Herbstzeitlose

herbstzeitlose»Muss das wirklich sein?«, Gudrun Hoberger blickte ihren Mann angewidert an, der seine Stulle dick mit Leberwurst belegte und sich noch ein Bier nachgoss.
»Doktor Jensen hat doch gesagt, dass du dringend abnehmen musst. Sonst kriegst du bald überhaupt keine Luft mehr.«
»Ach was«, sagte Wolf-Dieter und rollte entnervt mit den Augen. «Das ist erst meine vierte Scheibe Brot. Und außerdem schmeckt es mir.«
Gudrun schloss resigniert die Augen. Wenn jetzt noch sein blöder Spruch kommt, greife ich zum Messer. Er kam. Der Singsang seiner sonoren Stimme:

Gönn dir was Gutes, auch wenn du in Not bist.
Was hast du vom Leben, wenn du erst tot bist?

Wolf-Dieter lachte, klopfte sich auf den Bauch. Rülpste.
»Dicke sind gemütlich«, sagte er. »Deine Nerven wären auch besser, wenn du etwas zulegen würdest. Siehst aus wie ein Gerippe.«
Gudrun hatte genug. Abrupt stand sie auf.
»Mach, was du willst«, sagte sie kurz angebunden. »Es ist schließlich dein Herz, das bald schlappmacht. Ich gehe joggen.«
Warum ließ sie ihn nicht einfach in Ruhe? Sollte er sich doch zu Tode fressen und saufen. War ihr doch egal. Seine Lebensversicherung war hoch genug, sodass sie keine Zukunftsängste haben musste.
»Gerippe«, murmelte sie, schlüpfte in ihren blauen Jogginganzug und zerrte das rote Schweißband über ihre blonde Mähne. Wolf-Dieter wird sich noch wundern, was für Chancen ich bei den Männern habe. Auch mit 45. Wolf-Dieter, dieser eingebildete alte Sack.
Leichtfüßig trabte sie aus dem Haus, öffnete die Gartenpforte, lief den Lerchenweg hinunter, bog nach rechts auf die Huntestraße ab, vorbei am Schulzentrum in Richtung Fluss.
Gerhard wartete bereits vor der Brücke. Der große, schlanke Gerhard mit dem dunklen dichten Haar und dem charmanten Lächeln. Sie trafen sich immer ganz zufällig, beim abendlichen Dauerlauf zum Tilly-See, waren nie verabredet, aber Gudrun wäre enttäuscht gewesen, hätte er nicht an der Brücke auf sie gewartet.
»Hi«, sagte er und küsste sie rechts und links auf die Wange. »Du siehst wieder umwerfend aus.«
Wie lange hatte Wolf-Dieter ihr kein Kompliment mehr gemacht. Er nahm sie ja gar nicht mehr wahr. Wie hatte er sie verwöhnt, als er vor über 10 Jahren um sie geworben hatte. Und sie hatte sich wohlgefühlt in den Armen des lebenserfahrenen Mannes. Gut verdient hatte er. War erfolgreich in seinem Beruf. Und bei den Frauen. Ein Womanizer. Doch wofür interessierte er sich heute? Für Bier, fettes Essen, den Fernseher.
»So nachdenklich heute? «, fragte Gerhard und strich ihr leicht über den Arm.
»Nein, nein«, sagte Gudrun und ein wohliges Gefühl durchströmte sie. »Es ist nichts. Mein Mann macht mir Sorgen.«
»Ist er krank?« Gerhard schien nicht wirklich besorgt.
»Sein Herz«, sagte sie. »Das will nicht mehr so recht. Er ist ja auch so viele Jahre älter als ich.«
Meine Güte, was tat sie da, verschaffte sie sich schon ein Alibi? Sie trabten zusammen los, und Gudrun hob das Tempo an. Wie locker Gerhard neben ihr herlief. Wie intensiv seine blauen Augen sie angeschaut hatten. Er mochte sie, da gab es keinen Zweifel. Sie gehörte nicht zum alten Eisen, auch wenn er einige Jährchen jünger war als sie. Sie war immer noch eine begehrenswerte Frau. Wie sie dieses Gefühl genoss.
Nach dem langen Winter war es endlich Frühling geworden. Das Gras war grün. Überall Gänseblümchen. Schafe grasten auf eingezäunten Deichabschnitten. Lämmer stakten tapsig neben ihren Müttern her, versuchten ungeschickt, an die Milchquelle zu kommen.
