Das Boot ist voll

StacheldrahtEs war eine düstere Novembernacht und ich war allein zu Hause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer war. Ich öffnete die Augen und sah
ein gleißendes Licht, das sich immer mehr ausbreitete. „Sterbe ich?“, war mein erster Gedanke. Ich hatte gelesen, dass Menschen beim Übergang vom Leben in den Tod sich in einem Tunnel befanden und in der Ferne ein weißes Licht sahen. Diesem Licht kamen sie näher und näher, bis es ihre ganze Welt ausfüllte. Aber ich war erst Anfang 30, hatte noch so viel vor in meinem Leben. Natürlich wusste ich, dass ich ernsthaft krank war. Die Ärzte hatten vor einem Jahr einen Tumor am Gebärmutterhals diagnostiziert. Aber Gebärmutterhalskrebs, das war doch kein Todesurteil. Vor fünfzig Jahren noch wäre der Tumor in Windeseile entfernt worden. Aber nach dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems waren die Wartezeiten so lang, dass viele Patienten starben, ehe sie einen Termin im Krankenhaus bekamen. Das war so geplant, denn der Gesundheits-Fond war völlig ausgeblutet. Außerdem nahm seit der Mitte des 21.Jahrhunderts die Überbevölkerung erschreckende Ausmaße an, so dass auch die Weltregierung nicht mehr dagegen ankam. Die Alten- und Pflegeheime waren schon längst abgeschafft. Man hatte die alten Menschen überzeugt, dass sie nur eine Belastung für die nachkommenden Generationen waren, und Medikamente entwickelt, mit denen sie sanft und ohne Schmerzen „entschlafen“ konnten. Zur Not wurde auch nachgeholfen, denn die Jungen konnten einfach das Geld für die Pflege der Alten nicht mehr aufbringen. Wie denn auch? Es gab viel zu wenig Jobs, und das Heer der Arbeitslosen war ins Unermessliche gewachsen. Mein Vater plagte sich ab im Garten eines reichen Vorstandsvorsitzenden, wienerte dessen schwarze Limousine, mit dem er ihn zu den Sitzungen chauffieren musste. Meine Mutter putzte sich die Finger wund in der großen Villa, die von scharfen Hunden bewacht wurde, damit sie vor den marodierenden Gangs junger Männer geschützt war, die die Straßen unsicher machten.
Immerhin ließen sie uns in der alten Scheune auf ihrem Grundstück wohnen, das zu einer schäbigen Behausung umgebaut war. Aber ich hatte Zukunftschancen. Meine Eltern hatten sich für mich krummgelegt. Ich hatte – wie die meisten meiner
Altersgenossen – Betriebswirtschaft studiert und eine halbe Stelle als Consulting-Assistent in einer Filiale der Weltbank ergattert. Doch nun war ich ernsthaft krank geworden. Sollte das  das Ende sein? Natürlich gab es für mich keinen Gott, keinen Himmel und kein ewiges Leben. Ich ließ mich doch von den Pfaffen nicht für dumm verkaufen. Trotzdem wollte ich nicht sterben. Ich hatte ja noch gar nicht richtig gelebt.
Das aggressiv helle Licht fing an, mich anzusaugen. Ich schwebte aus meinem Bett, flog hinaus aus dem offenen Fenster und landete…wo? Im Paradies. Wieso ich das sofort wusste? Es war eindeutig. Ich stand in einem sonnendurchfluteten Garten auf einer saftgrünen Wiese mit einem Teppich von gelben Narzissen und roten Tulpen. Über mir rauschten die Blätter der Obstbäume im warmen Sommerwind, und pralle Orangen und rotbäckige Äpfel wuchsen mir fast in den Mund. Gierig streckte ich die Hand aus. Echtes Obst, das konnten sich zu Hause nur die Reichen leisten. Und die Ersatzprodukte mit den chemischen Geschmacksverstärkern schmeckten ekelhaft, auch wenn die meisten von uns sich daran gewöhnt hatten. Aber hier war das reinste Schlaraffenland, so wie es in meinen alten Kinderbüchern geschildert war. Es fehlte nur noch der Fluss, in dem Milch und Honig floss. Ich schaute mich suchend um und … erblickte einen Engel. Er sah genauso aus, wie er auf den Glanzbildern abgebildet war, die wir früher zur Belohnung im Kindergottesdienst bekommen hatten: lange, blonde, lockige Haare, blaue Augen, ein kindlich rundes Gesicht. Die Flügel konnte ich allerdings nicht sehen, die waren wohl auf dem Rücken zusammengefaltet. „Wieder eine“, sagte der Engel erstaunlich unfreundlich und schaute mich an. „Komm mal mit!“ Ich war schockiert. Ich dachte immer, Engel – wenn es sie schon gab – seien freundliche ätherische Wesen, sängen „Halleluja“ und strahlten Güte und Wohlwollen aus. Er nahm mich grob bei der Hand und führte mich zu einer riesigen Baracke, in der es vor Menschen nur so wimmelte. „Das ist das Auffanglager“, sagte der Engel, ließ meine Hand los und schubste mich in Richtung Eingang. „Du musst dich registrieren lassen. Vielleicht haben wir ja eine Verwendung für dich.“ Auch die Engelin am Empfang sah mürrisch und gelangweilt aus. “ Gottvater hat sich leider wohl nie Gedanken darüber gemacht, wie wir all die Toten aufnehmen sollen. Das Boot ist voll.“
