Tiergestützte Vernehmung
Ich solle keine Angst haben, sagt der kleine Mann mit den grauen Haaren. Er schaut mich freundlich an und zeigt auf die Tür. »Deine Mama wartet hier auf dich.«
Ich halte mich an Mama fest. Nein, ich will nicht mit, auch nicht mit diesem netten Mann. Er ist so alt, und er hat viele Linien im Gesicht. Genau wie Onkel Karl.
»Nun geh schon«, sagt Mama und gibt mir einen kleinen Schubs. »Ich lauf nicht weg.«
Der Mann ist ein Professor, hat Mama gesagt und ich muss ihm alles sagen, was ich weiß. Und immer die Wahrheit. Aber Onkel Karl hat gesagt, ich dürfe uns nicht verraten. Die anderen Erwachsenen seien dumm. Die könnten nicht verstehen, dass wir uns so lieb haben.
Zuerst habe ich Onkel Karl wirklich sehr lieb gehabt. Wenn er zu uns kam, hat er mir immer ein schönes Geschenk mitgebracht, ein Plüschtier oder Süßigkeiten. Und er hatte immer Zeit für mich, hat sich nie sofort nur mit Mama unterhalten, hat immer erst mit mir gespielt.
»Erst die Prinzessin«, hat er gesagt und meine langen Haare um seinen Finger gedreht. Und später, wenn ich ins Bett musste, hat er mir vorgelesen, obwohl ich schon ins erste Schuljahr gehe und selbst ein bisschen lesen kann. Alle meine Lieblingsbücher, hat er mir vorgelesen: Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Das kleine Gespenst und noch viele, viele mehr. Er hat nie wie Mama gesagt, er hätte keine Zeit, nun sei Schluss, und ich müsste endlich schlafen. Und dann hat er mich gestreichelt. Er hatte ganz warme Hände, und er hat mich auf den Bauch gedreht und hat meinen Rücken gestreichelt und mich gekitzelt. »Ist das schön?«, hat er mich gefragt. Und ich habe genickt, denn das war schön. Mama ist nicht so fürs Kuscheln, die hat nie Zeit. Tagsüber sitzt sie an der Kasse in einem Baumarkt und abends ist sie dann müde. Da schläft sie immer schnell beim Fernsehen ein. Früher durfte ich auf ihrem Schoß sitzen, aber auf einmal hat sie gesagt, ich sei ein großes Mädchen und viel zu schwer. Das hat Onkel Karl nie gesagt. Er hat mich oft auf den Schoß genommen, wenn er vorgelesen hat. Mama hat das nicht so gerne gesehen, das weiß ich genau, aber dann ist Onkel Karl bei uns eingezogen, hat mich von der Schule abgeholt und ist oft mit mir zu McDonalds gegangen, Hamburger essen mit ganz viel Ketchup. Mein Lieblingsessen. Aber Mama sagt, das sei ungesund. Nachmittags hat er mit mir gespielt, wenn er Zeit hatte. Er ist nämlich Maler, hat ein Atelier unterm Dach eingerichtet, da malt er ganz viele Bilder, er muss nicht zur Arbeit gehen. Das war für Mama eine große Hilfe. Mama hatte nämlich immer Angst, mir würde was passieren. Das habe ich nie verstanden. Aber nun hat Onkel Karl auf mich aufgepasst, wenn ich aus der Schule kam. Komisch fand ich nur, dass er mich immer vom Schoß geschubst hat, wenn er hörte, wie Mama den Schlüssel ins Schloss steckte.
