Gier

Der große Reisebus mit dem Zielort Düsseldorf/Flughafen fährt in eine der Parkbuchten hinter dem Essener Hauptbahnhof. Drei Uhr nachmittags, grauer Himmel, windig, aber trocken, lebhaftes Treiben in Richtung Innenstadt und Fußgängerzone. Rollkoffer rumpeln über das Pflaster, scheinen ihre in Richtung Gleise hetzenden Besitzer überholen zu wollen. Eine Gruppe Japaner trippelt ungeduldig vor dem Cityhotel auf und ab und wartet wohl auf den Stadtführer. Vor den Plakaten des Kino-Centers stehen Trauben von Jugendlichen und diskutieren lautstark. Heavy Metal Sounds. Autos hupen, Motoren drehen auf, dazwischen das Klingeln und quietschende Halten der Straßenbahnen. Die üblichen Verdächtigen sitzen auf den Bänken des vernachlässigten Grünstreifens, struppige Hunde zu ihren Füßen. Der Joint geht von Hand zu Hand, gierige Züge, tiefes Inhalieren, bis der Stoff die Blutbahn überschwemmt. Reisende machen einen Bogen um die herumliegenden Becksflaschen. Alles friedlich. Die beiden Polizistinnen im vorbeikriechenden Einsatzwagen sehen keinen Grund auszusteigen und setzen ihre Streife fort.