„Muss ich jetzt in die Hölle?“, hörte ich mich voller Entsetzen sagen. Dabei glaubte ich an den Kinderkram schon lange nicht mehr.
„Hölle“, höhnte die Engelin, „die gibt es nicht mehr, seitdem der Juniorchef damals die neuen Regelungen eingeführt hat. Toleranz und Verständnis, hieß die Devise. Schließlich ist er stellvertretend für die Sünden aller Menschen gestorben. Wir sind gehalten, alle aufzunehmen, die kommen, ohne Ansehen der Person. Und nun haben wir den Salat.“
Das ist ja wie bei uns auf der Erde, dachte ich verwirrt. Da war das Boot auch schon lange voll, obwohl die Chinesen schon lange die Ein-Kind-Ehe eingeführt haben und die Inder die meisten weiblichen Säuglinge direkt nach der Geburt entsorgen.
Meine Personalien wurden aufgenommen und ich wurde in eine riesige Halle geschickt, um mir ein Lager zu suchen. Das war schwierig genug. Die Menschen lagen neben- und übereinander. Einige starrten lethargisch vor sich hin, Kinder schrieen und die Männer fluchten und versuchten, mir den Weg zu versperren.
„Alles voll. Hau ab!“, brüllte mich ein mit Motorradketten behängter Glatzkopf an.
Ich blieb verunsichert stehen.
Aber da ertönte plötzlich ein Fanfarenstoß und die Menschen rappelten sich hoch und ich ließ mich von dem Strom mitreißen bis zum Eingang eines überdimensionalen Stadions.
„Was ist hier los?“, wagte ich einen neben mir herhumpelnden alten Mann zu fragen.
„Spiele“, krächzte der Greis begeistert und hetzte hinkend weiter.
Am Eingangstor wurden gelbe und grüne Trikots verteilt, die die Menschen sich sofort überzogen. Es gab gelbe und grüne Hüte, gelbe und grüne Schals und gelbe und grüne Baseballschläger, deren Sinn ich nicht verstand. Ich hatte schon immer große Sportereignisse gehasst, besonders Fußball, wo die dumpfe Menge grölend die paar Männeken auf dem Rasen anfeuerten, um sich anschließend Straßenschlachten mit dem gegnerischen Verein zu liefern, bis sie von der Polizei zusammengeknüppelt wurden. Sollte hier ähnliches passieren. Im Himmel? Waren wir nicht hier, um fromme Lieder zur Ehre Gottes zu singen?
„Heute ist Luzifer selbst da!“, hörte ich einen Mann sagen. „Dummkopf“, erwiderte ein anderer. „Luzifer ist überall gleichzeitig. Tausende von Wettkämpfen finden gleichzeitig statt.“ Ich staunte. War Luzifer nicht der gefallene Engel? Der Teufel? Der, den Gott einst aus dem Paradies gejagt hatte?
Mit meinem gelben Triokot wurde ich zur Ostkurve des Stadions geschickt und stellte fest, dass die Grünen uns gegenüber saßen. Ein recht sympathisch aussehender junger Mann mit klugen grauen Augen und langen braunen Locken rückte sogar freundlich zur Seite, um mir Platz zu machen. Ein übriggebliebener Hippie, schoss es mir durch den Kopf. Einer von der Sorte „Make love, not war“.
Das Stimmengewirr war ohrenbetäubend. Mir völlig unbekannte Lieder wurden gegrölt. Die Menschen hoben die Arme über ihre Köpfe und machten die wohl in allen Stadien unvermeidliche Welle. Sprechchöre schrieen was von „gelb“ und „grün“ und „Macht sie nieder!“ Doch plötzlich brach der Lärm ab und es wurde auf einen Schlag totenstill. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte sich eine lichtumflutete Gestalt in einer prunkvoll vergoldeten Loge aufgerichtet und die Menge gaffte mit offenem Mund. Die Erscheinung hob grüßend den rechten Arm, in der Hand eine Fackel, die gleißendes Licht verströmte. Das gleiche aggressiv leuchtende Licht, das mich letzte Nacht geweckt hatte. Das ist Luzifer, der Lichtträger, durchfuhr es mich. Wer hat den Leuten bloß die Geschichte von dem schwarzen Teufel mit dem hässlichen Klumpfuß eingeredet? Luzifer war schön, überirdisch schön. Und seine charismatische Stimme, die rief: „Salve, ihr Auserwählten!“, ging unter im ohrenbetäubenden Jubel der elektrisierten Massen.