»Geh`, mein Kleines«, hat er gesagt. »Ist besser so. Deine Mutter wird eifersüchtig, wenn sie sieht, wie gern wir kuscheln.«
Ich bin dann schnell von seinem Schoß runtergesprungen. Und Onkel Karl ist aufgestanden und hat Mama einen Kuss gegeben. Mama hat ihn auch geküsst und hat gelacht. Mama ist überhaupt fröhlicher, seit Onkel Karl bei uns wohnt. Seit Papa ausgezogen ist, hat Mama nie mehr so viel gelacht. »Papa hat eine andere«, hat sie gesagt. »Eine andere Frau und auch ein kleines Mädchen, die hat er lieber als uns.«
Papa und Mama haben sich sowieso immer gestritten, besonders nachts. Ich bin davon aufgewacht. Eines Tages war Papa nicht mehr da, als ich aus dem Kindergarten kam. Mama hat sich in den Sessel gesetzt und hat geweint und ich habe sie getröstet. »Ist nicht so schlimm«, habe ich gesagt. »Soll er doch wegbleiben. Wir haben doch uns.«
Onkel Karl streitet sich nie mit Mama. Er ist immer lieb zu ihr, bringt ihr oft Blumen mit und nimmt sie in den Arm. Nur in letzter Zeit sagt sie manchmal, Onkel Karl solle endlich auch mal Geld verdienen und nicht nur immer rumpinseln an seinen Bildern. Verkaufen tue er sowieso keins. Ich finde das ungerecht. Onkel Karl malt so schöne Bilder. Kann er doch nichts dafür, dass keiner sie kaufen will. Ich würde sie sofort kaufen, wenn ich Geld hätte. Er gibt mir auch oft Papier und Buntstifte, und dann darf ich auch malen. Sogar in seinem Atelier. »Wir beide sind Künstler«, sagt Onkel Karl dann und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Das mag ich nicht so gerne, ist ein bisschen eklig. So viel Spucke. Aber ich bin trotzdem stolz, wenn er mich lobt.
Ich finde es nur komisch, dass er in letzter Zeit immer will, dass ich mich im Atelier auf seine Couch lege und mein Hose und meinen Pulli ausziehe. »Ich sei so schön«, sagt er, und er wolle mich malen. Das hat noch nie jemand zu mir gesagt, dass ich schön sei. Aber ich finde es toll, dass ich Onkel Karl gefalle. Er malt mich dann ein bisschen, und dann streichelt er mich wieder. Auch über den Po. Und manchmal tut er auch die Hand zwischen meine Beine. Das mag ich nicht so gerne. Er fummelt dann immer mit seinem Finger da rum, wo ich Pippi mache. Und dann stöhnt er so komisch und reibt an seiner Hose. Dann kriege ich Angst und will aufstehen, aber er drückt mich auf die Couch und sagt, ich solle ihn auch streicheln. Und dann macht er den Reißverschluss auf und holt seinen Zipfel raus. Mit dem die kleinen Jungs im Kindergarten Pippi machen. Aber seiner ist viel größer und härter. Und den soll ich streicheln.
»Bitte, bitte«, sagt er. »Ich streichele dich doch auch.« Und er nimmt meine Hand. Aber ich find das eklig und ziehe meine Hand weg, und dann streichelt er selbst, immer schneller, und dann stöhnt er und dann kommt so weißliches Zeug aus dem Ding. Anschließend nimmt er mich in den Arm, sagt »Entschuldige, Kleines, du bist einfach zu schön, da kann ich mich nicht beherrschen. Meine kleine Lolita. Aber nicht Mama sagen, die würde das nicht verstehen.« Das musste ich ihm versprechen. Er hat gedroht, er würde sonst weggehen. Und ich würde ihn nie wiedersehen.
Und deswegen will ich auch nicht zu dem Professor reden. Ich werde kein Wort sagen. Gar nichts. Auch wenn ich Onkel Karl nicht mehr lieb habe. Denn manchmal hat er mir auch weh getan, und ich habe geweint. Und ich wollte auch nicht mehr in sein Atelier gehen. Doch er ist einfach in mein Zimmer gekommen, wenn Mama nicht da war. Das war nicht schön.
