Und das soll Kunst sein?

Ein älteres, elegant gekleidetes Ehepaar geht durch die Museumsräume der Weserburg, in der die Ausstellung »Proof of Life« gezeigt wird.

Er:       Immer diese moderne Kunst! Die sagt mir einfach nichts. Ich bekomme überhaupt keinen Zugang zu den merkwürdigen    Exponaten.

Sie:     Nun lass dich doch erst einmal darauf ein!

Er:       Schon der Titel »Proof of Life«. Welcher Beweis? Welches Leben?
Sich einen deutschen Titel auszudenken ist wohl zu viel verlangt. Englisch macht mehr her. Ist so schön unverständlich.

Sie:     Schau dir doch erst einmal die Ausstellung an. Unvoreingenommen. Mir zuliebe.

Er:       O.K., aber nur eine Stunde! Länger halt ich das nicht aus!

Sie schlendern durch die Räume. Der Mann bleibt vor einem Schlafsack stehen.

Er:       Siehst du, das ist es, was ich meine. Dieser dreckige Schlafsack dort auf dem Boden. Widerlich. Und das soll Kunst sein?

Sie:     Ob das Kunst ist, weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall bist du stehen geblieben.

Er:       Soll das ein Qualitätsmerkmal für Kunst sein? Dass ich stehen bleibe?
Wenn der Typ wenigstens den Schlafsack gemalt hätte. Oder eine Skulptur oder Plastik geformt hätte. Aber dazu reichte wohl sein Talent nicht aus.

Sie:     Sei doch nicht so schnell mit deinen Urteilen. Sieh doch erst mal richtig hin .

Er:       Was soll ich sehen? Lila Schlafsack auf weißem Brett. Alt. Dreckig. Innen orange. Wahrscheinlich stinkt er. Will mich lieber nicht runterbeugen. Hat der sogenannte Künstler wahrscheinlich von der Müllkippe geholt. Igittigitt, da reinkriechen zu müssen. Da schüttelt `s einen.

Sie:     Wie das Urinal von Duchamps?

Er:       Das war wenigstens sauber. Und wäre es aufgestellt worden, wo es eigentlich hingehörte, nämlich ins Männerklo, wäre keiner auf die Idee gekommen, das sei Kunst.

Sie:     Eben. Vielleicht ist Kunst das, was im Museum hängt.

Er:       Lächerlich, diese Readymades.

Er geht um den Schlafsack herum.

Er:       Sieht aus, als ob einer drinliegt. Reingekrabbelt ist. Ein Mann? Eine Frau? Eher ein Mann. Groß, runder Rücken, langer gebeugter Oberschenkel. Den Kopf sieht man nicht. Ein obdachloser Mann, irgendso ein Saufkopp, der seinen Rausch ausschläft.

Sie:     Fakt ist, dass die Zahl der Obdachlosen in unserer Wohlstandsgesellschaft steigt. Immer mehr Menschen leben auf der Straße, ernähren sich vom Müll aus Containern. Nimm doch mal Abschied von deinen bildungsbürgerlichen Vorstellungen.

Er:       Warum sollte ich das tun? Ich habe einen geschulten Sinn für Ästhetik.

Sie:     Na prima. Dieser Schlafsack ist nicht ästhetisch, zugegeben. Aber was bewirkt er?

Er:       Bei mir?

Sie:     Ja, bei dir.

Er:       Widerwillen. Denselben Widerwillen, den ich habe, wenn ich an so einem Typen auf der Straße vorbeigehe, der volltrunken in seinem Dreck liegt.

Sie:     Mir geht es genauso. Aber ich habe auch irgendwie ein schlechtes Gewissen. Fühle mich hilflos.

Er:       Ich auch. So viel Elend sollte es in unserer Wohlstandsgesellschaft nicht geben.
Aber im Museum gucke ich mir lieber die alten Meister an.

Sie:     Meinst du nicht, jede Zeit sollte ihren eigenen Ausdruck finden?

Er:       Auf diesen Ausdruck verzichte ich. Den habe ich schon auf der Straße. Ich will Schönheit. Zur Abwechslung mal Schönheit.

Sie:     Die Schönheit einer mittelalterlichen Madonna, die in ihrer angeblichen Heiligkeit auch nur die Kindfrau eines alten, geilen Malers war, der mit ihr die Himmelfahrt probte.

Er:       Trotzdem: Gerhard Richter sagt, 80% der modernen Kunst ist Schrott. Eine Verulkung des Publikums, das gewohnt ist, im Museum zu erschauern.

Sie:     Schau mal, was hier auf der kleinen Tafel am Pfeiler steht: Gavin Turk, Nomad, Bemalte Bronze.

Er:       Wie Bronze?

Sie:     Der Schlafsack ist aus Bronze.

Er:       Nein!

Sie:     Doch!

Er:       Also Kunst!

Er bleibt wie angewurzelt vor dem Schlafsack stehen.


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