Unter dem Löwentor von Mykene

Tor auf MykeneJonathan hatte sich in der unterirdischen Zisterne verborgen, als die Wärter den Eingangsbereich gegen 19 Uhr dichtmachten. Die flirrende Hitze über der Argos-Ebene war einer angenehmen Kühle gewichen. Leergefegt der Parkplatz mit den endlosen Schlangen von Touristenbussen. Auch die Wärter hatten sich verzogen. Feierabend. Stille.
Jonathan nahm die Krücken und kämpfte sich den steilen Weg hinunter von den Palastruinen zum steinernen Eingangstor. In dieser Nacht wollte er allein sein, allein mit den kopflosen Löwen unter dem gewaltigen Tor von Mykene. Der linke Beinstumpf pochte höllisch. Vorsichtig ließ er sich auf den kantigen Steinen nieder, lockerte die Riemen der Prothese unterhalb des Knies. Er lehnte den Rücken an die mächtigen Steine, streckte den Stumpf aus, zog  eine zerfledderte Ausgabe der »Sagen des klassischen Altertums« aus dem Rucksack und rückte die Brille mit den dicken Gläsern zurecht. Ein zweiter Schliemann zu werden, davon hatte er geträumt. Archäologie zu studieren und Frühgeschichte.
»Brotlose Kunst«, hatte sein Vater gesagt, Majorsleutnant bei der Bundeswehr. »Liebhaberei für Weichlinge«.
Aber er war ein Weichling. Er hatte dem häuslichen Druck nicht standgehalten, sich für vier Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. Sie nahmen ihn gerne, den blonden Surfer mit den muskelbepackten Schultern und der guten Kondition.
Krasse Fehlentscheidung, dachte er, als er das Buch beiseite legte, um in seinen ausgebeulten Leinenhosen nach Zigaretten zu fummeln. Über ihm die Löwen, deren bronzene Köpfe von Plünderern abgeschlagen worden waren. Verunstaltet wie er. Jonathan tastete vorsichtig über sein Gesicht. Das rechte Auge hatte man retten können, aber über die linke Gesichtshälfte zog sich eine wulstige Narbe vom Ohr bis zum Kinn. Die plastische Chirurgie könne Wunder bewirken, aber erst müssten die Wunden gut verheilen. Er zog den Rauch tief in die Lunge. Hustete. Ein Krüppel war er, ein Krüppel mit einem Monstergesicht.
Ein blasser Mond stieg langsam hinter den Zypressen auf. Zikaden ratschten lärmend zwischen den Ruinen. Kühl strich der Wind über sein heißes Gesicht. Mit der gesunden rechten Hand blätterte er vorsichtig die Seiten um. Las noch einmal die Geschichte vom Trojanischen Krieg. Von Ruhm und Ehre des Soldatenlebens, von Verrat, Machtgier, Gräueltaten und Tod. Er hatte sich freiwillig für den Afghanistan-Einsatz gemeldet. Zur Friedenssicherung, für den Aufbau einer stabilen Demokratie, hieß es in offiziellen Verlautbarungen. Sein Vater war stolz auf ihn. Endlich.
Jonathan drückte die Zigarette auf den Steinen aus. Eine unerklärliche Scheu hinderte ihn daran, den Stummel einfach auf dem Boden mit den glattpolierten Steinquadern liegen zu lassen. Sorgfältig steckte er ihn zurück in die Packung. Er holte den Wodka aus dem Rucksack, klemmte die Flasche zwischen die Oberschenkel und drehte den Schraubverschluss auf, schluckte gierig. Genau hier unter dem Tor hatte Agamemnons Wagen anhalten müssen, da die Rampe zur Burg zu steil gewesen war für die schweren Karren, vollgeladen mit geraubten Schätzen. Die Heimkehr des Siegers in seine mächtige Burg. Und der Idiot wusste nicht, dass auch auf ihn der Tod wartete. Ein Sieger, der sich zu Tode gesiegt hatte.
Es hatte harmlos angefangen, mit Alkohol und Marihuana, wenn sie von einer Mission ins Lager zurückgekommen waren und nicht schlafen konnten. Trotz des Verbotes kreisten Flaschen mit russischem Wodka. Ein Joint ging von Hand zu Hand. Aber bald reichte das nicht, um die Bilder des Tages zu verdrängen. Nachts rollten die Panzer durch seine Träume, durch zerstörte Siedlungen, vorbei an zerschossenen Häusern, vor denen schwarz verschleierte Frauen standen, die den Soldaten ihre verwundeten und verkrüppelten Kinder entgegenhielten und »Mörder, Mörder« schrien. Heroin tauchte auf. Eingeschmuggelt. Heimlich sogen sie das Pulver durch die Nase. Rausch und Erleichterung, wenn der Stoff die Blutbahn erreichte. Gnädiges Vergessen. Endlich wieder schlafen. Hatten auch damals die Krieger Drogen genommen, um das Schlachten besser ertragen zu können? Jonathan tastete in seinem Rucksack nach dem Fixerbesteck. Und der Kriegsgrund? Die schöne Helena? Die verschwand schon bei Kriegsbeginn von der Bühne. Osama bin Laden? Al Kaida?  »Lügen, alles Lügen«, hatte Jonathan geschrien, als der Oberstleutnant ihn im Krankenhaus besuchte und von Heldentum redete und vom Kampf für die Freiheit am Hindukusch.
Fast ein Jahr lag der Einsatz zurück. Sein Zug war in eine Sprengfalle geraten. Panzerwagen explodierten. Jonathan überlebte den Anschlag schwer verwundet. Neben ihm, der Freund, der schreiend starb. Man flog ihn nach Hause, er wurde zusammengeflickt. Die Bilder ließen ihn nicht schlafen. Kinder kamen aus dem Dunklen, krochen im Schlamm, ihre abgetrennten Arme und Beine vor sich herschiebend, vor Schmerzen wimmernd. Nur Tabletten halfen. Und Alkohol. Und der regelmäßige Schuss Heroin, den zu drücken er gelernt hatte.
Agamemnon war als Sieger heimgekehrt. Nach zehn Jahren des Schlachtens und Mordens. Hatte er sich nach Klytämnestra gesehnt? Marieke hatte ihm nicht verziehen, dass er nicht mir ihr gemeinsam ins Studium gegangen war. Auf den Zivi hätte sie gewartet, auf den Soldaten nicht. Sie besuchte ihn kurz im Krankenhaus. Doch was er in ihren Augen las, waren Schock und Mitleid. Nicht Liebe. Sie strich ihm flüchtig über die Wange. Weinte. Dann ging sie.
Nun saß er allein unter dem gewaltigen Löwentor von Mykene. Hier wollten sie hin, gleich nach dem Abitur. Jonathan leerte den Inhalt des Rucksacks, riss hastig ein Tütchen auf, und noch eins und noch eins, schüttelte das weiße Pulver auf den Löffel, tröpfelte Zitronensaft und Wasser hinzu. Er hielt das Feuerzeug unter den Löffel und zog die Spritze auf, als sich das Pulver löste. Versager, dachte er, band den linken Arm ab. Zog mit den Zähnen den Gurt stramm. Fand die Vene.


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