Und dann hat die Frau Markward angerufen, meine Lehrerin, und zu Mama gesagt, ich sei so komisch geworden, würde nicht mehr reden, meine Noten seien schlecht . Ob etwas zu Hause nicht stimme. Sie hat Mama einen Termin zur Sprechstunde gegeben, und als Mama zurückkam, sah sie sehr unglücklich aus und sagte, die Lehrerin hätte gesagt, ich gehörte zu den schlechtesten Schülerinnen in der Klasse. Ich würde mich überhaupt nicht mehr am Unterricht beteiligen. Und früher sei ich doch so lebhaft gewesen. Mama soll mit mir zum Schulpsychologen gehen, hat die Lehrerin gesagt.
Da ist sie auch mit mir hingegangen. Aber ich habe nichts gesagt. Gar nichts. Ich konnte nicht. Es kamen keine Worte aus meinem Mund. Der Schulpsychologe hatte so weiche, feuchte Hände, die hat er mir auf die Schulter gelegt und mich in sein Zimmer geschoben. Er hat sich mir direkt gegenübergesetzt, ganz nahe. Und er hat schlecht gerochen. Und der dünne Pferdeschwanz sah albern aus. Vorne hatte er keine Haare mehr. Als ich nichts gesagt habe, hat er die Schultern gezuckt, mir über den Kopf gestrichen und mich aus dem Zimmer geschickt. Und zu Mama hat er gesagt, sie solle mit mir zur Uniklinik fahren. Die hätten dort Spezialisten für schwierige Kinder wie mich.
Und da sind wir nun, in der Uni-Klinik. Und jetzt soll der Professor mit mir reden. Aber Onkel Karl hat gesagt, man würde einem kleinen Kind wie mir sowieso nicht glauben. Und ich würde Mama ganz traurig machen.
Was liegt da für ein schöner Hund auf der Couch? Braun-weiß gefleckt mit einer weißen Schnauze und ganz langen Ohren. Ob ich den streicheln darf?
»Wenn du magst, darfst du dich auch aufs Sofa setzen«, sagt der Professor. »Aber nur, wenn du keine Angst hast«.
Ich habe doch keine Angst! Vorsichtig gehe ich zum Sofa, setze mich langsam hin und lasse den Hund an meiner Hand schnuppern, dann kraule ich ihn hinter seinen Schlappohren. Er rückt näher an mich heran. Ich streichele seinen Kopf. Als ich einen Moment aufhöre, stupst er mich an. Er will weiter gestreichelt werden. Der Professor sagt gar nichts, schaut nur zu.
»Wie heißt der Hund?«, frage ich.
»Es ist eine Hündin, ein Mischling. Und sie heißt Bella.«
»Wie ich«, rutscht es mir heraus. »Ich dachte, du heißt Lotta.«
»Ja, ja, Lotta«, sage ich. »Meine Freundin heißt Bella.«
Fast hätte ich Onkel Karl verraten. Er nannte mich immer Bella, wenn wir alleine waren, aber ich durfte es keinem sagen.
Dem Professor scheint nichts aufgefallen zu sein. Gott sei Dank. Er blickt weiter freundlich, holt einen Ball und wirft ihn durch den Raum. Bella springt begeistert auf, rennt los, schnappt den Ball und legt ihn ihrem Herrchen in die Hand. Immer und immer wieder. Ich will auch mal den Ball werfen, denke ich.
»Willst du auch mal werfen?«, fragt der Professor. Er kann wohl Gedanken lesen. Ich nicke. Er gibt mir den Ball. Bella kommt sofort schwanzwedelnd zu mir. Ich werfe den Ball so weit weg, wie ich kann. Er dopst gegen die Wand und prallt zurück. Bella jagt hinterher, macht eine Drehung in der Luft, schnappt nach dem Ball und kommt zu mir. Zu mir, nicht zum Professor. Ich strecke die Hand aus und Bella legt den Ball ganz vorsichtig in meine Hand. Ich streichel sie vorsichtig. Bella wedelt mit dem Schwanz.
