Fünf Euro zehn

barrierefrei„Wo bleibt der Bus nur?“ Mathilda Grewens blickt unruhig auf die Uhr, streicht der siebenjährigen Jana, die apathisch in ihrem Rollstuhl sitzt, liebevoll über die Stirn und wendet sich an die anderen drei Mütter, die ebenfalls mit ihren behinderten Kindern an der Schulbushaltestelle einer niedersächsischen Kleinstadt warten.
„Herr Diesel ist doch sonst immer so pünktlich und zuverlässig.“
„Ich habe ja schon immer gesagt, auf die privaten Fahrdienste ist kein Verlass. Warum nehmen wir nicht das Rote Kreuz oder die Johanniter?“ sagt Hermine Hansen neben ihr mit verkniffenem Mund. Ihr Sohn ist mehrfach schwerbehindert, weil er mit zwei Jahren in den elterlichen Swimmingpool gefallen ist. Er konnte reanimiert werden, doch sein Gehirn ist durch den Sauerstoffmangel geschädigt worden. Seiner Mutter sieht man ihr hartes Los an, die permanente Pflege, die bitteren Schuldgefühle, die gescheiterte Ehe.
„Glauben Sie, die Transporte der Wohlfahrtsverbände sind besser? Es stand doch neulich erst in der Zeitung, dass die zwei Fahrer des Malteser Hilfsdienstes in Bremen  ein autistisches Kind vergessen haben und das arme Mädchen die Nacht angeschnallt in der Garage verbracht hat.“ wirft Ingrid Michaelis ein, die mit ihrem seh- und gehbehinderten Sohn ebenfalls auf den Bus wartet, der die Kinder in die Schule für Schwerstbehinderte bringen soll.
„Schuld ist doch Politik“, sagt Frau Grewens und blickt die anderen Mütter herausfordernd an. Für die sozialen Bereiche ist viel zu wenig Geld da. Die Etats der Sozialbehörden werden überall gekürzt. Und dann werden die Bustransporte ausgeschrieben und der billigst Anbieter bekommt den Zuschlag. Um Qualität geht es nirgendwo.“
„Genau. Ich habe gelesen, die Fahrer verdienen 5,10 Euro die Stunde. Oder man nimmt Ein-Euro-Jobber.“ weiß Ingrid Michaelis zu berichten, „Hauptsache, sie können einen Personenbeförderungsschein nachweisen.“
„Aber es gibt doch jede Menge Zivis. Bei Herrn Diesel fährt doch immer ein Zivi mit.“
„Es gibt eben nicht genug Zivis, seitdem die Bundeswehr nicht mehr so viel Leute braucht. Die meisten jungen Männer werden doch gar nicht mehr gezogen. Und nun ist der Markt für Zivis so knapp, dass man jeden nehmen muss: für Fahrdienste, zur Pflege von alten Leuten, in Kindergärten. Egal, ob der junge Mensch sich eignet oder nicht.“
„Eine Schande ist das“, wirft ein Vater ein, der mit dem Rollstuhl seiner kleinen Tochter bisher etwas abseits gestanden hat,“ dass ein so reicher Staat im sozialen Bereich immer die Billiglösungen sucht und dagegen die Banken mit Milliarden-Garantien absichert.“
„Trotzdem ist es ein Skandal, ein kleines behindertes Mädchen im Bus zu vergessen. Auch der einzelne hat eine Verantwortung, der Staat ist nicht an allem schuld. Ich habe gelesen, der betreffende Fahrer habe ein Alkohlproblem und der begleitende Zivi sei intellektuell so beschränkt, dass er morgens kaum zu seinem Einsatzort findet. Die Kollegen haben sich schon darüber lustig gemacht.“ sagt Frau Hansen.
„Ob das alles so stimmt, was die Zeitungen berichten, weiß man auch nicht“, gibt der Vater zu bedenken. „Natürlich mussten die beiden Fahrer entlassen werden. Doch das löst das Problem nicht. Es bringt auch nichts, den Maltesern den Auftrag für die Fahrdienste zu kündigen. Man müsste den Stundenlohn erhöhen, so dass sich mehr Bewerber melden und man die fähigsten aussuchen kann. Qualität kostet nun mal. Die allgemeine Empörung unserer Volksvertreter ist pure Heuchelei.“
„Wie in dem Fall vom kleinen Kevin. Da wird das Geld für das Amt für Soziale Dienst drastisch gekürzt. Der einzelne Mitarbeiter bekommt zwar den hochtrabenden Namen ‚Case Manager‘, aber er hat so viele Fälle zu bearbeiten, dass er sie unmöglich schaffen kann, geschweige dass er sich die Situation vor Ort anschauen kann. Er bleibt an seinem Schreibtisch hocken und kämpft mit den Papieren.“ sagt Frau Michaelis. „Und dann regen sich alle auf. Eine Schande ist das.“
„Trotzdem mache ich mir langsam Sorgen um Herrn Diesel. Der ist immer so verantwortungsbewusst. Und solange meine kleine Jana zur Schule gebracht wird, hat er noch keinen Tag gefehlt. Da stimmt was nicht.“
„Ich werde den Fahrdienst anrufen“, bietet der Vater an und zückt sein Handy. Er horcht ein paar Minuten ins Handy und sagt dann achselzuckend: „Die Sekretärin weiß von nichts und hat gerade erst nachgesehen, ob der Bus noch auf dem Parkplatz steht. Tut er. Ist bisher noch niemandem nicht aufgefallen.“
Hermine Hansen seufzt  : „Womit wir wieder beim Thema sind.“
„Ich werde Frau Diesel anrufen, ich glaube, ich habe die Nummer gespeichert.“ Mathilda Grewens sieht in die erstaunten Gesichter. „Ja, wir brauchten neulich für eine größere Familienfeier einen Fahrer, und Hannes Diesel hatte sich angeboten, die Fahrt zu übernehmen.“ Sie setzt erklärend hinzu: „.War billiger als ein Taxi, und Hannes ist immer ganz froh, wenn er nebenher noch was verdienen kann. Er hat zwei kleine Kinder und muss die Raten für sein Haus abzahlen.“
Die anderen sehen zu, wie sie eine Nummer in ihr Handy tippt. Und dann wird sie ganz blass. „Oh Gott“, stottert sie „Oh Gott. Das tut mir so leid, Frau Diesel.“ Dann beendet sie das Gespräch, dreht sich zu den  Zuhörern und sagt mit zitternden Lippen:
„Hannes Diesel ist gestern Nacht tödlich verunglückt.“ Er hatte den Fahrdienst übernommen für Behördenvertreter, die sich in Bayern eine vorbildliche soziale Einrichtung anschauen wollten. Auf der Rückfahrt ist ein übermüdeter Lastwagenfahrer von der Spur abgekommen und der Anhänger hat sich quergestellt. Hannes und sein Beifahrer sind tot, die Insassen sind mit leichten Verletzungen davon gekommen.“


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One Response to “Fünf Euro zehn”

  1. Gravatar of Gisela Gisela
    28. August 2010 at 18:09

    Eine Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.Der Fahrer ist
    verunglückt. Musste es tödlich enden? Es erscheint mir schwarz-weiss.

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