Date im U-Bahn Schacht

schuhNoras Hände waren feucht, als sie die Rolltreppe zur U-Bahn-Station  hinunterfuhr. Die Handlaufschiene aus blauem Plastik klebte. Warm war es, die Luft stand. Es stank nach Autoabgasen und Bratwurst. Angeekelt zog sie die Hand weg, versuchte, auf der steilen Treppe die Balance zu halten. Vielleicht hätte sie doch nicht die neuen High Heels mit den spitzen silbrigen Absätzen anziehen sollen. Aber es war das erste Date mit dem Kollegen vom Consulting. Sie wollte sexy aussehen im kurzen schwarzen Ledermini, der flott geschnittenen Jacke und dem grünen Seidenschal, der so vortrefflich zu ihren grau-grünen Augen und den rötlichen Locken passte.
Eigentlich spinne ich total, dachte sie, als sie vom lärmenden Marienplatz mit dem romantisch angestrahlten Rathaus und dem Stimmengewirr der Menschen hinunter in die dunklen Eingeweide der Erde fuhr. Flüchtig dachte sie an ihre Babytochter, die sie an diesem Freitagabend bei der Oma abgegeben hatte. »Wenn ich zu viel trinke, übernachte ich bei Rita«, sagte sie, als sie ihrer Mutter das brabbelnde Kleinkind in die Arme drückte. »Fläschchen, Windeln, Schlafsack und Janas Schnuffeltuch sind in der Korbtasche.«
»Genieße den Abend«, sagte ihre Mutter und streichelte dem Kind zärtlich über die wenigen, blonden Haare.«Du weißt, ich freue mich darauf, die Kleine die ganze Nacht bei mir zu haben.«
Ob Thomas schon vor dem Buchladen wartete? Ob er verheiratet war? Wahrscheinlich. Wer ist das mit Mitte dreißig nicht. Oder bereits wieder geschieden. Auf jeden Fall schien er an diesem Wochenende nicht nachhause zu fahren.
»Kannst du mir nicht das Münchener Nachtleben zeigen?«, hatte er gefragt und sie mit seinen blauen Augen herausfordernd gemustert.
Ihr Mann war auf Klassenfahrt in Hamburg. Würde erst morgen zurückkommen, also waren keine Probleme zu erwarten. Sie freute sich auf einen erotischen Abend, ohne Babygeschrei und Windeln, einen Abend, an dem sie wie früher die bewundernden Blicke eines Mannes genießen konnte. Meine Güte, sie war 32 und hatte auch noch ein anderes Leben als das einer Babyversorgungsmaschine. Ihr Mann fasste sie im Moment überhaupt nicht an, aber eigentlich hatte auch sie keine Lust.
In der Shopping-Mall im ersten Stock war es recht leer. Für die Münchener Nachtschwärmer war es zu früh, und die Geschäfte in der Innenstadt waren bereits geschlossen. Auch vor dem Buchladen stand niemand. Sie blieb vor der großen Fensterfront stehen, schaute sich die Reihe der Lokalkrimis und die Spiegel-Bestseller in der Auslage an, Bücher, die wie immer als Blickfang ganz vorne lagen. Wie lange hatte sie schon keinen Roman mehr gelesen. Aber das Baby und der Halbtagsjob fraßen ihre ganze Zeit auf. Abends fiel sie immer todmüde ins Bett. In einer Ecke des Schaufensters lagen Mutter-Kind-Ratgeber.
Stillen leicht gemacht.
Tausend Tipps für das erste Jahr.
Hilfe, mein Kind schläft nicht durch.
Schade, dass es schon so spät war und der Laden zu. Sie würde gerne ein paar Bücher anlesen. Sie schaute auf die Uhr. Schon nach halb neun. Thomas schien sich zu verspäten. Die junge Frau nahm ihr iPhone aus der Tasche, nein, sie wollte ihm nicht hinterhertelefonieren, das wirkte zu bedürftig. Sie holte sich Janas Babyfotos auf das Display und war so konzentriert, dass sie die zwei jungen Männer, die die Rolltreppe hinuntergefahren waren, erst bemerkte, als im Geräusch einer herandonnernden U-Bahn jemand hinter ihr flüsterte:
»Nicht umdrehen, Alte, gib das Smartphone her. Klappe halten!«
Sie war so verblüfft, dass sie ohne nachzudenken das Gerät über die Schulter nach hinten reichte. Es wurde ihr aus der Hand gerissen, und als sie herumwirbelte, sah sie zwei Jugendliche, die die Rolltreppe zur unteren Plattform hinunterrannten, um den eingefahrenen Zug zu erwischen.
»Haltet sie!«, schrie sie. »Mein iPhone!« Sie schüttelte die High Heels von den Füßen, nahm die Schuhe in die Hand und rannte den jungen Männern hinterher. Schließlich hatte sie früher Leistungssport gemacht. Zwei schwarz verhüllte Frauen, die ihr auf der aufwärtsfahrenden Rolltreppe entgegenkamen, schauten sie entgeistert an. Ein Betrunkener hinter ihr lallte: »Mei, is di schnoi!« Sie holte die beiden Jungs ein, der eine schlüpfte noch durch die sich schließenden Türen des abfahrenden Zuges, den andern erwischte sie an der Jacke und krallte sich fest.
»Gib mir mein iPhone zurück«, zeterte sie. Und als der Kerl sich losreißen wollte, hämmerte sie mit den Schuhen auf seinen Kopf ein. Das Resultat war verblüffend. Der jugendliche Räuber ging ohne einen Laut zu Boden, sackte einfach zusammen. Die Stahlspitze eines Absatzes steckte in seinem Kopf. Im Nu war eine eifrig gestikulierende Menge am Tatort versammelt. Nach der Polizei wurde gerufen und nach einem Arzt. Der verletzte junge Mann wurde – mit einer Infusion versehen – im Laufschritt von Sanitätern abtransportiert, starb aber im Krankenhaus an den Verletzungen im Hirnbereich.
Die Familie des Jungen nahm einen Anwalt und erhob Anklage. Die Frau habe sich einer tödlichen Waffe bedient, wurde vor Gericht argumentiert. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel sei nicht gewahrt worden. Niemand verdiene getötet zu werden, nur weil er sich unrechtmäßig ein Handy aneignen wollte, das sagte auch der Richter, der einen Sohn im Teenageralter hatte, der gerade beim Ladendiebstahl erwischt worden war. Erschwerend kam hinzu, als sich herausstellte, dass Nora in jungen Jahren Taekwondo gemacht und den schwarzen Gürtel erworben hatte. Sie habe den Tod des jungen Mannes billigend in Kauf genommen, hieß es in der Urteilsbegründung. Er sei ihren Schlägen hilflos ausgeliefert gewesen. Zwei Jahre auf Bewährung. Noras Anwalt ging in die Berufung.


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