Archive for the Category Impressionen

 
 

Campingnachbarn

 

Es ist mir schon gestern aufgefallen, das ältere Ehepaar in der Holzhütte neben uns. Sie grüßten freundlich, als wir kurz nach unserer Ankunft an ihrer Terrasse in Badezeug vorbeischlenderten, um uns nach der langen Fahrt noch in den See zu stürzen.

Auch wir hoben die Hand zum Gruß, murmelten „Guten Abend“. Welch nette Nachbarn, dachte ich,  denn das kennen wir auch ganz anders.  Leute, die stur vor sich hinstarren, kaum den Kopf heben, sich von der Umwelt abschotten. Nicht so unsere Nachbarn. Ein älteres Paar – vielleicht so alt wie wir – scheint seine Umwelt noch wahrzunehmen, ist wohl an einem entspannten nachbarschaftlichen Kontakt interessiert.

Als wir pudelnass und ein wenig frierend zu unserer Hütte kamen, saß nur noch die Frau draußen am Tisch. Sie hatte sich schick gemacht. Ein langes buntes Kleid angezogen, die blond gefärbten, dauergewellten Locken mit einer rosa Spange nach hinten geklammert. Ihr Mann schien hineingegangen zu sein. Wir hörten die Stimme des Nachrichtensprechers. Bläuliches Licht schimmerte durch das Fenster.

„Mein Mann verpasst keine Nachrichtensendung“, erklärte sie uns ungefragt. „Er braucht das!“ Wir nickten freundlich, wünschten ihr noch einen schönen Abend und zogen weiter, uns wurde kalt in den nassen Sachen.

Am nächsten Morgen sahen wir den Mann etwas unbeholfen die Holzstufen vor der Hütte hinunterklettern, sich eher krampfhaft am Gelände festhaltend, aber in tadellosem Radrennfahrer-Outfit: enganliegende glänzend schwarze Radlerhosen, knallgelbes Shirt mit schrägen schwarzen Streifen, Klickpedalen. Vielleicht geht er deshalb so unbeholfen, überlegte ich. Ganz schön mutig, sich in seinem Alter in die Pedalen einzuklicken. Hoffentlich bekommt er in gefährlichen Situationen auch schnell die Füße wieder frei, sonst ist ein Sturz vorprogrammiert. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich an einer roten Ampel anhalten musste, habe ich genau das nicht geschafft, nämlich einen Fuß zur Seite zu drehen, um mich mindestens von einer der beiden Pedalen zu befreien. Ich konnte nur noch schnell den Ampelmast umarmen und bin samt Rad auf den Boden gerutscht, glücklicherweise ohne mich zu verletzen. Der junge Mann neben mir guckte erst ganz erschrocken, schmunzelte aber dann und sagte „Glück gehabt!“ Wahrscheinlich hat er gedacht, die Alte macht auf jung. Aber vielleicht ist sie noch lernfähig und lässt ab jetzt den Klickpedal-Unsinn. Ich war lernfähig und schenkte die Klickpedalen meiner Tochter.

Aber vielleicht hat der Mann keine Tochter, dachte ich, als ich sah, wie er zu seinem super-geilen Mountainbike humpelte, den Schutzbezug abzog, das Rad herumschwenkte und es auf den mit hellem Kies bedeckten Weg schob. Dann stellte er sich mit dem linken Bein auf die Pedale, stieß sich mit dem rechten Fuß ab, schwang das Bein  über den Sattel – nein, er blieb nicht hängen – und klickte sich mit beiden Schuhe in die Pedalen. Souverän glitt er über dem rutschigen Kies an der Hütte vorbei.

„Ewald, dein Helm!“, rief die Frau und hielt den gelben Helm über die Brüstung der Terrasse. Ewald stoppte rutschend ab, nahm der Frau wortlos den Helm aus der Hand, stülpte ihn über und klickte sich wieder ein.
„Fahr vorsichtig!“, rief sie noch, aber das hörte er wohl nicht mehr. Er sauste davon, ohne sich umzudrehen. Der Kies spritzte rechts und links zur Seite.

