Der Clown
Warum dieses Skelett auf dem Motorrad sitzt, wollen Sie wissen. Neben meinem grün-weißen Zirkuswagen? Und warum ich so traurig aussehe. Das wollen Sie auch wissen? Weil Clowns fröhlich zu sein haben, unbeschwerte Spaßmacher, die die Leute zum Lachen bringen, nicht wahr? Und ich hätte in meinem weiß geschminkten Gesicht schon Trauerfurchen, die die Schminke sprengen würden, sagen Sie. Und meine Mundwinkel seien auch künstlich nach oben geschminkt. Alles Maske, denn meine Augen würden mich verraten. Die blickten so traurig. Ob ich depressiv sei, wollen Sie wissen? Ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen meine Geschichte. Aber nur, wenn Sie Zeit und Lust haben. Ich will mich nicht aufdrängen.
Tue ich nicht, sagen Sie. Sie sammelten Schicksale, sagen Sie. Sie seien süchtig nach Geschichten, die Sie aufschreiben. Ich weiß nicht, ob meine Geschichte interessant genug ist für einen Schriftsteller. Ich solle nur mal anfangen? Kommen Sie rein, kommen Sie einfach rein in mein Zuhause! Drinnen ist es gemütlicher als auf den Stufen hier. Und wärmer. Ich mache uns einen Tee. Kommen Sie!
Ob ich traurig bin, fragen Sie. Eine komische Frage. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Traurig? War ich mal. Ich fühle gar nichts mehr. Keine Freude, keine Traurigkeit. Einfach nichts. Erst in der Manege, wenn die Leute lachen und die Kinder mir zujubeln, werde ich wieder ein bisschen lebendig.. Klar doch, ich liebe das Zirkusleben, das Herumziehen von Ort zu Ort, ohne festen Wohnsitz. Ich liebe die Abende in der Manege und die Zauberwelt der Illusion.
Mein wahres Gesicht, fragen Sie. Was ist mein wahres Gesicht? Und wenn ich eins hätte, wer würde es sehen wollen? Ich jedenfalls nicht. Meine Geschichte wollen Sie hören? Sagen Sie Bescheid, wenn Sie genug haben.
Zuhause waren wir sieben Kinder. Meine Mutter hat sich abgerackert und anderen Leuten die Wäsche gewaschen und den Dreck weggewischt. Mein Vater versoff das wenige Geld, das er als Landarbeiter verdiente und starb, kurz nachdem meine Mutter mich und meine Zwillingsschwester in die Welt katapultiert hatte. Ungewollte Nachzügler waren wir, meine Schwester und ich, ungewollt und ungeliebt. Es war auch ohne uns schwer genug, die Mäuler zu stopfen. Aber meine Mutter sprang von Tischen und Schränken, versuchte, sich in der Badewanne zu verbrühen, trank bitteren Pflanzensaft, den die Dorfhexe ihr heimlich zusteckte. Nichts nützte. Eine Abtreibung kam in unserem bayrischen Dorf selbstverständlich nicht infrage. Eine Todsünde, für die man in die Hölle kam. Als ob wir nicht schon in der Hölle waren! Und dann starben zwei meiner älteren Brüder nach einem alkoholtriefenden Abend, als sie mit ihrem Moped gegen einen Baum knallten. Sie hatten gerade eine Lehre angefangen und brachten ein wenig Geld mit nach Hause.
Meine Schwester haute mit 16 ab mit dem Typen vom Wanderzirkus, der durch unser Dorf kam und auf der Hauptstraße für seine Tiere bettelte. Sie war eines Tages einfach weg. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich auch schon, dass ich nicht war wie die anderen Jungen, die sich mit Mädchen herumtrieben, rauchten, soffen und die eine oder andere Schickse in der Scheune flachlegten.
Weichei, sagten sie zu mir, Sissy, weil ich lange Zeit klein und zart geblieben war, mit blonden Locken. Ich denke, meine Mutter hätte gerne zwei Mädchen gehabt, wenn schon. Aber dass ich schwul war, das passte ihr auch nicht, da schämte sie sich für mich.
