Das Küchenmesser
Der Wind heult ums Haus. Den ganzen Tag über sind schwarze Wolken in einem Affenzahn vorbeigezogen. Als ich von der Schule nach Hause geradelt bin, bin ich auf den paar Kilometern von Wesselburen nach Hillgroven platschnass geworden. Und jetzt habe ich mich bestimmt erkältet. Mein Kopf fühlt sich ganz heiß an und meine Nase ist schon ganz zu.
Aber das ist nicht der Grund, warum ich wach im Bett liege. Ich habe Angst.
Ich habe nicht oft Angst. Fast nie. Papa sagt immer, ich sei so mutig wie ein Junge. Und dann streicht er mir über meine schwarzen Wuschelhaare. Dabei bin ich erst sieben. Aber von den Jungen in meiner Klasse lasse ich mich nicht ärgern. Mama mag das nicht, wenn ich vom Spielen nach Hause komme und meine Hose ist zerrissen und mein Gesicht ist schmutzig.
“Benimm dich mal wie eine Dame, Carla “, sagt sie immer. Aber ich bin keine Dame. Will auch nie eine werden. Immer soll ich mir ein Beispiel nehmen an meiner großen Schwester Letizia. Die steht stundenlang vor dem Spiegel und kämmt ihre langen, braunen Haare. Sie braucht ewig im Bad, egal wie laut ich an der Tür donnere. Einfach ätzend. Und was nützt ihr das? Heute Nacht hat sie nur in der Ecke gesessen, hat die Hände vors Gesicht gehalten und geschluchzt. Die ganze Wimperntusche ist ihr übers Gesicht gelaufen. „Santa Maria“, hat Mama geschrien und sich neben Papa auf den Boden geworfen: „Un medico! Presto, presto!“. Und dann habe ich die 112 gewählt, die Nummer, die an der Wand unserer Restaurantküche hängt. Für den Notfall, steht da.
Es war wirklich schrecklich, wie Papa da auf dem Boden in unserer Restaurantküche lag und gestöhnt hat. Mit dem großen Messer im Bauch.
Und deswegen kann ich auch nicht schlafen. Immer wenn ich die Augen zumache, sehe ich wieder Papa, wie er sich auf dem Boden krümmt. Die Augen weit aufgerissen. Das Blut, das sich langsam auf seiner weißen Kochschürze ausbreitet.
Dabei hatte ich vorhin ja schon geschlafen. Mein Zimmer ist direkt über der Restaurantküche, und ich bin von dem Geschrei unten aufgewacht. Da haben sich Männer ganz laut angebrüllt. Meine Schwester hat geweint. Und Mamas schrille Stimme war ganz deutlich zu hören, als sie „puttana!“ schrie und „Quello offende l’onore della famiglia!“. Welch eine Schande für die Familie! Mama spricht immer noch nicht so gut Deutsch, und wenn sie aufgeregt ist oder schimpft, tut sie das oft auf Italienisch. Wir kommen aus San Luca in Kalabrien. Und jeden Winter, wenn das Lokal für ein paar Tage zu ist, besuchen wir Papas und Mamas Familie. Ich habe ganz viele Cousins und Cousinen dort.
Neulich hat mich Britta, meine beste Freundin, gefragt, ob ich lieber in Italien wohnen möchte. Aber da habe ich ganz schnell „nein“ gesagt. Ich bin hier geboren. Und ich kann auch viel besser Deutsch als Italienisch. Meine Onkel und Tanten sind lieb, aber ich mag es nicht, wenn sie mir Kleidchen anziehen und Schleifen ins Haar stecken. Und ununterbrochen muss ich jemanden küssen. Besonders die Nonna besteht darauf. Und mein Papa ist dann auch so verändert. Ich glaube, er hat Angst vor Opa. Papa ist dann immer sehr leise und widerspricht Opa nie. Ich verstehe ja nie so richtig, worum es geht, denn wenn die Großen reden, schicken sie uns Kinder immer hinaus zum Spielen. Oft reden sie über Geld.
