Café Majestic

Seit zwei Monaten lebt Annika  in Porto. Sie ist immer wieder hingerissen, wenn sie von Vila Nova de Gaia kommend über den Douro fährt und die Silhouette der Stadt sich vor ihr aufbaut: die Kathedrale, der Torre dos Clerigos, die bunten Häuser am Fluss. Sie hat sich die Innenstadt erlaufen und ist eingetaucht in die Betriebsamkeit der Gassen und Plätze. Portugiesisch fällt ihr leicht, der Spanischleistungskurs bis zum Abitur hat Grundlagen gelegt, sie muss sich nur noch an das weiche portugiesische Genuschel gewöhnen, das so weit weg ist von der klaren, harten Intonation des Spanischen. Auch die Menschen erscheinen ihr weicher als in Spanien, liebenswürdiger, hilfsbereiter, neugieriger. Annika macht ein Praktikum im deutschen Konsulat und hat sich sofort mit der jungen Kollegin Maria de Fatima angefreundet, was ihren portugiesischen Sprachkenntnissen nur guttut. Fatima hat ihr die Stadt gezeigt, sie mit ins Mal Cozinhado, ins besten Fadolokal Portos, mitgenommen, in dem immer noch Valdemar Vigário – mittlerweile in die Jahre gekommen – seine Mandoline schlägt und traurig-schöne Lieder von Sehnsucht und Liebe singt. Saudade – das Lieblingswort der portugiesischen Sprache. Umgeben von freundlichen Menschen fühlt sie sich sicher und aufgehoben.
Sie ist mit Maria de Fatima shoppen gegangen, und die Freundin hat sie zu einem Galão ins Café Majestic geschleppt. Dieses Café, direkt in der Rua de Santa Catarina gelegen, liebt sie besonders: die nostalgische Atmosphäre, die vergoldeten Spiegel, das Jugendstilinterieur. Natürlich wimmelt es von Touristen, denn jeder Porto-Reiseführer schickt seine Leser ins Majestic. Im schummrigen Licht des Cafés trinken die beiden Frauen Milchkaffee, löffeln die Spezialität des Hauses: bolo de chocolate com peras, Schokoladenkuchen mit Birnen.  Prächtige Kronleuchter werden von den Spiegeln an den Wänden reflektiert, Putten schauen auf die Tische herab, Lorbeerkränze um die Köpfe. Fotos zeigen, wie viele Künstler und Intellektuelle in den vergangenen hundert Jahren im Majestic ihren Espresso getrunken, den Jornal de Notícias gelesen haben. Die Rowling soll das erste Kapitel von Harry Potter an einem der kleinen, runden Tische geschrieben haben, erzählt Fatima, als sie endlich ihre Einkaufstüten zusammenraffen und sich gegen den Strom der eintretenden Gäste hinaus ins Sonnenlicht drängeln.
«Guck in deine Handtasche, rapido!« Abrupt bleibt Fatima stehen. Annikas blaue Ledertasche ist leer. Ritzeratze leer. Kein Portemonnaie, kein Scheckbuch, keine Papiere, nada. Die beherzte Fatima schnappt sich einen jungen Kerl, der sich von hinten an ihnen vorbeidrängen will, reißt ihm die Jacke weg, die er lose über Arm und Hand gehängt hat, kreischt: »Ladrão! Ladrão!« Der junge Mann hält Annikas Personalausweis, Geldbörse und ihre Schecks für alle sichtbar in der Hand.
Portugiesische Männer, sensationssüchtig und hilfsbereit, stürzen sich auf den Dieb, einer nimmt ihn in den Schwitzkasten, ein anderer fängt an, auf ihn einzuprügeln. Eine ältere Senhora schreit laut nach der Polizei. Action, spannender als im Fernsehen. Begeisterte Empörung. Mittendrin die blonde, junge Deutsche. Portos Männerwelt –  allesamt edle Ritter –  sind dabei, eine blonde Prinzessin vor dem Ungeheuer zu retten.
«Desculpe«, schreit der Dieb auf einmal, »desculpe, minha senhora!« und fängt zur Verblüffung aller Umstehenden an zu weinen. Er windet sich aus den Armen seines Peinigers, fällt vor der Schönen auf die Knie, reicht ihr Geld und Papiere. Dicke Tränen kullern über sein – zugegeben – hübsches Gesicht. Er reibt sich mit schmutzigen Händen über die Augen, schluchzt heftig, sieht aus wie ein verirrtes Slumkind, bittet um Verzeihung. Und was tut Annika? Sie fasst den Übeltäter am Ellbogen, hebt ihn auf. Telenovela pur. Der Kreis der Schaulustigen ist eng geworden. Es gibt keinen Fluchtweg, das hat der Junge offensichtlich erkannt. Er lässt die Tränen weiter fließen. »Keine Polizei«, sagt Annika, schnappt Geld und Papiere, stopft alles zurück in die Tasche und verschwindet mit schnellen Schritten in der Fußgängerzone, Fatima hinter sich herziehend. Die Leute bleiben verblüfft zurück, lassen den kleinen Ganoven schließlich laufen. Wo kein Kläger, da kein Richter.
Sie habe dem jungen Mann die Zukunft nicht verbauen wollen, sagt Annika zu der aufgebrachten Freundin. Vielleicht brauche er ja mal eine Arbeitserlaubnis in Deutschland oder Frankreich. Als Portugiesin weiß Fatima natürlich, dass man den Spitzbuben nach ein paar Stunden sowieso hätte laufen lassen. Ein bisschen Prügel hätte er vielleicht bezogen auf der Wache. Als erzieherische Maßnahme sozusagen. Eventuell wäre ihm verboten worden, sich in der Innenstadt aufzuhalten. Ein kaum zu kontrollierendes Verbot, wie die Polizei selbst zugibt.
Und so gibt es eine Fortsetzung der Geschichte, die hat Annika ihrer Freundin erst viele Wochen später gebeichtet. Als sie nach ein paar Tagen wieder einmal durch die Innenstadt schlenderte, allein und in Gedanken versunken, fühlte sie, wie jemand im Gedränge der Einkaufspassage an ihrer Hängetasche fummelte. Nun schon gewiefter drehte sie sich wie der Blitz um und – schaute geradewegs in die Augen eines alten Bekannten. Der Dieb vom Café Majestic starrte sie für den Bruchteil einer Sekunde erschrocken an, drehte sich um und lief panisch davon, ehe sie überhaupt nach Luft schnappen konnte. Ohne ein »desculpe« selbstverständlich.
»Geschieht dir recht, querida«, sagte Fatima, lachte und küsste ihre Freundin ganz portugiesisch rechts und links auf die Wange. »Ich hoffe, du bist lernfähig.«


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