Aus dem Bahnhof stürzt eine Gruppe grauhaariger Rentner, die in der Halle Schutz vor dem lebhaften Nordost gesucht und sich über die Verspätung des Zubringerbusses zum Flughafen geärgert haben. Sie drängen in den Bus, an Brigitta vorbei, die mit ihrer Liste an der vorderen Tür steht und versucht, die Namen der Teilnehmer abzuhaken. Wie vor jeder Reise ist sie angespannt. Sie kennt niemanden der 35 Teilnehmer und Teilnehmerinnen von früheren Reisen und runzelt die Stirn, als sie das Durchschnittsalter der Gruppe überschlägt. Obwohl sie viel Erfahrung hat mit Rentnern und Pensionären auf Reisen, ist sie immer froh, wenn zumindest der größte Teil der Gruppe einen fitten Eindruck macht. Brigitta ist Ende 50, attraktiv, selbstbewusst und als Reiseleiterin hat sie die Erfahrung gemacht, dass diese älteren Herrschaften schwieriger zu betreuen sind als eine pubertierende Schulklasse. Ok., sie würde kein Alkoholproblem bekommen, Koma-Saufen ist nicht mehr angesagt, aber dafür sind ihre Gäste immer ungeduldig, hören nie zu, wenn man ihnen etwas erklärt, kommen zu spät zur Führung oder gar nicht oder beschweren sich übers Essen, über die Betten, über den Verkehrslärm vor den Hotelzimmern. An das Gejammere hat sie sich gewöhnt, sie bleibt freundlich und professionell. Wie immer hat sie genügend Zeit einkalkuliert, um den Flieger nach Malaga ohne Hektik zu erreichen, auch wenn es stauig werden sollte.
An der gegenüberliegenden Seite hievt der Busfahrer die Koffer in die offenstehenden Klappen. Die meisten Gäste haben ihre Plätze eiligst besetzt, aber zwei ältere Herren haben die mittlere Tür von innen geöffnet, sind mit ihren Frauen ausgestiegen, um noch ganz schnell eine Zigarette durchzuziehen. Der Fahrer hat jede Menge schwarzer und dunkelblauer Koffer unterzubringen und Brigitta geht die Liste noch einmal konzentriert durch, um zu sehen, ob vielleicht einer ihrer Gäste fehlt. Als sie aufblickt, stehen zwei junge Männer im Kapuzenshirt im vorderen Aufgang und blicken in den Bus.
»Was wollt ihr hier?«, schreit Brigitta, ohne groß zu überlegen. »Raus hier, aber dalli!«
»Nu mal locker, Frau!«, sagt einer der Jugendlichen mit einem Akzent, den sie nicht einzuordnen vermag. »Iss Fernbus Berlin?«
»Nix Fernbus Berlin!«, sagt Brigitta »Raus hier!«
Die beiden Burschen zucken die Schulter, klettern aufreizend langsam die Stufen hinunter und verschwinden im Bahnhofsgetümmel.
Entgangen ist ihr, dass ein dritter Junge mit zurückgeschlagener Kapuze durch die mittlere Tür in den Bus gestiegen ist. Freundlich hat er das auf der gegenüberliegenden Seite sitzende Ehepaar gegrüßt. Die Frau starrt ihn an.
»Der ist aber jung, Helmut«, sagt sie und stößt ihren Mann mit dem Ellbogen an. »Der senkt unser Durchschnittsalter erheblich.«
Der Gatte wirft einen zerstreuten Blick auf die Nachbarbank, murmelt: »Das ist doch nur gut!«, und versenkt sich wieder in seine Zeitung.
Auch im hinteren Teil des Busses wird kurz gerätselt über das Interesse des jungen Mannes an den Sehenswürdigkeiten Andalusiens, aber da der Großteil der Reisegruppe sich nicht untereinander kennt, ist man unsicher und traut sich nicht, den Jugendlichen anzusprechen. Der dunkle Teint, die schwarzen Augen lassen einen Migrationshintergrund vermuten und man will keinen rassistisch gefärbten Vorurteilen aufsitzen, denn schließlich sind sie alle gebildete Leute, kulturell interessiert und mit einer Vorliebe für Auslandreisen.
Erst als ein pensionierter Lehrer beobachtet, dass der junge Mann sich aufrichtet und eine Jacke aus dem Netz über dem Sitz nimmt, fragt er sich, wessen Jacke das wohl ist. Aber was geht ihn das an? Wenn die da draußen unbedingt rauchen müssen und nicht auf ihre Sachen aufpassen, sind sie  selbst schuld. Er hat sich  das Rauchen auch abgewöhnt. Reine Willensstärke! Außerdem will er nicht als ausländerfeindlich abgestempelt werden. Hat der junge Mann einfach etwas in seiner Jackentasche vergessen? Das Smartphone vielleicht? Ohne Smartphone hält die heutige Jugend es doch sowieso nicht aus. So dauert es eine ganze Weile, bis eine Teilnehmerin Brigitta fragt, ob der junge Mann dort hinten auch mit nach Spanien fährt.
»Welcher junge Mann?«, fragt Brigitta und hechtet in den Bus, zwängt sich durch die im Mittelgang stehenden Teilnehmer ins hintere Ende und baut sich vor der von dem Jugendlichen besetzten Sitzbank auf.
»Was machst du hier? Wer bist du?«
Der Junge sieht sie mit einem leeren Blick an, zieht die Schultern hoch, sagt:
»Fernbus? Nix Fernbus Berlin?«, springt auf, stößt Brigitta zur Seite. Er stürmt zur mittleren, immer noch offenstehenden Tür, an der – wie Brigitte jetzt erst sieht – sein Kumpel wartet. Mit hochgezogenen Kapuzen rennen die jungen Männer in den Fußgängertunnel zur Innenstadt.
»He, halt!«, schreit Brigitta, aber da sind die Jungen schon weg. Keiner der anwesenden Männer hat die Geistesgegenwart, die Halbwüchsigen festzuhalten. Auch die Raucher draußen stutzen, schauen den beiden Gestalten nach und drücken langsam ihre Zigaretten aus. Im Bus das Geschrei: »Mein Portemonnaie ist weg!«
Natürlich fehlt nicht nur e i n Portemonnaie. Es fehlen mehrere Geldbörsen und – was verschärfend hinzukommt – es fehlen Pässe, Personalausweise, Führerscheine und leider auch einige Flugtickets. Wie haben die Jugendlichen das in so kurzer Zeit geschafft, fragt sich Brigitta. Sind die Teilnehmer dieser Reisegruppe denn völlig blind und verblödet?
Brigitta greift zum Smartphone und ruft die Polizei an. In den zwanzig Minuten, die sie auf den Streifenwagen warten müssen, versucht sie, den Düsseldorfer Flughafen zu erreichen. Wie soll ihre Reisegruppe ohne Pässe und Flugtickets nach Spanien kommen?
Die Flughafenangestellten zumindest sind hilfsbereit und machen sich daran,  Ersatzpapiere anzufertigen. Die Polizisten dagegen zucken resigniert die Achseln. Trotz minutiöser Täterbeschreibung – die älteren Herrschaften haben eine verblüffende Beobachtungsgabe – machen die Beamten den Opfern wenig Hoffnung, der Diebe habhaft werden zu können. Und minderjährig sind die wahrscheinlich auch, zumindest werden sie das behaupten, also wird der Richter sie wieder laufen lassen.

Es wurde trotzdem eine schöne Reise. Zumindest für die Teilnehmer. Brigitta wunderte sich, als sie ein paar Tage nach der Rückkehr zu ihrem Chef gerufen wurde. Ein Teilnehmer hatte  seinen Anwalt eingeschaltet, der Brigitta eine Verletzung der Aufsichtspflicht vorwarf und das Touristikunternehmen regresspflichtig machen wollte, da der Zwischenfall im Bus ihm die Urlaubsfreude geschmälert habe. Er verlangte Schmerzensgeld. Dabei wusste Brigitta genau, er gehörte er zu den wenigen, denen man nichts gestohlen hatte.

 

 


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