Abgestürzt

Es war die letzte Gelegenheit für den Auslandsschuldienst, dieses Angebot der deutschen Schule in Santiago de Chile. Dem Oberstudienrat für Deutsch und Mathematik Hans-Jürgen Kassens wurde eine Funktionsstelle als stellvertretender Schulleiter am Colegio Aleman angeboten. Seine Frau Helene, Diplom-Übersetzerin für Englisch und Spanisch, erklärte sich auf Anfrage bereit, wöchentlich zwölf Stunden Englisch zu unterrichten. Die Zwillinge – Felix und Sanne – gingen in die neunte Klasse und waren recht selbstständig. Sorgen machte dem Ehepaar Kassens allein Marius, der Älteste. Er hatte im Sommer sein Abitur gemacht, und bei seinen glänzenden Noten war er auch gleich zum Medizinstudium in Hamburg zugelassen worden. Sie hatten gemeinsam eine bezahlbare kleine Wohnung gesucht – für die Studentenheime gab es Wartezeiten – und mit ihm den Umzug von Bremen nach Hamburg organisiert. Er wollte nicht mit nach Santiago kommen, freute sich auf sein Studium, war eingebunden in einen festen Freundeskreis von musikbegeisterten jungen Leuten. Natürlich fragte sich Helene als besorgte Mutter, ob sie Marius mit seinen 19 Jahren allein lassen konnten, doch ihr Mann lachte und sagte, es sei Zeit für Marius, sich von Mutters Schürze zu lösen.
Marius war ein fröhliches Kind gewesen, intelligent, kommunikativ. Er wurde von den Lehrern geschätzt, war bei seinen Kumpeln beliebt und seine hohe musikalische Begabung hatte ihn lange überlegen lassen, ob er nicht doch Berufsmusiker werden sollte.

Dass Marius auch zu Weihnachten nicht nach Chile kommen wollte, machte Frau Kassens zu schaffen. Noch nie hatte ein Familienmitglied beim Weihnachtsfest gefehlt.
»Da wirst du dich dran gewöhnen müssen, meine Liebe«, sagte ihr Mann. »Unser Sohn hat Auftritte mit seiner Band. Am Heiligabend gehen die Jungs doch sowieso spätabends alle in die Disko. Darüber regst du dich doch seit Jahren auf.«
Frau Kassens freute sich auf Ostern. Dann werde er sicher kommen, hatte Marius versprochen. Doch er stornierte den Flug.
»Eine verschleppte Grippe. Regt euch nicht auf!«, sagte er am Telefon mit heiserer Stimme und hustete.
»Er wird als Mediziner wohl am besten wissen, was ihm guttut«, sagte Herr Kassens. »In ein paar Monaten fahren wir sowieso nach Deutschland und du wirst staunen, wie erwachsen dein Sohn geworden ist.« Helene Kassens schluckte ihre Bedenken hinunter und widmete sich ihren jüngeren Kindern.
Doch die Sommerferien – den chilenischen Winter – wollte Herr Kassens nutzen, um mit einem Jeep kreuz und quer durch die Atacama-Wüste zu fahren. Er buchte ein kleines Apartment in San Pedro de Atacama, der geeignete Ort für Wüstentouren. Sie würden zu den heißen Quellen fahren, die ihr Wasser in regelmäßigen Abständen als Fontänen in die Luft jagten, die Kinder freuten sich auf die Kolonien von rosafarbenen Flamingos in der Lagune und auf die spektakuläre Dünenwanderung im Val de Luna. Das Ehepaar versuchte, den großen Sohn dazu zu bewegen, sich ihnen anzuschließen. Solch ein Abenteuer würde er sich doch nicht entgehen lassen. Flugtickets würden hinterlegt. Er habe keine Zeit, hieß es in seiner Whatsapp. Er pauke fürs Physikum im nächsten Frühjahr.
»Der ist froh, uns mal für längere Zeit los zu sein«, sagte Herr Kassens. »Nun gönn ihm doch das freie Studentenleben!«
Nach der Sommerpause war Marius telefonisch kaum noch zu erreichen, und wenn doch, war er mürrisch und einsilbig.
Ende Oktober wurde Helene Kassens schließlich so unruhig, dass sie zu Beginn der Herbstferien einen Flug von Santiago über Frankfurt nach Hamburg buchte. Herr Kassens war in seiner Funktion als stellvertretender Schulleiter unabkömmlich.
Marius stand nicht in der Empfangshalle des Flughafens, um – wie ausgemacht – seine Mutter mit dem Familienauto abzuholen. Hatte er verschlafen? War er mit dem Aufräumen nicht fertig geworden? Sie wählte Marius`  iPhone-Nummer. Niemand meldete sich. Der Anrufbeantworter wiederholte immer wieder, zur Zeit sei die gewählte Nummer nicht erreichbar..
Helene überlegte nicht lange, fuhr mit dem Taxi sie zu Marius` Studentenbude.

