Drachenbaum

2013-10-19_13-54-30Sie parkten direkt neben uns, in einer Tiefgarage mitten im Zentrum von Orotava.  Der ältere Herr – groß, leicht gebeugt, silbergraues Haar, helle Hose, ein dezent gemustertes Oberhemd unter dem leichten Sommerjacket – war ausgestiegen, fasste sich mit der linken Hand ans Kreuz, verzog kurz das Gesicht, richtete sich dann zu seiner vollen Länge auf. Er ging um den Leihwagen herum, öffnete die Autotür. »Komm, meine Liebe!« sagte er und stützte ihren Ellbogen beim Aussteigen.  Auch die Frau war groß, schlank, trug eine teure Seidenbluse, einen eleganten weiten Rock, Ledersandaletten. Steif stand sie neben dem Auto, während er die Tür zudrückte und mit der Fernbedienung den Wagen verriegelte. Sie gingen vor uns her die gepflasterte Dorfstraße hinauf bis zum historischen Ortskern. Vor einem imposanten Herrenhaus, mittlerweile zum Hotel umgebaut, lud ein Schild zur Kaffeepause ein. Durch ein Eingangstor mit offenstehenden Holzflügeln folgten wir ihnen aus der heißen Sonne in die angenehme Kühle einer Vorhalle mit hoher, kunstvoll verzierter Holzdecke. Zum Innenhof hin lag das Café mit einer kleinen, gefliesten Terrasse.  Der Mann ging zielsicher auf die blauen Korbstühle zu, rückte einen Stuhl für seine Frau zurecht, wartete, bis sie bequem saß.  Er nahm die Karte vom weiß lackierten Holztisch, blätterte. »Was möchtest du trinken?« Keine Antwort, das Gesicht der Frau blieb ausdruckslos.

Der Ausblick von der Terrasse war überwältigend. Im Mittelpunkt des tiefer gelegenen Hofes plätscherte ein steinerner Springbrunnen und kühlte mit seiner Wasserfontäne die heiße Luft. Ein Tontopf mit dunkelgrünen Ranken stand auf der Wasser speienden Säule. Um den Brunnen herum ein Beet mit wild wuchernden Strelitzien, deren Papageienköpfe die märchenhafte Atmosphäre in dem kleinen Garten verstärkten. Die Fächerkronen zweier schlanker Palmen spendeten Schatten, verstellten aber nicht den Blick auf das Hafenstädtchen weiter unten, von dessen lärmender Betriebsamkeit hier oben nichts zu spüren war. Die Küstenlinie mit den bis fast ans Ufer reichenden Lavafelsen ließ Häuser und Hotelanlagen am Strand zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Weiße Schaumkronen auf dem glitzernden Meer unter azurblauem Himmel. Postkartenkitsch. Atemberaubend schön. Von all dem schien die Frau nichts mitzubekommen. Der Ober kam, schien erfreut, die beiden zu sehen, schüttelte dem Mann die Hand, verbeugte sich kurz vor der Frau, die nicht reagierte. Der Mann klappte die Karte zu, sagte ein paar Worte auf Spanisch, der Kellner lachte, verschwand im Inneren des dunklen Cafés. Der Mann schaute seine Frau an, berührte ihren Unterarm, sagte ein paar Worte.  Sie nickte. Er stand auf, drückte ihre Schulter, ging über den Hof und verschwand in einem Anbau, in dem wohl die Toiletten untergebracht waren. Die Frau drehte den Kopf, blickte ihm nach, wurde unruhig, rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Panik flackerte auf in ihren Augen. Als er wieder auf die Terrasse kam, entspannten sich ihre Züge, sie drehte den Kopf zurück, schaute auf ihre Hände. Er setzte sich wieder neben sie, streichelte ihren Arm. Der Kellner brachte ein Glas Wein, eine Tasse Kaffee, zwei Mandeltörtchen.

Später trafen wir sie, wie sie Arm in Arm durch den botanischen Garten schlenderten. Langsam und gemächlich. Immer wieder blieb er stehen, deutete auf Blumen und Bäume, sprach mit ihr. Er führte sie quer über die blühende Wiese zu einem riesigen Drachenbaum. Behutsam legte er ihre Hände an die raue Rinde des Stammes. Sie streichelte den Baum. Umarmte ihn, drückte ihr Gesicht an das dunkle Holz. Dann drehte sie sich um zu ihm. Lächelte.


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