Papa und Mama sind vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Erst hat Papa in einer Pizzeria in Büsum als Koch gearbeitet. Und dann haben Mama und Papa unser Restaurant in der Nähe von Wesselburen aufgemacht. Mamas Familie hat wohl das Geld gegeben, das sagt Mama immer wieder zu Papa, wenn sie Streit haben. Und das haben sie in letzter Zeit immer öfter. Und Papa schreit dann, er wolle das schmutzige Geld gar nicht. Ich habe dann meine Spardose aufgemacht und mir die Münzen genau angeguckt. So schmutzig sind die gar nicht.
Unsere Pizzeria ist wirklich toll. Und wir haben viele Gäste, meistens Deutsche. Und auch Touristen kommen, besonders wenn ein Konzert in der Sankt Bartholomäus Kirche ist. Da kommen die Leute von weit her. Und neulich hat ein Mann gesagt, Papa mache die beste Pizza der Welt, so gut habe er auch in Italien nicht gegessen. Immer ganz dick belegt. Papa ist ein guter Koch.
Ich verstehe eigentlich nicht, was Papa in letzter Zeit hat. Er sieht immer so traurig aus. Dabei haben wir viel mehr Geld als früher. Und Papa hat auch gar nicht mehr so viel Arbeit, denn Vittorio arbeitet jetzt auch bei uns und hilft Papa kochen. Wenn Papa Zeit hat, radelt er mit mir zum Eidersperrwerk. Da sind dann schon ganz viele Touristenbusse. Und wir essen an einer Bude Krabben mit Rührei. Oder einen Hering mit Zwiebeln, den mag er besonders gern. In letzter Zeit geht er auch öfter an der Eider angeln, wenn wir Ruhetag haben. Er hat mich auch schon mal mitgenommen, aber mir ist das zu langweilig, immer ins Wasser zu starren. Und fangen tut er sowieso nichts. Da bin ich richtig froh. Die armen Fische!
Einmal habe ich Mama und Papa gefragt, warum sie sich so oft zanken, da haben sie ganz erschrocken geschaut und gesagt, das verstünde ich noch nicht. Und ein geheimes Wort haben sie auch: „Ndrangheta“, und keiner sagt mir, was das bedeutet. Ich habe mal meine Lehrerin, Frau Petersen, gefragt, aber die hat auch ganz komisch geguckt und dann gesagt, sie wisse das nicht. Das war gelogen, das habe ich genau gespürt.
Meine große Schwester will überhaupt nicht mehr mit nach Italien. Sie behauptet, man wolle sie in San Luca an einen Cousin verkuppeln. Den liebt sie aber nicht, sagt sie. Letizia ist in Büsum zur Realschule gegangen und macht nun eine Lehre im Tourismusbüro in Büsum. Nur am Wochenende muss sie manchmal im Restaurant aushelfen. Sie sagt, Italien und die Familie dort könnten ihr gestohlen bleiben. Sie radelt viel lieber mit ihren Freundinnen an den Strand. Oder geht heimlich in Büsum in die Disko. Und im Kirchenchor in Wesselburen singt sie auch, weil sie so eine schöne Stimme hat. Mama passt das gar nicht, denn es ist eine evangelische Kirche. Und wir sind katholisch. Aber Letizia hat sich durchgesetzt.
Sie hat auch einen deutschen Freund. Der heißt Jan-Hendrik und seinem Vater gehört ein Kutter in Büsum, ein Krabbenkutter. Jan-Hendrik sieht richtig gut aus, so groß und blond. Und er hat schöne blaue Augen. Ich kann verstehen, dass sich meine Schwester in ihn verliebt hat. Jan-Hendrik studiert Bootsbau in Hamburg, aber am Wochenende kommt er nach Hause. Er hat eine kleine Jolle und nimmt meine Schwester oft mit zum Segeln. Mama und Papa wissen das nicht. Und ich verrate sie nicht. Ich würde auch lieber segeln gehen, als mit einem der öligen Cousins zu reden, die jeden Sommer mit den Onkeln hier erscheinen und im Lokal rumhängen.
„Sie wird noch zur Vernunft kommen“, habe ich Papa zu Mama sagen hören, als sie sich wieder einmal geweigert hat, mit einem dieser Cousins spazieren zu gehen. Mama ist dann immer sauer, aber Papa sagt dann „Lass sie doch, sie ist doch noch so jung.“ Papa ist überhaupt viel lieber als Mama.