Die Hauptschule habe ich mit guten Noten abgeschlossen und eine Lehre beim Bäcker in der nächsten Kleinstadt gemacht. Gekocht und gebacken habe ich schon immer gerne. Auch das frühe Aufstehen hat mir nichts ausgemacht. Aber als der Bäcker mich eines Tages mit seinem Sohn im Heu erwischt hat, da bin ich rausgeflogen. In der Stadt habe ich dann als Küchenjunge in einem Schnellimbiss gejobbt, durfte später auch als Hilfskoch arbeiten, denn mein Chef hat schnell gesehen, dass ich was vom Kochen verstand und ausgezeichnete Geschmacksnerven hatte. Die Leute mochten meine Sachen.
Mit 22 habe ich Reinhard kennengelernt, der war 25 Jahre älter als ich und hat sich in mich verliebt. Wir hatten eine gute Zeit, haben zusammen ein Bistro in Garmisch eröffnet. Der Laden war in, lief gut in der Szene. Von Reinhard habe ich viel gelernt: Autofahren, Motorradfahren und so Sachen. Wir waren fast 6 Jahre zusammen und dann – bums – ein Verkehrsunfall und Reinhard gab es nicht mehr. Ein vollgedröhnter Porschefahrer hatte ihn totgefahren. Einfach so. Eigentlich hatte er gesagt, er wolle mir das Bistro vermachen, wenn ihm mal was passieren würde. Aber es gab nichts Schriftliches. Wer rechnet denn mit so was? Reinhard war doch erst knapp über 50. Die gierige Verwandtschaft hat sich natürlich alles unter den Nagel gerissen. Das schwule Früchtchen kriegt keinen Penny, haben sie gesagt. Da stand ich wieder – völlig mittellos – auf der Straße, 26 Jahre alt. Ich bin in der Münchener Schwulenszene abgetaucht, habe eine Zeitlang auf dem Strich gearbeitet, war Diskjockey in den einschlägigen Kneipen. Musik mochte ich immer schon. Habe mir alles selbst beigebracht: Guitarre spielen, Mundharmonika, Schifferklavier. Alles ohne Noten. Mein Traum war immer eine Drehorgel, aber die konnte ich mir nicht leisten.
Ja, und dann kam Josef. Josef aus Augsburg. Wir verstanden uns auf den ersten Blick. Er hatte mich den ganzen Abend angesehen. Als die Disko zumachte, stand er auf der Straße und wartete auf mich. Josef war Besitzer eines Sterne-Restaurants im Alpenvorland, suchte dringend einen Koch. Ich kam für ihn wie gerufen. Wir haben blendend zusammengearbeitet, Josef hat mir das Kochen beigebracht. Ich meine, richtig kochen. Sterne kochen. Ich habe alles von ihm gelernt. Er war auch 20 oder 25 Jahre älter als ich, aber fit und fröhlich. Wir hatten ein gutes Leben. Im Winter machten wir immer wochenlang das Lokal zu. Gingen auf Reisen. Wollten die Welt sehen. Hauten dabei alles Geld auf den Kopf, das wir verdient hatten. Es war wunderbar. Wir waren in Namibia und Südafrika, bereisten Vietnam und Thailand und Laos. Mieteten ein Wohnmobil in Neuseeland. Ich dachte nicht an die Zukunft. Ich war jung, hungrig nach Leben und Abenteuer. Er wollte mich immer absichern, sagte er, er sei so viel älter. Ich sollte das Restaurant weiterführen, wenn ihm was passieren würde. Es fehlte nur noch die Unterschrift des Notars. Ich winkte ab. Wir hatten doch noch so viel Zeit. Wir fuhren nach Südamerika, besichtigten die Maya – Tempel in Guatemala, die Wasserfälle in Iguazú, durchquerten im Jeep die Atacama-Wüste, fuhren im Kanu den Amazonas hinunter. Und dann – warten Sie – ich hole uns noch etwas Tee. Oder etwas Stärkeres? Ein Bier? Einen Schnaps? Nein, Sie seien zu gespannt, sagen Sie. Ich solle weiter erzählen.
