Vor Gericht

Auf den Zuschauerbänken im Landgericht  steigt der Geräuschpegel. Leute tuscheln, schütteln den Kopf, einige lachen laut. Ungeduldig klopft der Vorsitzende Richter mit dem Hammer auf den Tisch.
»Name, Adresse, Alter«, fragt er noch einmal.
»Mein Mandant zieht es vor zu schweigen«, sagt der Anwalt.
»Aber er kann doch seinen Namen nennen«, beharrt der Richter.
»Nein«, sage der Anwalt. »Mein Mandant ist Geheimnisträger.«
»Lassen Sie die Kindereien.« Der Richter wirkt ungeduldig. »Name, Adresse, Alter.«
»Ich sagte bereits«, – auch der Anwalt hebt die Stimme – , »mein Mandant ist Geheimnisträger.«
Im Saal wird gelacht. Wieder benutzt der Richter das Hämmerchen vor ihm. »Ich lasse den Saal räumen, wenn der Krach nicht aufhört. Wir sind hier vor Gericht.«
»So ist es!«, sagt ein Mann auf den Zuschauerbänken zu seinem Nachbarn. »Und vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand.«
»Pssst«, sagt der Mann.
»Hat Ihr Mandant nun einen Namen oder nicht?«, fragt der Richter und schaut den Verteidiger mürrisch an.
Der Staatsanwalt schaltet sich ein. »Lassen wir das Kasperletheater, meine Herren. Wir alle wissen, dass Herr Reinhold Wischkowsky wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe angeklagt ist.«
Der Angeklagte springt auf.
»Wollen Sie was sagen?«, fragt der Richter und beugt sich vor. Der Angeklagte setzt sich wieder hin und sinkt in sich zusammen.
»Mein Mandant wird nichts sagen, Herr Vorsitzender.  Er heißt auch nicht Reinhold Wischkowsky.«
Raunen im Publikum. Die Journalisten hämmern auf ihre Laptops ein. Triumphierend hält der Staatsanwalt ein Bündel Pässe hoch.
»Darf ich raten?« Seine Stimme schneidend vor Ironie. «Auf der Anklagebank sitzt Herr Reinhold Wischkowsky alias Herr Michael Claus, alias ….«
Vehement schüttelt der Angeklagte den Kopf. Sein Anwalt legt ihm beruhigend die Hand auf den Arm und redet leise auf ihn ein.
»Die Verteidigung wird gebeten, diesen Prozess nicht als Posse zu betrachten.« Der Richter ringt um Fassung. Wieder wird auf den hinteren Rängen gelacht. Der Richter zieht es vor, vorerst die Störer zu ignorieren.
»Welches Spiel spielen wir eigentlich?«, fragt der Staatsanwalt. » Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß?«
Das Gelächter im Saal nimmt zu. Es wird sogar geklatscht.
»Letzte Ermahnung », sagt der Richter. «Noch eine Störung und ich lasse den Saal räumen. Wir sind hier nicht auf der Bühne.«
»Doch«, sagt ein Mädchen ganz hinten und kichert leise.
Der Richter überlegt einen Moment und sagt: »Ich möchte den Anklagevertreter bitten, alle Namen auf den Pässen vorzulesen. Bitte auch Nationalität und Geburtsdatum.«
»Reinhold Wischkowsky, 1946 geboren in Lodz, Polen; Michael Claus, 1948 geboren in Linz, Österreich … «
»Eben«, sagt der Staatsanwalt.«Wir haben doch bereits vor 10 Minuten festgestellt, dass … «
»Mein Mandant ist weder Reinhold Wischkowsky noch Michael Claus, Ehrwürden.«
»Was Sie nicht sagen. Lesen Sie weiter.«
»Franz von der Lehe, geboren 1950 in Münster, Deutschland; Hermann Piepvogel, geboren 1952 in Herrsching, Bayern; Leopold de Brun, geboren 1949 in Brüssel, Belgien; Roger White, geboren 1951 in St. Andrews, Schottland; Moshe Grünhaus, geboren 1944 in Auschwitz, Polen…«
»Es reicht«, donnert der Richter und wendet sich an den Angeklagten. »Sie sagen jetzt Ihren Namen oder ich lasse Sie in Beugehaft nehmen.«
Im Saal ist es jetzt totenstill. Die Leute beugen sich nach vorn.
»Sie werden damit keinen Erfolg haben, Ehrwürden«, sagt der Verteidiger. »Mein Mandant hat seinen Namen vergessen.«
»Was?« Der Richter schnappt nach Luft. »Seinen Namen vergessen? Welche Sprache spricht er denn?«
»Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch, Hebräisch …«
»Hören Sie auf«, schreit der Richter. »Wer ist dieser Mann?«
»Wer bin ich … und wie viele?«, murmelt der Staatsanwalt. »Wieso weiß Ihr Mandant nicht, wer er ist? Ein intelligenter Mensch, der so viele
Sprachen spricht …«
»Eben«, sagt der Verteidiger. »Die Geheimdienste haben ihm seine Identität genommen und seine Psyche zerstört.«
»Was haben die Geheimdienste gemacht?« Der Richter fächelt sich mit den vor ihm liegenden Papieren Luft zu. Es ist heiß im Saal, sehr heiß.
»Er wurde im Vatikanischen Museum vom israelischen Geheimdienst angeworben, um ein Attentat auf Benedikt  XVI. abzuwenden.«
»Was wurde er? Und was sollte er abwenden?« Der Richter scheint kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen. »Hören Sie auf mit diesen Räuberpistolen. Dieser Mann – wie immer er heißt – ist angeklagt wegen Steuerhinterziehung und … «
»Es geht hier um größere Dinge«, sagt der Verteidiger und steht auf. Theatralisch hebt er den Arm, spreizt die Finger, zählt sie einzeln ab. »Hohes Gericht, mein Mandant hat Kriege verhindert, versteckte Chemiewaffen gefunden, hochrangige Geiseln aus dem südamerikanischen Busch befreit, Nazioffiziere gejagt, ein Attentat auf den Papst verhindert. Dieses Gericht scheint unfähig oder nicht willens zu sein, die Lebensleistung meines Mandanten zu würdigen, eines Mannes, der unermüdlich arbeitend seinem Heimatland sein Gedächtnis geopfert hat. Ich stelle einen Befangenheitsantrag.«
»Der Prozess wird vertagt«, sagt der Vorsitzende, richtet seine Robe und steht auf. Ein Beisitzer am Richtertisch flüstert dem Kollegen noch zu. »Welchem Heimatland hat er sein Gedächtnis geopfert? Ich habe das Gefühl, wir sollen hier zum Gespött gemacht werden.«
Dann schließt sich die schwere Eichentür hinter ihnen.

Anmerkung

Jede Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist rein zufällig. So auch der Weserkurier- Artikel vom 6. Okt. 2017:
Das Bochumer Landesgericht verurteilte ihn (Werner Mauss) am Donnerstag wegen Steuerhinterziehung zu zwei Jahren auf Bewährung. Die Staatsanwaltschaft hatte über sechs Jahre Haft gefordert. Die Richter berücksichtigten in ihrer Entscheidung ausdrücklich die Verdienste des Angeklagten. Er sei ein Hoffnungsträger gewesen und habe Leben gerettet. Trotz der Steuerstraftat müsse ihm größter Respekt entgegengebracht werden.


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