„Mein Mann ist so unvorsichtig!“, sagte sie entschuldigend zu mir. „Dabei ist er bald achtzig. Ich habe solche Angst, dass er stürzt da oben in den Bergen. Aber er hört ja nicht auf mich. Früher bin ich ja mitgefahren und habe auf ihn aufgepasst. Aber nach meiner zweiten Hüftoperation kann ich das nicht mehr.“ Und tatsächlich sah ich erst jetzt den Rollator auf der Terrasse.

„Wir kommen aus dem Ruhrgebiet“, erzählte sie ungefragt. „Jedes Jahr kommen wir zum Levico-See. Ewald will hier Rad fahren. Das habe ich früher auch gemacht. Ihm immer hinterher. Aber nun …“ – sie weist auf den Rollator – „kann ich keinen Schritt mehr ohne dieses blöde Ding machen.“

Und du sitzt hier nur rum, habe ich gedacht. Und du hast niemanden, mit dem du reden kannst. Und ich bin nun das Opfer.
„Ich will noch zum See. Baden im Sonnenschein, das ist vor dem Frühstück ein Genuss“, sagte ich.

„Das habe ich früher auch gemacht“, sagte sie. „Ja, ja, das waren noch Zeiten!“ Sie seufzte.

„Bis gleich“, sagte ich und ging schnell Richtung Strand. Da habe ich mir ja was eingebrockt! Altenbetreuung, weil der Ehemann sich dünne macht. Sei nicht so gemein, schalt ich mich. Die arme Frau.

Als ich nass und leicht frierend zurückkam, stand sie am Geländer und wartete offensichtlich auf meine Rückkehr.

„War`s schön?“, fragte sie. „Nicht zu kalt?“

„Doch, ziemlich kühl“, sagte ich schnell. „Ich muss mir dringend trockene Sachen anziehen.“

„Früher bin ich auch jeden Morgen schwimmen gegangen. Ich war sehr sportlich.“

Die Augen in ihrem breiten, etwas teigigen Gesicht leuchteten. „Auch bei den Radtouren konnte ich mithalten. Später haben wir uns dann e-Bikes gekauft. Meins habe ich letztes Jahr verkauft. Nach der OP konnte ich das rechte Bein nicht mehr über den Sattel heben. Da hat man im Krankenhaus was verpfuscht.“

„Über die Stange komme ich auch nicht mehr“, sagte ich schnell. „Muss man in unserem Alter auch nicht. Es gibt Easy-bikes mit tiefem Einstieg. Absolut unsportlich, ich weiß, aber praktisch.“

„Ja, wissen Sie, ich war immer ein aktiver Mensch. Habe in Nürnberg den Erfinder-Markt organisiert. Ganz allein. Aber daran denkt heute keiner mehr. Ja, ja, Undank ist der Welten Lohn. “

Nicht das noch, dachte ich. Bitte nicht die ganze Lebensgeschichte.

„Unsere Tochter ist in den USA ausgewandert.“

Wahrscheinlich geflohen vor so viel Gejammer, fiel mir dazu ein, nickte aber nur. Ich wollte weiter, fing ernsthaft an zu frieren und sehnte mich nach einer heißen Tasse Kaffee.

„Ich muss weiter“ sagte ich und bemühte mich, meiner Stimme einen höflichen Ton zu geben. „Mein Mann wartet mit dem Frühstück.“ Ich wedelte kurz mit der Hand.

„Ach, entschuldigen Sie“, sagte die Frau. „Ich erzähle Ihnen bei nächster Gelegenheit mehr. Ich habe so ein interessantes Leben geführt.“

Um Gottes willen, dachte ich. Nur das nicht! Ich machte, dass ich wegkam.

 

Stunden später kam der Ehemann zurück, lehnte sein Mountainbike an die Seitenwand des Holzhauses. Mit einer überdimensionalen langen Kette schloss er das Gerät sorgfältig an das umlaufende Geländer. Seine Frau saß immer noch an derselben Stelle auf der Terrasse und schaute auf die vorbeigehenden Passanten. Kein Buch, keine Illustrierte. Nichts. Sie musste doch vor Langeweile umkommen, dachte ich. Der Mann war ins Haus gegangen, hatte seine Badehose angezogen, sich ein großes Handtuch geschnappt, einen Klappstuhl unter den Arm geklemmt und ging humpelnd, aber zügig Richtung Badewiese. Wieder blieb sie allein zurück und schaute ihm mit ihren blauen, etwas hervorstehenden Augen nach. Sie hatten nur wenige Worte gewechselt. Irgendwie tat sie mir leid.