Sie liefen am rechten Ufer der Hunte nach Norden, überquerten ein paar Kilometer später eine kleine Fußgängerbrücke, trabten einen feuchten Waldweg entlang. Atemlos ließen sie sich auf einem Baumstamm nieder, direkt am Ufer des Tilly-Sees. Schweigend saß sie neben Gerhard, fühlte ihren Atem ruhiger werden, nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche und schaute auf die spiegelnde Fläche des Sees. Dass Kribbeln auf der Haut verstärkte sich, als er seinen Arm und ihre Schultern legte.
»Frierst du? «, fragte er besorgt. »Nicht dass du dich erkältest.« Und dann zog er sie an sich und küsste sie.
Als er die Hand unter ihre Joggingjacke schob, stieß sie ihn weg. «Ich bin verheiratet«, sagte sie. Aber er lachte und drängte sich an sie.
»Du willst es doch auch. Gib es zu«, flüsterte er und biss in ihren Nacken.
»Ich liebe ihn nicht mehr«, sagte Gudrun.
»Da gibt es Wege«, sagte Gerhard und ließ seine Hände in ihre Jogginghose gleiten.
.
Wolf-Dieter schaute die Sportschau, als sie nach Hause kam.
»Bist lange gelaufen heute«, sagte er, ohne sich umzudrehen. Sie blickte auf seinen kahlen Schädel.
»Besser Sport machen als Sport in der Glotze angucken«, sagte sie. Er schenkte sich ein Bier ein, rieb sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund.
»Das tut gut!«
Ich könnte ihn umbringen, jetzt sofort, mit meinen bloßen Händen.
»Ich habe dir einen gemischten Salat gemacht, mit Bärlauch«, sagte Wolf-Dieter und Gudrun glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. «Den isst du doch immer so gern, wenn du vom Joggen kommst.«
Was sollte das jetzt? Ein Friedensangebot? Sie fühlte Gerhards Hände noch auf ihrem Körper. »Gib mir ein Bier«, sagte sie.
Er stand auf, ging schwerfällig in die Küche, kam mit zwei Flaschen Bier und einer Schüssel gemischtem Salat zurück.
»Vielleicht hast du ja Recht«, sagte er. «Keine Chips heute, keine Erdnüsse. Mal was Gesundes zur Abwechslung.« Er stellte zwei Glasteller auf den kleinen Couchtisch, holte Besteck, goss Bier in die Gläser.
»Ein bisschen bitter, die Vinaigrette«, sagte sie kurze Zeit später und schlang hungrig eine große Portion Salat in sich hinein. Er stocherte in seinem Teller, nahm eine Cocktailtomate, ein Stück Gurke, kaute genüsslich und nickte:
»Stimmt. Die Vinaigrette ist zu bitter. Sorry.«
Und dann ging alles ganz schnell. Gudruns Mundschleimhaut fing höllisch an zu brennen. Sie konnte nicht schlucken. Ihr wurde übel, die Gedärme revoltierten. Gudrun krümmte sich vor Schmerz, bekam keine Luft mehr. Der herbeigerufene Notarzt ließ sie ins Krankenhaus einweisen. Am nächsten Morgen war sie tot. Atemlähmung. Kreislaufversagen.
Zu den Polizeibeamten sagte Wolf-Dieter, er habe sie gebeten, den Salat stehen zu lassen. Ihm habe er auch nicht geschmeckt, einfach einen Tick zu bitter. Der Dienst habende Arzt stellte eine Lebensmittelvergiftung fest. Reste der Herbstzeitlosen waren im Mageninhalt analysiert worden. Schulterzucken bei den Medizinern. Im Frühjahr gab es immer wieder diese Verwechslungen. Warum kauften die Leute ihren Bärlauch nicht einfach auf dem Markt?
»Welch tragischer Unfall«, sagten die Nachbarn. »Der arme Mann. Die Frau so viel jünger als er.«
Sie staunten nicht schlecht, als nach einem halben Jahr eine neue Frau in den Bungalow einzog und sich im Garten zu schaffen machte. Fast so alt wie er. Rundlich und gemütlich und immer mit einem Lachen im Gesicht. Schon am nächsten Wochenende lud sie die Nachbarn zum Grillen ein. Viel Fleisch gab es und leckeren Kartoffelsalat.


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