Das Ende ist nicht schön. Wir saßen in Rio an einem frühen Abend in einer Strandbar an der Copa Cabana. Sonnenuntergang. Reges Strandleben, fröhliche Menschen um uns herum, Musik. Ich hob gerade das Glas Bier an meine Lippen, da spürte ich etwas Kaltes in meinem Rücken. Ganz ruhig bleiben, sagte eine Stimme. Keep calm! Der Lauf einer Waffe bohrte sich zwischen meine Schulterblätter. Der Räuber wandte sich an die anderen Gäste. Alles Geld auf den Tisch, Portemonnaies, Ausweise, Schmuck ablegen, Ketten, Ohrringe, Uhren. Alles … sonst! Er fuchtelte mit der Pistole. Sonst knall ich den Mann hier ab. Auch wer kein Spanisch konnte, verstand, was er sagte. Die Leute gehorchten, starr, schweigend, voller Angst. Ein zweiter Mann mit schwarzem Kapuzenpullover sammelte Geld und Wertsachen ein. Niemand rührte sich. Und dann geschah das Unbegreifliche. Die Männer wandten sich zum Gehen, doch ehe sie verschwanden, schoss der eine von ihnen meinem neben mir sitzenden Freund in den Kopf. Richtete ihn hin. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Josef hatte nichts getan. Alle seine Sachen abgeliefert wie die anderen auch. Er wurde einfach abgeknallt. Starb in meinen Armen. Wissen Sie jetzt, warum es mir schwerfällt, fröhlich zu gucken? Nicht, weil ich wieder alles verlor. Natürlich bekam ich das Restaurant nicht. Josefs Brüder schmissen mich sofort raus, teilten sich die Beute, wenn man so sagen darf. Ich war wieder allein, hatte meine große Liebe verloren, war mittellos, musste wieder von vorne anfangen.
Ich brauchte lange, um mich zu erholen. Flog nach Madeira, arbeitete als Gärtner, Koch, Verwalter, was immer so gebraucht wurde. Das war die Zeit, als ich das angestaubte Skelett auf dem Jahrmarkt ersteigerte. Ich montierte es auf den Soziussitz meiner alten Harley, die ich aus Deutschland mitgenommen hatte. Mephisto heißt er, mein permanenter Begleiter. Von da an fuhr der Tod immer mit. Ich war bald das bekannteste Fotomotiv in Funchal, die Leute fanden uns geil. Und lachten. Ich lachte auch. Tat zumindest so. Was sagen Sie, vielleicht brauchte ich den Tod als ständigen Begleiter, um überhaupt dem Leben noch etwas abgewinnen zu können? Weiß nicht, klingt mir zu kompliziert. Ich bin kein Seelenklempner.
Langsam ging es wieder aufwärts. Ich bin wohl ein Stehaufmänneken, wie man so sagt. Aber was sollte ich tun? Auf Dauer konnte ich den ewigen Frühling, die überall explodierende Blütenpracht der Paradies-Insel nicht ertragen. Mich widerte der Reichtum der ausländischen Villenbesitzer an. Ich zog zurück nach Deutschland. Ja, sie haben richtig gehört. Ins kalte, nasse Deutschland. Ich suchte und fand meine Zwillingsschwester, die immer noch mit ihrem Mann mit dem kleinen Wanderzirkus durch Deutschland tourte. Sie nahm mich auf und sagte, ich gäbe einen guten Clown ab. Die Kinder würden sich totlachen über mein trauriges Gesicht, da sei sie sicher. Und mehrere Instrumente spielte ich auch. Und nun stehe ich als dummer August in der Manege, schwinge die Peitsche, die sich zum Ergötzen des Publikums immer wieder um meinen Körper wickelt, stolpere durch die Arena und falle über meine viel zu großen Schuhe. Vielleicht waren die Schuhe immer zu groß für mich. Jetzt fang ich an zu philosophieren.
Aber wissen Sie, was ich am liebsten tue? Drehorgel spielen. Eine Drehorgel habe ich mir geleistet, als ich die Harley verkauft habe. Und wenn Sie wollen, spiele ich Ihnen zum Abschied was vor auf der Drehorgel. Kennen Sie das Lied von der »Anneliese«, die ihren Liebsten im Stich gelassen hat, so wie ich immer im Stich gelassen wurde.
Er steht auf, holt die Drehorgel hinter dem Sofa hervor, legte eine Walze ein und schon bald hörte man die klagende Stimme des untröstlichen Liebhabers:
Anneliese, ach Anneliese,
warum bist du böse auf mich?
Anneliese, ach Anneliese,
du weißt doch, ich liebe nur Dich.
Doch ich kann es gar nicht fassen,
Dass du mich hast sitzen lassen,
wo ich mit dem letzten Geld
die Blumen hab für Dich bestellt.
Und weil du nicht bist gekommen,
hab’ ich sie vor Wut genommen,
ihre Köpfe abgerissen
und dann in den Fluss geschmissen.
Anneliese, ach Anneliese,
Du weißt doch, ich liebe nur dich.
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