Von da an grüßte ich freundlich, winkte auch kurz, ging aber im Laufschritt an ihr vorbei zum Schwimmen. Wenn ich abends verstohlen hinüberguckte, saßen beide regungslos auf der Terrasse, die Gesichter abgewendet. Er könnte doch wenigstens mit ihr im Campingrestaurant essen gehen, dachte ich. Dann sah ich ihn in die Hütte gehen, und bald darauf hörte ich die hysterische Stimme eines Sportreporters Fußballspiel kommentieren.

 

 

Der Schwimmer

Er kam in Schlappen zum See Der alternde Körper braungebrannt, nur die hellen Fußsohlen hoben sich vom feuchten Sand ab, wenn er die Zehen aufsetzte. Nein, elegant war sein Gang nicht. Nichts Federndes, Hüpfendes, eher ein müdes, unwilliges Schlendern zum Rand des Badesees.

Er erreichte den schaumigen Saum des Wassers, prüfte mit den Zehen die Wassertemperatur , zog den Fuß zurück. Umständlich klaubte eine hellblaue Bademütze er aus der Umhängetasche, die genau zum Hellblau seiner bis an die Knie reichenden Badehose passte. Er zerrte die Gummimütze über seinen kahlen Schädel, fummelte eine Schwimmbrille aus der Hosentasche, deren Ränder weiß waren wie die Streifen auf seiner Badehose, schob die Brille über die Mütze und reckte seine braunen muskulösen Arme angewinkelt über den Kopf. Seine Schultern dehnten sich, die Muskeln auf seinem Rücken tanzten auf und nieder. Nein, er war durchaus nicht unattraktiv, der alte Mann. Sein Körper bewegte sich ein paar Schritte weiter ins Wasser, bis das kühle Nass den Nabel seines leicht hervorstehenden Bauches berührte. Er zitterte ein wenig, schaufelte dann mit der rechten Hand ein wenig Wasser über den rechten Arm, wiederholte die Prozedur mit der linken Hand, hob beide Arme hoch, winkelte sie an und sprang unvermittelt in die Höhe, um dann – mit dem Kopf zuerst – unterzutauchen. Er kam wieder hoch und machte ein paar perfekte Delfin- Schläge Richtung Strand, richtete seinen Körper wieder auf und begann, in Richtung Ufer zu waten.

War das schon alles, dachte ich erstaunt. Die Augen fast aller Sonnenanbeter am Ufer waren auf den Schwimmer gerichtet. Kurz bevor der Mann seine Füße wieder auf den trockenen Sand setzte, machte er eine Kehrtwendung und wiederholt die Bewegungsabfolge von vorhin. Arme hoch, Arme anwinkeln, Arme ins Wasser tauchen und wieder sprang er hoch und ließ sich wie in einem Hechtsprung mit dem Kopf voran ins Wasser gleiten, taauchte unter, kam wieder hoch und warf beide Arme nach vorne, während seine Beine und Füße mit einen perfekten Delphinschlag ins Wasser tauchten und er nach ein paar Schlägen eine beachtliche Geschwindigkeit erreichte, mit der er auf das zwei Kilometer entfernte Ufer zuschwamm.

Donnerwetter, dachte ich. Was für eine Performance war das denn? Ein alternder Olympia-Schwimmer, der noch einmal die Augen aller Zuschauer auf sich ruhen lassen wolltel? Oder war der alte Mann so in sein Tun versunken, dass er die anerkennenden Blicke der Strandleute nicht bemerkte? Vielleicht wollte er auch nur seine Kraft genießen, die Geschwindigkeit spüren, mit der er einst durch das Wasser gepflügt war. Oder was es doch nur die Show eines sich noch einmal aufbäumenden Körpers, dem man soviel Anmut nicht zugetraut hätte? Ich verlor den Schwimmer aus den Augen, bevor er das andere Ufer erreichte. Wer war das? Der Wassergott Neptun, der angesichts eines im Sturm sinkenden Schiffes sein Zepter schwingt und lacht. Oder der auf dem Wasser wandelnde Jesus, der seinen vor Entsetzen schreienden Jüngern zuruft: „Fürchtet euch nicht?“
Der Schwimmer ist nicht zurück an unseren Strand zurückgekehrt. Schade, ich hätte ihn gern angesprochen.  Aber wahrscheinlich hätte ich mich dann doch nicht getraut. Die geballte Kraft seines Körpers, die Grazie seiner Bewegungen strahlten eine Konzentration und fast mythische Spiritualität aus, die Respekt und stille Anerkennung verlangten.