Mein armer Papa, und nun liegt er im Krankenhaus. Hoffentlich kriegen sie das Messer raus. Ich habe neulich im Fernsehen gesehen, wie sie eine Operation machen. Die Ärzte waren ganz vermummt, und der Mann auf die Liege hatte ganz viele Schläuche aus seinem Körper rausgucken. Und so komische Apparate haben gepiept. Und der eine Doktor hatte ein scharfes Messer und hat den Bauch aufgeschnitten, und der andere hat mit Haken die Wunde offen gehalten. Und dann haben sie irgendwas gemacht und später den Bauch wieder zugenäht. Der Mann ist auch wieder gesund geworden.
Mama ist mit ins Krankenhaus gefahren und hat immer gejammert: „Il nostro migliore coltello!“ Ich will das Küchenmesser wieder haben! Und da habe ich gedacht, jetzt dreht sie völlig durch. Es geht doch um Papa und nicht um das doofe Küchenmesser.
Die beiden Polizisten, die mit den Sanitätern gekommen sind, haben mich und meine Schwester gefragt, ob wir wüssten, wie das Ganze passiert ist. Meine Schwester hat nur auf den Boden geschaut und geschluchzt: „Das war ein Unfall!“ Mir hat sie einen drohenden Blick zugeworfen. Dabei habe ich genau gesehen, dass Papa nicht gestolpert und in das Messer gefallen ist. Ich bin nämlich nach unten geschlichen, als ich den Krach gehört habe. Die Tür zur Küche stand einen Spalt offen, und da habe ich Onkel Pedro gesehen, Mamas Bruder, der immer eine schwarze Sonnenbrille aufhat, sogar im Haus. Und der hat gesagt, er lasse sich nicht mehr hinhalten. Letizia sei Luigi versprochen worden, und im nächsten Frühjahr solle die Hochzeit sein. Und es gehe um die Ehre der Familie. Meine Schwester hat geschrien und gesagt, lieber bringe sie sich um als Luigi zu heiraten. Und sie seien sowieso alle Gangster. Und wenn Onkel Pedro nicht sofort verschwinden würde, ginge sie zur Polizei. Sie wisse, was hier gespielt wird. Da hat der Onkel die Hand gehoben und wollte sie ins Gesicht schlagen, aber Papa ist dazwischen gegangen und hat gerufen: „Meine Tochter schlägst du nicht!“ Der Onkel hat gedroht, man würde von ihm hören. Er habe es bisher im Guten versucht. „Mit der Pizzeria ist es dann auch aus. Wir brauchen dich nicht mehr, Marco. Wir können unser Geld auch woanders waschen.“ Der wäscht auch sein Geld, dachte ich. Es ist also doch dreckig. „Raus hier“, hat Papa gebrüllt und ihn zur Tür gedrängt. Aber Onkel Pedro hat das Fleischermesser vom Tisch genommen und ist auf Papa losgegangen. Und dann ist Papa zusammengebrochen.
Und jetzt liege ich hier und habe Angst. Dass Papa stirbt. Und der Onkel mit anderen Männern wiederkommt und sie uns die Pizzeria wegnehmen. Und dass wir nach Italien zurück müssen.
Bestimmt kommen morgen die Polizisten wieder. Mama wird nicht wollen, dass wir mit ihnen reden. Im Fernsehen findet der nette Kommissar doch auch immer raus, was wirklich passiert ist. Ich könnte ihm doch helfen. Und dann wird Onkel Pedro verhaftet und wir können die Pizzeria behalten.
Unten wird die Tür aufgeschlossen. Ich renne in den Flur. Es ist Mama. Sie ist ganz weiß im Gesicht. „Papa ist tot“, sagt sie und ringt die Hände. „Er ist gestolpert und in das Messer gefallen.“ Ich schaue sie fassungslos an. „Stimmt doch gar nicht! Onkel Pedro…“
„Was redest du für einen Unsinn. Onkel Pedro war gar nicht hier“, sagt sie „Ab ins Bett!“ Mit diesen Worten öffnet sie die Tür zu Letizias Zimmer. Ich höre meine Schwester schluchzen.
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6. Dezember 2012 at 22:05
Eine spannende, sehr gut geschriebene Geschichte, leider klischeehaft. Dass Clara, als Siebenjährige, so einen Durchblick hat, scheint mir unglaubwürdig. Ich würde ihr Alter heraufsetzen.