Der Spiegel

Kopenhagen 5091Du darfst mich ruhig malen, sagt die kleine Meerjungfrau . Ich hoffe, du bemerkst, wie elegant meine Hals- und Kopfpartie aussieht. Und auch über meine kleinen festen Brüste kann man nicht meckern. Und erst der flache Bauch.

Der junge Maler hat seine Staffelei am Kopenhagener Yachthafen aufgestellt und fährt mit flinker Hand über ein großes, weißes Blatt Papier.

Gut sieht er aus, fast wie mein Prinz. Ich schiebe meinen Busen noch ein wenig nach vorne. Nur schade, dass er nicht mit mir redet. Bei dem Prinzen war das umgekehrt. Der hat auf mich eingeredet wie ein Wasserfall, und ich war stumm. Blöder Kerl, ist dann auf die Tochter des Nachbarkönigs hereingefallen, auf dieses geschwätzige Miststück. Dabei habe ich ihn aus den Fluten gerettet. Aber sie war halt zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Männer!

Der Maler zieht seinen breiten Strohhut tiefer ins Gesicht. Auf einer Palette mischt er Farben. Etliche Touristen bleiben stehen und schauen ihm interessiert zu.

Schließlich bin ich d a s Symbol für Dänemark. Alle wollen mich fotografieren. Schade, dass ich mich nicht spiegeln kann. Das Meer ist zu unruhig.

Der Maler geht zu seinem Auto und holt einen großen Spiegel. Er stellte ihn auf einen großen Granitblock direkt vor die Meerjungfrau.

Donnerwetter, kann er Gedanken lesen? Ihm scheint ja noch nicht mal mein Fischschwanz etwas auszumachen, sexy wie ich ihn abgelegt habe. Nur gut, dass man mir einen neuen Kopf gegeben hat. Mit einem wunderschönen Profil. Es ist nun schon das zweite Mal, dass man ihn mir abgeschlagen hat. Wohl purer Neid. Ich bin die Schönste im ganzen Land.

Der Maler rückt den Spiegel zurecht. Überprüft die Stabilität. Geht zurück zur Staffelei.

Aber, was ist das? Wie sehe ich denn aus? So alt und buckelig bin ich gar nicht. Und das verknitterte Gesicht. Weg mit dem Spiegel. Er macht mich hässlich. Weg mit ihm. Weg.

Ungerührt malt der Künstler weiter. Tupft den Pinsel in die Farben. Spitzt angestrengt die Lippen.

Halt, hör auf. Das bin ich nicht. Wie kannst du es wagen? Das ist Majestätsbeleidigung. Spieglein, Spieglein auf dem Stein …Ich bin die ungekrönte dänische Königin. Jeder kennt mich. Jeder besucht mich. Tausende von Touristen huldigen mir. Täglich.

Und jetzt schreibt der Kerl was unter das Bild. Schade, dass ich meinen Hals nicht drehen kann.

Ein Kind kommt vorbei. Duckt sich unter den Arm des Malers. Schiebt sich ganz nah an die Leinwand. Liest laut:

When a country falls in love with itself.


nach:  Elmgreen § Dragset, When a country falls in love with itself. Louisiana Museum, Kopenhagen


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One Response to “Der Spiegel”

  1. Gravatar of Martina Timm Martina Timm
    1. Februar 2012 at 19:59

    Gute Idee!!!!

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