Am Strand von Gelting

 

Wir hocken am Strand auf dem leicht erhöhten hölzernen Strandweg Bretterweg am Rand der Dünen, schauen auf das in der Sonne glitzernde Wasser, in das sich ein paar kälteunempfindliche Schwimmer wagen, beobachten die fröhlichen Kinder, die sich im Sand und in warmen Pfützen suhlen, und versuchen, uns am Dünenrand unauffälligunserer Hosen und Jacken  zu entledigen und in die Badesachen zu schlüpfen. Da die Öffnungen der Strandkörbe all Richtung Meer und Sonne zeigen, gelingt uns die Umziehakrobatik  ganz gut,  wenn auch mit viel Köperakrobatik. Die Jüngsten sind wir ja nun auch nicht mehr, die Beweglichkeit hat dramatisch nachgelassen. Doch wir fallen nicht um, ziehen nicht aus Versehen die Badesachen falsch herum an, vertüddeln die Badetücher nicht in ein unentwirrbares Knäuel. Keiner der Strandgäste wird auf unsere Verrenkungen aufmerksam. Hoffen wir zumindest.

Plötzlich Frauenstimmen hinter uns. Hinter uns?? Tatsächlich. Zwischen Düne und Holzsteg ist noch ein Sandstreifen frei, auf den zwei Frauen einen Strandstuhl und einen Sonnenschirm schleppen. Eine alte Dame mit Rollator steht hilflos und verlegen dabei, bedankt sich pausenlos. Man sieht ihr an, wie gerne sie versuchen würde, ihren Klappstuhl selbst auseinanderzufalten und sich hinzusetzen.
„Vielen, vielen Dank“, sagt sie zu der blonden, jüngeren Frau gewandt. „Ich bin Ihnen so dankbar. Aber bitte machen Sie sich nicht noch mehr Mühe“, wehrt sie ab, als die Blonde versucht, den Sonnenstuhl noch ein wenig weiter nach außen zu bugsieren.
„Ich tue das doch gerne, wirklich!“, flötet die Angesprochene. “Ich freue mich immer so sehr, wenn ich helfen kann. Wissen Sie was, ich werde erst einmal Probe sitzen. Nur so können wir herausfinden, ob der Stuhl richtig steht. Wir wollen ja nicht, dass Sie mit ihm umfallen.“
Nee, denke ich. Das wär wirklich nicht wünschenswert. Aber nun lass doch die Frau endlich mal mit deinem süßlichen Gefasel in Ruhe, du Florence – Nightingale – Imitat. Die Frau ist alt und gehbehindert, aber doch nicht meschugge. Die Hilfe ist ihr unangenehm, siehst du das denn nicht? Nun geh schon endlich!