An der Wohnungstür des dreistöckigen Hauses in Hamburg-Altonau klingelte sie Sturm. Mit einem Blick sah sie, dass der Briefkasten mit dem Namensschild ihres Sohnes überquoll. Zeitungen und Werbebroschüren waren in die Öffnung gerammt, das Papier durchnässt und zerrissen. Als niemand öffnete, drückte sie auf jeden einzelnen Klingelknopf im Haus, bis der Türöffner brummte. Im Erdgeschoss stand eine verschlafene Gestalt mit rot-blauem Irokesenschnitt in der Türöffnung und schaute sie fragend an.
»Ich will zu meinem Sohn Marius«, sagte Frau Kassens. »Er macht nicht auf.«
»Tja, denn is er wohl nich da, ne?«
»Kennen Sie Marius?«, fragte sie.
»Ein bisschen«, sagte der junge Mann. »Ich habe ihn aber in letzter Zeit kaum gesehen. Ich weiß auch nicht, wo er ist.«
»Wie komme ich an einen Schlüssel für die Wohnung?«
»Wie? Einfach so rein? Das geht nicht. Das will Ihr Sohn sicher nicht.«
»Hören Sie«, sagte Helene Kassens, Panik in der Stimme, »ich bin heute Morgen aus Chile gekommen, Marius wollte mich abholen. Er ist nicht gekommen. Ich habe Angst, dass was passiert ist.«
»Passiert? Ach so! Überdosis, denken Sie.« Der Jüngling runzelte die Stirn. »Ja, Musik macht der auch. Die Musiker, die brauchen viel Stoff!«
»Können Sie mir nun helfen oder nicht? Gibt es einen Hausmeister?«
»Gemach, gemach!« Der Irokese ging zurück in die Wohnung und kam mit einem Dietrich wieder. »Ich bin professioneller Einbrecher.« Er grinste.
Frau Kassens hatte keinen Nerv für Späße. Schweigend folgte sie dem jungen Mann zum oberen Stockwerk. Ein verschmutztes Namensschild an Marius`  Tür, kaum lesbar. Sie klopfte, keine Reaktion, geschickt öffnete der Mitbewohner das Schloss mit dem Dietrich.

Ein modrig-fauliger Geruch schlug ihnen entgegen. Das Zimmer lag im Dunklen. Frau Kassens kämpfte sich zum Fenster vor. Mit einem Ruck schnellten die Rollos hoch, gaben den Blick frei auf ein völlig vermülltes Zimmer. Zwischen Socken, Pullover und Unterhosen standen braungefärbte Kaffeetassen und Teller mit angeschimmelten Brotresten. Zeitungen, medizinische Büchern, darauf abgelegt überquellende Aschenbecher. In der Spüle stapelte sich der Abwasch, ein Topf mit undefinierbarem Inhalt müffelte auf der einzigen Kochplatte vor sich hin. Frau Kassens suchender Blick fand im Bett eine unter Decken begrabene Gestalt.
»Marius«, schrie sie.«Marius!« Sie rüttelte ihn, zog die Decken weg. Mühsam öffnete der Sohn die Lider, blinzelte mit geröteten Augenrändern ins Licht, murmelte: »Was ist los?«
»Marius«, sagte Frau Kassens und setzte sich auf den Bettrand. »Marius, ich bin`s. Ich bin heute Morgen aus Santiago gekommen. Du hattest versprochen, am Flughafen zu sein. Bist du krank?«
Marius drehte sich zur Wand, verschwand wieder unter den Decken.
Helene Kassens beugte sich hinunter, drehte mit kräftigem Griff den Sohn zu sich herum, entsetzt, wie dünn der war. Wie grau und müde sein Gesicht.
»Marius, ich rede mit dir.«
»Lass mich«, sagte Marius. »Lass mich. Es hat doch alles keinen Zweck.«
Frau Kassens fasste Marius` Handgelenk, prüfte den Puls. Er war langsam, aber deutlich fühlbar.
»Hast du Drogen genommen?«
Marius schüttelte den Kopf. »Nein!«
Frau Kassens ging zum Regal. Fingerte durch Medikamentenschachteln. Sie nahm eine halbleere Packung Valium herunter, hielt sie Marius vors Gesicht.
»Wofür brauchst du Valium?«
»Wofür brauchst du Valium«, äffte Marius sie nach. Die Worte kamen leise und schleppend. »Wofür brauchst du Valium? Um das Scheiß-Leben auszuhalten.«
»Welches Scheiß-Leben?« Helene Kassens war fassungslos. »Marius, was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Nichts. Ich will nur nicht mehr. Ich hab`s satt!«
»Was hast du satt?« Marius antwortete nicht.
»Warst du beim Arzt?«
Marius schüttelte den Kopf. »Die können einem doch auch nicht helfen.«
»Wie kannst du sowas sagen? Marius! Du als zukünftiger Mediziner.«
»Eben«, sagte Marius und richtete sich auf. »Eben deswegen. Geh weg, du kannst mir nicht helfen.«
»Und ob ich das kann«, sagte Frau Kassens und wischte mit dem Handrücken über ihre Stirn.
»Ich koche jetzt einen Kaffee. Du ziehst dich an und wir fahren nach Hause!“
«Kein Kaffee da!« Stumm und schlaff ließ Marius sich beim Anziehen helfen. Gestützt auf seine Mutter und den Irokesen-Jüngling, der hilflos an der Tür gelehnt hatte, stakste er wie ein Zombie die Treppe hinunter. Im Taxi fuhr Helene ihn sofort zum Hausarzt der Familie. Der Doktor fackelte nicht lange. Schwere Depression, Suizidgefahr, lautete seine Diagnose. Einweisung in die psychiatrische Abteilung der Hamburger Landesklinik.
Die Kassens brachen den Auslandsschuldienst ab. Sie brauchten ihre ganze Kraft, um sich auf die neue Situation einzustellen. Depressionen. Ausgerechnet Marius, der Sonnyboy, der Überflieger.
»Warum«, fragten sich die Eltern immer wieder. »Warum?«
Diese Frage konnte ihnen niemand beantworten.


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