. Sollte sie aus Versehen? Sie wischte den Gedanken beiseite.
»Im Eckschrank. Vielleicht ist die Mappe nach hinten gerutscht.«
Hoffentlich, dachte sie und ging erst einmal aus dem Zimmer.
»Verdammt, sie ist nicht da«, hörte sie Eberhard schimpfen. »Wo sind die verdammten Unterlagen. Stefanie, hast du vielleicht beim Aufräumen…?«
»Nein, nein, bestimmt nicht.« Das hätte sie doch gemerkt. Oder nicht?
Stefanie krempelte die Blusenärmel hoch und wischte sich mit dem schmutzigen Handrücken über die Stirn. Seit einem Monat wohnten sie bereits in Berlin, aber in ihrem neuen Haus sah es immer noch aus wie bei Hempels. Die Zimmer waren zwar notdürftig eingerichtet, die Kinder hatten ihre Schreibtische und konnten ihre Schulaufgaben machen, die Betten waren aufgebaut, aber der Wust an unausgepackten Kisten nahm kein Ende. Zum Glück musste sie erst im neuen Jahr die Stelle als Sachbearbeiterin im Auswärtigen Amt antreten. Eberhard war bereits voll im Stress, die Kinder noch in der Schule, aber sie plagte sich mit diesen verdammten Kisten herum. Eberhard konnte einfach nichts wegwerfen. Nicht nur, dass er den bunten Bauernschrank, den sein Großvater bemalt hatte, überall mit hinschleppte. Auch von dem Rest des folkloristischen Ensembles, der Wickelkommode und der großen Holzwiege konnte er sich nicht trennen, dabei stand ein neues Baby absolut außerhalb jeder Diskussion. Leider war auch seine Garderobe ins Unermessliche gewachsen, wobei erschwerend hinzukam, dass ihm die meisten Hemden, Hosen und Jacketts nicht mehr passten. Sie waren  beide Anfang 40, und besonders Eberhard hatte an Umfang ordentlich zugelegt. Die vielen offiziellen Einladungen waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Trotzdem gab er sich der Illusion hin, zurück in Deutschland würde er abnehmen, und dann würden ihm die Sachen wieder passen. Doch diesmal, so hatte sich Stefanie geschworen, diesmal würde sie unnachgiebig sein. Sie würde die Umzugskartons nutzen, um alles Überflüssige auszusortieren und dann den ganzen Kram eigenhändig zum Müll fahren. Sieben Kisten hatte sie bereits zum Roten Kreuz gebracht, vier zum Recyclinghof.
»Hast du auch Papier und Pappe entsorgt?«, Eberhards Stimme klang besorgt. »Der Hausordner ist nicht zu finden.«
»Nur alte Zeitungen und Kartons und alte Krimis, die keiner mehr liest. Und ein paar alte Aktenordner mit Referaten aus meiner Unizeit. Total überholt.«
»Was?« Eberhard stand in der Küche. »Wann hast du die letzte Fuhre weggebracht?«
»Heute Morgen. Aber sicher nicht die Mappe mit den Papieren für den Umbau. Das hätte ich doch gesehen.«
»Komm mit«. Eberhards Stimme wurde hektisch. »Wir fahren zum Müllplatz. Der macht gleich zu.«
So rasant hatte Eberhard noch nie die Kurven genommen. Stefanie krallte sich am Sitz fest, hielt aber den Mund. Schon wieder eine rote Ampel. Er stöhnte auf. Stopp und Go. Mit quietschenden Reifen bogen sie in den Recyclinghof ein. Vor ihnen aufgereiht die großen Container, davor parkende Autos. Männer schleppten Säcke mit Gartenabfällen die Rampe hoch, kippten Blätter und geschreddertes Buschwerk in die dafür vorgesehenen Behälter.
»Welcher Container war es?«
»Ich glaube, der…«, Stefanie zeigte auf einen der riesigen Metallungetüme.
»Glaubst du oder weißt du?«
»Ich glaube. Nein, ich bin sicher. Ziemlich sicher.«
Meine Güte, so aufgebracht hatte sie Eberhard selten erlebt. Er sprang aus dem Auto, eilte die steile Treppe zum Containerrand. Er musste warten, bis ein Mann seine Körbe und Kisten mit Papier ausgeleert hatte.
Stefanie war zögernd nachgestiegen. Gottseidank, der Container war erst halbvoll.
»Und jetzt?«, fragte sie.
»Wie? Und jetzt?«. Beherzt flankte Eberhard in den Container. Die Frau hinter ihnen starrte.
»Was macht ihr Mann denn da?«
»Sucht was«, murmelte Stefanie. Hoffentlich fand er den Ordner.
Er fand ihn nicht.


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One Response to “Mülltrennung”

  1. Gravatar of Wilma Diacont Wilma Diacont
    20. Juli 2015 at 16:49

    Hallo Anne!
    Diese „Müllgeschichte“ finde ich sehr gut! Könnte mir passieren..!!
    Grimselpass ist nicht so mein Ding..!

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