Florence Nightingale geht nicht. Sie sitzt Probe. Ist unzufrieden. Sie schiebt den Strandstuhl nach rechts, sie schiebt ihn nach links.
„So könnte es gehen“, sagt sie schließlich und schaut triumphierend zu ihrer Begleiterin, die bisher noch kein Wort gesagt hat und nun nickt.
„So ist es gut, gell?“ Wieder die säuselnde Stimme der Blonden. „Warten Sie, ich helfe Ihnen, sich hinzusetzen.“
Die alte Dame sitzt, bevor die selbsternannte Samariterin zugreifen kann.
„Na, na, das hätte auch schief gehen können. Nicht so hastig, alles mit der Ruhe“, sagt meine Therapeutin immer. „In der Ruhe liegt die Kraft!“
„Danke!“, sagt die alte Dame noch einmal. „Das war wirklich nett von Ihnen.“
„Sie müssen lernen, sich helfen zu lassen.“ Die Blonde ist nicht zu stoppen. „Ich weiß, das ist schwer. Aber geben Sie Ihren Mitmenschen doch eine Chance, gut zu Ihnen zu sein. Jeden Tag eine gute Tat, das gilt nicht nur für die Pfadfinder.“ Glockenhelles Lachen, dann tätschelt sie den Arm der alten Frau. „Wissen Sie, ich liebe es zu helfen. Nur dann fühle ich mich ganz.“
Die alte Dame schließt die Augen, nickt resigniert.
„So ist es richtig, meine Liebe. Ruhen Sie sich aus. Ich mache jetzt einen kleinen Spaziergang am Meer entlang, und dann hole ich Sie wieder ab.“
Die zweite Frau hievt ihre Tasche über die Schulter und macht Anstalten, der Samariterin zu folgen.
„Nein“, sagt diese und ihre Stimme wird eine Nuance heller und schriller. „Ich gehe allein. Am Strand muss ich einfach allein sein, um ganz bei mir zu sein. Um mich zu spüren. Da stört jede Begleitung. Jedes Gespräch. Jedes Wort ist zu viel. Nichts für ungut, aber beim Rauschen der Wellen muss ich in mich hineinhorchen, um zu erfahren, wer ich bin. Da stört jeder Mensch neben mir, jedes Wort aus fremdem Mund. Da bin ich ganz eins mit meinem Therapeuten. Ich bin da ganz rigoros sein. Wenn ich wieder das Bedürfnis habe, mich mit Ihnen zu unterhalten, sage ich es Ihnen. Aber jetzt müssen Sie mich gehen lassen. Ein Spaziergang am Strand, das ist Therapie pur. Wir sehen uns heute Abend beim Yoga.“
Sie winkt kurz mit der Hand und entschwindet. Nein, nicht ganz. Sie kommt ein paar Schritte zurück und flötet: „Sie kümmern sich doch jetzt sicher um die alte Dame. Sie werden sehen, wie befreiend es ist, gut zu sein und einem bedürftigen Mitmenschen zu helfen. Nur so finden wir zu uns selbst. Sehen Sie mich an!“ Mit diesen Worten schwebt sie von dannen Richtung Meer.
Völlig erstarrt steht die andere Frau neben dem Sonnenstuhl der alten Dame. Und geht dann schnellen Schrittes in die andere Richtung.

 

 

 

 

 

 

Flanieren in Corona – Zeiten

Die Weihnachtstage sind vorbei, der Kühlschrank ist leer. Wir wollen zum Vegesacker Grünmarkt. Ok, nicht die ganze Strecke flanieren, sondern wir nehmen die Ebikes – Gott sei dank sind die Akkus aufgeladen! – und lassen uns die Lesumstraße bis zum Fluss hinunterrollen. Es ist kalt und grau. Böiger Westwind bläst uns heftig ins Gesicht. Es riecht nach Meer. Kreischende Möwen im Sturzflug. Ich friere.
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Costa Caparica

Über die Brücke, natürlich über die Brücke, Salazar-Brücke, nein, natürlich nicht, Brücke des 25. April, Beginn der Revolution, Grandola, Villa Morena, José Afonsos Lied frühmorgens  im Radio,  das Lied als Start für den des Aufstand der Offiziere, Aufbruch in eine neue Zeit,  Nelkenrevolution, unblutig, natürlich, daran ist auch Werner Herzog gescheitert mit seinem Projekt, ein Film über die portugiesische Revolution zu drehen, aber wie kriegt ein Regisseur seine portugiesischen Komparsen dazu, aggressiv zu handeln? Ins Auto setzen, das wäre die einzige Lösung gewesen, erst dann erwacht das Tier im portugiesischen Mann, hat trotzdem geklappt mit der Revolution, trotz »Vive Salazar«- Slogans, die noch lange an den Mauern der Residenzen der portugiesischen Oberschicht zu sehen waren, Diktator weggejagt, Großgrundbesitzer enteignet, Kooperativen im Alentejo, Gerechtigkeit, Brot und Wein für alle, die goldene Zukunft, das Paradies auf Erden, heute in der Algarve der Blick auf die Hotelanlagen ausländischer Investoren.
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Stille Tage am See

Die Zeit steht still. Noch ist es schwierig, die Hektik und Aufregung der letzten Tage zu verdrängen. Der Lärm Lissabons schrillt noch in den Ohren: rasende Taxis, hupende Autos, bimmelnde Straßenbahnen, die Motoren startender und landender Flugzeuge im Minutentakt über den Dächern.
Und hier am See, kilometerweit entfernt von jeder menschlichen Behausung: Stille. Absolute Stille.
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Ist das alles, was du zu sagen hast?

