Am Fähranleger

Was? Ich presse das Smartphone ans Ohr. Ich solle sofort zur Vegesacker Fähre kommen. Ein Mann halte Marina eine Revolver an den Kopf.
»Sagen, gestohlen sie hat«, sagt Viktor in gebrochenem Deutsch. »Lüge! Marina nicht stehlen.«
Ich nehme die Autoschlüssel vom Haken, rase zum Fähranleger.
Du wichtigtuerischer Idiot, beschimpfe ich mich unterwegs. Was machst du da?
Hoffentlich hat jemand die Polizei benachrichtigt. Ich habe mich doch nur bereit erklärt, dieses bosnische Ehepaar bei Behördengängen zu betreuen, mehr nicht. Ich kann aus linken Studentenzeiten ganz gut serbisch-kroatisch, als ein Praktikum im alten Jugoslawien zum guten Ton gehörte.
Mit quietschenden Reifen rase ich los, stoppe jedoch ab, als ich auf dem Parkplatz vor Netto einen Streifenwagen sehe, deren Besatzung sich einen Kaffee gönnt. Ich klopfe an die Scheibe, schildere kurz die Situation.
„Wir kommen“, sagt die junge Frau am Steuer, greift auf den Rücksitz, zerrt Westen nach vorn „Die legen wir noch an. Wir folgen ihnen sofort.“
Kugelsichere Westen, denke ich. Deren Job möchte ich auch nicht haben. Wenn sie Pech haben, geraten sie schon bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle in Lebensgefahr. Ich stelle den Wagen  vor der Einfahrt zur Strandlust ab. Der Himmel ist grau verhangen, es weht ein kräftiger Wind aus Nordwest. Auf der Promenade vor der Walflosse ein Menschenauflauf. Ich kämpfe mich durch den Ring der jungen, fremdländisch aussehenden Männer. Einige mit dieser Kim-Jong-Un-Frisur, die auch ein hübsches Milchbubigesicht martialisch aussehen lässt. Tatsächlich, da steht Marina mit angstvoll aufgerissenen Augen unter ihrem geblümten Kopftuch und jammert: »Nicht ich, nicht Schmuck!«, während ihr ein junger Kerl eine Pistole vor die Stirn hält und schreit: »Gib sie raus! Gib die Kette raus!«
Als alter Lehrer kenne ich die Regeln des Konfliktmanagements. Nicht einmischen, heißt es. Viel zu gefährlich. Sofort die Polizei rufen! Die Umstehenden aktivieren! Aber wie? Die Erinnerung an die Prügelei auf dem Bahnhofsvorplatz nach der gewonnen Fußballweltmeisterschaft und die kopflose Flucht der Streifenwagenmannschaft  ist in Bremen-Nord noch sehr präsent. Mein Herz klopft wie wild, mein Adrenalinspiegel tobt. Die Fähre nach Lemwerder legt ab, quietschend wird die Rampe hochgezogen.
»Was ist hier los?«, frage ich und wende mich an den Jungen mit der Pistole.
»Die Frau hat in unserem Juweliergeschäft gestohlen«, sagt der Junge in flüssigem Deutsch, schaut mich an und senkt die Pistole. «Sie soll nur den Schmuck herausgeben, mehr nicht.«
»Woher weißt du, dass sie es war?«
»Ich habe sie gesehen, morgens, als sie kam und geklaut hat und heute Nachmittag, als sie wieder vor dem Fenster stand. Mit ihrem Mann. Ich bin ihnen gefolgt. Habe Freunde gerufen.«
»Lüge. Marina nicht Laden!«, schreit Viktor. »Immer zu Hause.«
Ich lege meine Hand auf seinen Arm und wende mich wieder an den Jungen.
»Arbeitest du in dem Laden?«, frage ich.
»Ja, in den Schulferien. Ich sollte eine Stunde aufpassen, mein Onkel musste kurz weg. Ihm gehört der Laden. Jetzt ist er sauer auf mich.«
Und nun will das Kerlchen das Recht in eigene Hände nehmen und seinem Onkel zeigen, dass er doch was taugt. Fast habe ich Mitleid mit ihm.
»Mach dich nicht unglücklich«, sage ich und schaue in die feindseligen Gesichter um mich herum. »In Deutschland findet die Polizei heraus, was passiert ist.« Einer lacht.
Ich höre Polizeisirenen. Gottseidank, der Streifenwagen scheint mir wirklich gefolgt zu sein. Hat ja lange gedauert! Haben sie erst Verstärkung angefordert?  Oder ein Passant hat den Notruf gewählt. Vielleicht sogar der Kapitän auf der Fähre. Mehrere Streifenwagen mit rotierendem Blaulicht fahren auf die Promenade, kreisen die Gruppe ein. Die Polizisten springen aus den Autos. Mit entsichertem Maschinengewehr gibt ein Beamter den Kollegen Feuerschutz. Diesmal werden sie sich nicht in die Flucht schlagen lassen. Ich schaue auf den Jungen. Die Pistole ist verschwunden.
»Welche Pistole?«, fragt er und versucht zu grinsen. »Bloß Spielzeug. Wollte ihr  Angst machen.«
»Nun kommen Sie mal mit zur Wache. Sie und Sie und Sie!«, sagt ein älterer Polizeibeamter.
Man macht  uns eine Gasse frei. Wie sich herausstellte, lag eine Verwechslung vor. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass Marina eben nicht Serbin ist, sondern eine Roma aus Albanien. Sie ist nicht zum ersten Mal auf der Wache, weil sie zu Unrecht beschuldigt wurde, gestohlen zu haben. Aber das ist eine andere Geschichte.


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