»Onkel Karl hat versprochen, mir einen Hund zu kaufen«, sage ich. Wenn ich ihn nicht verrate, denke ich, sage es aber nicht. »Meine Mama will keinen Hund. Sie sagt, sie hat keine Zeit, mit ihm Gassi zu gehen. Aber das könnte ich doch machen. Oder Onkel Karl. Der mag Hunde.«
»Magst du mir sagen, wer Onkel Karl ist?«, fragt der Professor.
»Mamas Freund«, sage ich schnell. Obwohl … das stimmt nicht mehr. Mama ist wütend auf Onkel Karl, seit sie letzte Woche sehr früh nach Hause und sofort ins Atelier gekommen ist und mich nackt im Sessel gesehen hat. Onkel Karl hat ihr erklärt, dass er mich male, weil ich so niedlich sei. Aber Mama ist ganz rot im Gesicht geworden und hat die Augen zusammengekniffen.
»Wo ist denn das Bild?«, hat sie gefragt und sich umgeschaut.
»Wir wollten gerade erst anfangen«, hat Onkel Karl schnell gesagt. »Nicht wahr, Lotta?« Ich habe genickt. Irgendwie war ich aber froh, dass Mama gekommen war.
»Zieh dich sofort an!«, hat Mama gesagt und hat mich aus dem Zimmer gezogen. Abends habe ich gehört, wie sie sich gestritten haben. Mama sagte was von kleine Mädchen betatschen, er sei ein Schwein und sie würde zur Polizei gehen. Am nächsten Morgen war Onkel Karl verschwunden. Einfach weg. Wie Papa.
»Das ist schlimm«, sagte der Professor. »Du konntest ihn gut leiden, den Onkel Karl, nicht wahr?«
Ich nicke. Ich kann ihm doch nicht erzählen, dass ich ihn in letzter Zeit nicht mehr so gut leiden konnte. Und Onkel Karl böse auf mich war und gesagt hat, es würde was ganz Schlimmes mit Mama und mir passieren, wenn ich ihn verraten würde.
Der Professor schaut mich aufmerksam an. »Aber in letzter Zeit konntest du den Onkel Karl nicht mehr so gut leiden, nicht wahr?«
Er kann wirklich Gedanken lesen. Ich presse die Lippen fest zusammen und Bella springt auf die Couch, kommt ganz nah zu mir gekrochen und legt ihren Kopf in meinen Schoß. Und da muss ich plötzlich weinen und sage: »Onkel Karl war so gemein.«
»Und er hat gesagt, du darfst niemandem was erzählen. Oder?«
Der Professor kann in meinen Kopf gucken. Jetzt bin ich sicher.
»Aber nicht Onkel Karl sagen, dass ich ihn verraten habe.«
»Du hast doch gar nichts verraten. Du hast nur gesagt, dass er gemein zu dir war.«
»War er auch. Ich sollte mich immer ausziehen und auf sein Sofa legen. Aber er wollte mich gar nicht malen.«
»Er wollte dich streicheln.« Der Professor weiß alles. Und wenn er sowieso alles weiß, kann ich ihm auch den Rest erzählen. Wie lieb Onkel Karl am Anfang gewesen war. Und dass er am Schluss mich immer streicheln wollte und seine Hose ausgezogen hat … nein, das würde ich nicht erzählen. Aber der Professor nickt, als wüsste er alles.
»Lotta, du kannst nichts dafür.«
»Doch«, schluchze ich. »Er hat gesagt, ich sei schuld, dass er sich nicht beherrschen könne. Ich sei zu schön.«
Ich lege meinen Kopf auf Bellas Rücken. Und Bella rückt nicht weg von mir. Bleibt ganz ruhig liegen, auch als ich an ihren Ohren drehe. Aber das merke ich erst, als sie leise jault.
»Ich habe Bella wehgetan«, sage ich und ziehe die Nase hoch.
»Bella mag dich. Sie will dich trösten«, sagt der Professor.
»Und wenn du willst, kannst du ihr alles erzählen.«
Bella hebt den Kopf und sieht mich mit ihren großen, braunen Augen an. Ich halte sie ganz fest. Und erzähle ihr alles.
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