Cindy Sherman Collection – Weserburg
Bremen 19.5.18 – 24.2.19

Ein Mann läuft durch einen parkähnlichen Garten. Herbstlaub, braune Blätter auf abgeknickten grünen Sträuchern. Die schwarze Erde aufgerissen. Eine Gestalt auf dem Boden – halb Frau, halb Puppe. Der Mann bleibt abrupt stehen, starrt auf die Figur zu seinen Füßen.

Er: Großer Gott, Frau, bist du jetzt völlig übergeschnappt? Was treibst du da? Wenn dich einer so sehen würde.

Sie: Ist das deine größte Sorge? Dass mich jemand sehen könnte? Einer unserer spießigen Nachbarn?

Er: Hast du Drogen genommen oder was? Was soll das? Und dann dieser abartige Plastikarsch!

Er hebt das überdimensionale Hinterteil hoch. Die Beine schlackern nach unten. Angeekelt wirft er das Teil wieder auf den Boden.
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Der Strand von Trafalgar

 

Prohibido El Consumo De Drogas

Sarah treibt auf dem silbernen Strahl bäuchlings Richtung Strand, bleibt im Flachen liegen, den Kopf leicht angehoben, das Kinn auf die Fäuste gestützt. Wellen rollen über sie hinweg, Wasser wie kühle Seide, die Formulierung gefällt ihr. Wo hat sie diese Worte gelesen?
Der Silberstreif der Sonne läuft direkt auf den Leuchtturm zu, wiegt sich auf der grün-blau changierenden Oberfläche, überschlägt sich mit den munter rippelnden Wellen, kriecht als helles Band über dem Sand hoch hinauf auf die Düne und lässt den weißen Turm mit dem gläsernen Lampenhaus im Licht des späten Nachmittags aufglühen.
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Landeanflug

Der Sinkflug durch die Wolken ist lang und ruckelig. Die beiden Flugbegleiter an Bord der Boeing 737 haben die letzten Kaffeebecher weggeräumt, den letzten Müll entsorgt. Die Passagiere hängen angeschnallt in ihren Sitzen und versuchen, durch die trüben Scheiben der Bullaugen das Neuenlander Feld, den schlängelnden Lauf der Weser, ein Stück Landebahn zu erkennen. Schlechte Sicht und Nieselregen hat der Copilot angesagt, also das typische Bremer Wetter, das die Gemüter aller eingefleischten Bremer Bürger aufhellt und ein Lächeln auf ihre Gesichter zaubert.
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Über den Dächern von Istanbul

»Da hinten,  ganz am Rand der Terrasse in der Ecke, da ist noch ein Tisch frei. Schnell, ehe er besetzt ist!«

Ich schubse meinen Mann in die angegebene Richtung. Doch bevor wir unser Ziel erreichen, ist ein Pärchen vom Nebentisch aufgestanden, um den Platz zu erobern. Und wieder passiert etwas, das uns in unseren Istanbul-Tagen immer wieder sprachlos macht. Wir treffen auf eine überwältigende Gastfreundlichkeit. Der junge Mann sieht uns kommen, spricht ein paar Worte zu seiner Begleiterin, verbeugt sich höflich und weist mit der Hand auf den Tisch. »For you!« Wir wollen ablehnen, die Situation ist uns peinlich. Aber keine Chance, das Paar hat schon wieder an seinem alten Tisch Platz genommen. Wir bedanken uns. »Cok tesekkür ederim!« Gut, dass wir wenigstens ein paar Brocken Türkisch gelernt haben. Wir können sie gut gebrauchen. Immer wieder. Das junge Paar lächelt uns an.
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