„Wir sind zusammengekommen, um uns gemeinsam den Kampf der grünen gegen die gelben Seelen anzuschauen. Die Stärkeren mögen überleben. Von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Amen!“
„Amen!“, raste die aufgepeitschte Meute auf den Rängen. Ganz schön primitiv, dachte ich. Im alten Rom haben sich die Gladiatoren wenigstens noch als Thraker oder Samniten verkleidet und phantasievolle Uniformen getragen, um die Massen zu beeindrucken. Das hier schien eine kostensparende Variante zu sein. Ich schaute scheu zur Seite und sah, dass der junge Mann neben mir wissend lächelte und mir zunickte. Kann er meine Gedanken lesen, fragte ich mich. Ich hatte wohl bemerkt, dass er auch nicht mitbrüllte und recht lustlos sein Fähnchen geschwenkt hatte.
Unten auf dem Asphaltboden des Stadions liefen die „Sportler“ ein. Dutzende von jungen Männern und Frauen in gelbem oder grünem Outfit mit Äxten und Lanzen bewaffnet, mit denen sie zu den markerschütternden Klängen eines Dudelsacks aufeinander einschlugen. Die ersten fielen blutüberströmt zu Boden. Die Menge jubelte, klatschte und feuerte die Kämpfer an, die sich innerhalb von Minuten in einen Blutrausch gesteigert hatten und brüllend auf alles einschlugen, was sich ihnen in den Weg stellte. Aber auch die Gesichter der Zuschauer waren verzerrt vor Hass und Wut. Als das Gemetzel unten im Stadion zu Ende war und die überlebenden grünen Krieger jubelnd die Arme in die Luft warfen, neigte sich Luzifer über die Brüstung, segnete sie und band ihnen grüne Lorbeerkränze um die Stirn. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte ich. „Das hat er den römischen Kaisern abgeschaut.“ Da spürte ich, wie mir mein Nachbar beschwichtigend die Hand auf den Arm legte.
„Es kommt noch schlimmer“, flüsterte er. „Lass uns versuchen, hier herauszukommen.“ Gerade noch rechtzeitig genug, denn auf einmal erhoben sich die Menschen, sprangen von ihren Sitzen und versuchten, auf den Betonplatz zu stürmen, wo sie mit den Baseballschlägern auf die feindlichen Fans eindroschen.
„‘Aggressionsabbau‘ nennt man das“, sagte mein Nachbar und schüttelte traurig den Kopf, während er mich durch einen Hinterausgang ins Freie lotste. „Und außerdem ist es ein Mittel, die Überbevölkerung im Himmel zu stoppen. Die Engel haben wegen Arbeitsüberlastung gestreikt und dann Luzifer unterstützt, der sich an die Macht geputscht und den alten Gott abgesetzt hat.“
„Aber kann man zweimal sterben?“, fragte ich völlig verwirrt.
„Es geht darum, auch die Seelen zu vernichten. Sie zerfallen nun zu Staub und damit ist das Problem der Überbevölkerung im Himmel gelöst.“
Eigentlich tun die Menschen auf der Erde genau dasselbe, dachte ich. Sie führen Kriege, verseuchen Wasser und Luft, lassen Millionen von Kindern am Hunger sterben. Und nun werden hier noch ihre Seelen ein für allemal vernichtet.
„Die schwarze Materie wächst“, sagte mein Begleiter, „das Universum zieht sich zusammen. Es gibt keinen Platz mehr für die Menschen, weder im Himmel noch auf Erden.“
Er ließ meine Hand los und plötzlich befand ich mich wieder in meinem Zimmer. Das Licht war verschwunden. Von dem jungen Mann keine Spur. An wen erinnerte er mich bloß? Ich hatte sein Bild schon gesehen. Auf vergilbten Woodstock – Photos? Auf mittelalterlichen Museums – Bildern? Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Es war der Heiland, aber offensichtlich hatte er die Welt nicht heilen können.
Ich beschloss, mich an mein armseliges Leben zu klammern, solange es ging.


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One Response to “Das Boot ist voll”

  1. Gravatar of Christa Burmeister Christa Burmeister
    5. Oktober 2010 at 20:03

    Eine sehr phantasiereiche Geschichte, spannend erzählt! Die Zukunftsvision ist mir allerdings zu pessimistisch, und der „Heiland“-Schluss wirkt leicht kitschig.

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