Praia de Meco 2

Ja, ja, ja, tragisch, tragisch, tragisch. Egal, welche Zeitung man aufschlägt. ich kann das heuchlerische Geschrei nicht mehr hören. Als hätten diese schreibenden Schmierfinken eine Ahnung, was tragisch bedeutet. Unschuldig schuldig werden: Wer ist hier unschuldig schuldig geworden? Ich – als Rektor der Universität? Das gestörte Kerlchen, das den »Dux« spielte und sich nun heulend bei seinen Eltern verkrochen hat? Er habe das nicht gewollt, ist das einzige, was man aus ihm herausbekommt. Und jetzt das Geschrei, die Aufnahmerituale zu verbieten. Verbieten ist ja immer gut, das ist einfach, kommt gut an, beruhigt die Volksseele und kostet nichts.
Ich bin gegen jede Form der Zensur. Jeden Tag sterben Leute auf den Straßen – besonders hier in Portugal – wo das Auto zum Sozialprestige gehört und keiner dieser rasenden Machos den Wagen wirklich beherrscht, ganz zu schweigen vom Alkoholkonsum. Schreie ich deswegen nach Verboten? Keine Autos mehr einführen oder den Leuten verbieten, auf die Straße zu gehen. Sie könnten von irgendeinem Idioten überfahren werden? Das ist doch irre.
Klar geht es mir um den Ruf meiner Universität. Universidade de Lusofana, eine private Institution; es ist schwierig, jedes Jahr die Fördergelder zusammenzukriegen. Natürlich ist jeder Neustart mit Problemen verbunden. Wir haben keine lange Tradition wie Coimbra, wir können uns noch nicht leisten, die besten Studenten auszusuchen, deshalb aber von einer drittklassigen Universität zu sprechen, trifft die Sache nicht. Natürlich nehmen wir jeden auch noch so schlechten Abiturienten auf, wenn die Eltern genügend zahlen. Wir brauchen das Geld, denn wir müssen jede Menge Stipendien vergeben, sonst bekommen wir die Mindestanzahl der Studenten gar nicht zusammen. Mir blutet schon das Herz, wenn ich mir die Zeugnisse anschaue oder die »akademischen« Leistungen gerade unserer Stipendiaten aus den früheren Kolonien. Aber immerhin ist das genau das Ziel der grupo lusofana, den Bildungsgrad  in diesen Ländern zu erhöhen. Sonst bekämen wir überhaupt keine staatlichen Gelder .
Selbstverständlich wollen diese jungen Leute dazugehören, dazugehören zur akademischen Elite des Landes. Und wie wollen sie das bewerkstelligen: durch Aufnahmerituale natürlich. Ein alter Zopf. Kennen wir von der Army zur Genüge. Auch das altehrwürdige Coimbra hatte vor Jahren seinen Skandal, als die reichen Eltern einer der betroffenen Studenten klagten, weil der Schwächling die Mutprobe nicht durchhielt.
O.K., am Strand ist die Sache aus dem Ruder gelaufen. Ich glaube dem »Herzog« sogar, dass er die Konsequenzen nicht übersehen hat.  Der Junge ist nicht dumm. Nein, eigentlich hochintelligent. Aber Intelligenz und Brutalität schließen sich nicht aus. Sieht man schon an seinem Vater, einem der einflussreichsten Unternehmer im Lande. Der Junge hat früh angefangen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Die Organisation der jährlichen praxas als Spielfeld. Steile Karriere. Aber die  andern sechs – natürlich ein Drama, dass sie ihre Dummheit mit dem Leben bezahlen mussten – sind keine geistigen Leuchten, ich habe mir ihre Zeugnisse angesehen. Also weichen sie auf eine Nebenkarriere aus, wollen dazugehören, schmeicheln sich ein beim »Dux«, sind seine »Untergebenen«. Kennen wir das nicht? Portugal ist geprägt durch seine  Diktatoren. Vive Salazar.
Natürlich ist die Krabbelei am Strand auf allen Vieren mitten im Dezember nur lächerlich, dazu noch mit Steinen um die Fußgelenke. Die paar Zeugen – alles naive Dorfbewohner – müssen vom Glauben abgefallen sein und haben sich sicher hundertmal bekreuzigt. Die Elite unseres Landes auf Knien im Sand robbend.  Die Beantwortung von Fragen mit dem Rücken zum Meer ist schon origineller. Zumindest Kopfarbeit.  Bei Nichtbeantwortung ein paar Schritte zurück Richtung Meer finde ich auch nicht schlecht. Sollte man auch in den Seminaren einführen. Ha, ha, ha. Nicht immer diese Verständnisgesäusel. Nee, Konsequenzen tragen für Nichtwissen, egal ob aus Dummheit oder Faulheit.
Die grenzenlose Naivität kommt erst wieder zutage, wenn man die Umstände bedenkt. Das Meer war seit Tagen unruhig, die Wellen hoch. Als hätten die noch nie was von Monsterwellen gehört. Der Dux hat sie einfach zu tief ins Wasser gehen lassen. Er selbst natürlich auf dem trockenen Sand, seine Macht auskostend. Eine unheilvolle Konstellation. Intelligenz  und Herrschsucht gegen Dummheit und der Sehnsucht nach Gehorsam und Unterwerfung, dem unbedingten Wunsch dazuzugehören. Die Psychologen werden ihre Freude haben, da wird sich manch Analytiker eine goldene Nase verdienen mit seinem Geseier.
Gut, dass die Verhöre geheim sind. Keine Presse zugelassen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Das politische Establishment hängt mit drin. Und mein Job ist es, die Reputation meiner Universität zu schützen. Gottseidank stehe ich nicht allein da. Auch meine Kollegen fürchten um ihren Ruf. Um ihren Job. Ich habe keine Angst, dass die »Wahrheit«, was immer das ist, auf den Tisch kommt. Die Presse wird sich abregen, die Meldungen werden aus den Zeitungen verschwinden. Der Prozess wird ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden, das Thema ist zu brisant. Kein Politiker hat Interesse, das portugiesische Universitätswesen der Lächerlichkeit preiszugeben.  Wir müssen die Sache nur aussitzen.


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