Frau Mitschkes Traum

Die Mitschkes waren in den letzten Kriegsjahren aus Schlesien geflohen. Sie waren fromme, fleißige Leute, die sich mit dem Geld vom Lastenausgleich einen kleinen Bauernhof im Münsterland gekauft und ihrer einzigen Tochter früh beigebracht hatten, dass ein anständiges Leben nur derjenige führen kann, der hart arbeitet und früh aufsteht. Die Kühe mussten gemolken, die Schweine ins Freie gelassen, die Hühner gefüttert werden.
Als sie nach dem Tod der Eltern den kleinen Hof übernahm, waren die Tiere – bis auf ein paar Hühner, die frische Eier lieferten – längst abgeschafft, der Betrieb auf Gemüseproduktion umgestellt worden. Sie belieferte die Märkte in Münster und in den Kreisstädten der Umgebung mit frischem Obst und Gemüse, sowohl aus eigenem Anbau als auch zugekauft im Großmarkt.
Um vier Uhr morgens stand sie auf, trank einen heißen Kaffee, biss in den Toast, band sich im Sommer ein rotes Tuch um den Kopf, zog im Winter die rote Wollmütze auf und stürzte sich kurze Zeit später in das quirlige Leben des Großmarktes. »Da kommt das rasende Rotkäppchen«, sagten die Männern, die ihren rasanten Fahrstil, mit dem sie den alten Minivan steuerte, halb bewunderten, halb fürchteten.
Mit den Männern hatte sie es nicht so. Sie sah durchaus propper aus, vielleicht ein wenig kurz geraten, aber mit den Rundungen da, wo sie sein sollten, und mit einem offenen, freundlichen Gesicht, schelmischen Augen und einem Mund, der sich schlagfertig  zu wehren wusste.
Zwei- oder dreimal hatte sie es mit einer ernsthafteren Beziehung versucht. Der eine war ein stiller, verschlossener Finanzbeamter gewesen, mit festem Einkommen und starken Prinzipien, der wollte, dass sie sich ihm unterordnete. Der andere war ein Hallodri, charmant, lustig, der abends loszog, wenn sie todmüde ins Bett fiel und ungerührt weiterschnarchte, wenn morgens der Wecker klingelte. Es passte einfach nicht mit ihr und den Männern. Frau Mitschke kam gut allein zurecht.
Morgen für Morgen rollte sie sich mit immer steifer werdenden Gliedern aus dem Bett, fuhr wie im Tran zum Großmarkt, schleppte die schweren Kisten zum Auto, bis oben gefüllt mit Äpfeln, Birnen, Pflaumen, Kirschen, Orangen, Gurken, Auberginen, Paprika, Tomaten und Pilzen, kurzum mit allem, was die Jahreszeit so hergab. Mit sicherer Hand und geübtem Blick stellte sie ihre Schätze auf die schräg stehenden Bretter des Verkaufsstandes. Obst und Gemüse, knackig frisch und glänzend wie auf einem impressionistischen Gemälde. Den Käufern sollte schon beim Hingucken das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Einen Traum hatte Frau Mitschke allerdings, je älter sie wurde, den Traum, nicht mehr mit den Hühnern aufstehen zu müssen, einen weniger anstrengenden Job zu haben, ab 9 Uhr irgendwo gemütlich im Büro zu sitzen, Zeitung zu lesen und ein Schwätzchen mit der Kollegin zu halten.
Aber wie das so mit Träumen ist, an deren Erfüllung der Träumende selbst nicht glaubt, eines Tages bekam sie die Nachricht, – sie war schon in den Fünfzigern -, dass sie im Lotto gewonnen hatte. Sie war keine Spielerin, hatte den Schein mehr zum Spaß ausgefüllt, als sie im Kiosk nebenan ein Päckchen Zigaretten und eine Zeitung kaufen wollte. Eigentlich hatte sie die Angelegenheit längst vergessen. Man beglückwünschte sie zum Gewinn von zwei Millionen Euro.
Sie war wie vom Donner gerührt, sprach mit niemandem, ging aber zum Ortsamt und kündigte ihre Stellplätze auf den umliegenden Märkten, verpachtete ihren Hof und kaufte sich ein Around-the-World Ticket. Vergnügt und erholt, voll mit Erlebnissen von fernen Ländern und fremden Völkern kehrte sie nach eineinhalb Jahren zurück nach Münster.
Am ersten Morgen dachte sie sich noch nichts dabei, als sie um vier Uhr morgens aufwachte. Jetlag, überlegte sie, stolz auf ihr Expertenwissen. Auch die Schlaflosigkeit am zweiten und dritten Morgen verbuchte sie noch unter die immensen Zeitverschiebungen, denen sie viele Monate lang ausgeliefert war. Sie blieb tapfer und zähneknirschend im Bett liegen.
Nach einer Woche hielt sie es nicht mehr aus. Stand auf, machte Kaffee, aß ihren Toast, tigerte durchs Haus, goss die Blumen. Sie nahm die Vorhänge an den Fenstern ab, stopfte sie in die Waschmaschine, putzte die blitzblanken Scheiben,staubte den Gummibaum ab.
Nach zwei Wochen fuhr sie zum Großmarkt. Morgens um halb fünf. Sie freute sich unbändig, als die Männer ihr auf die Schulter klopften – die mutigeren umarmten sie sogar – und als einer rief: »Unser rasendes Rotkäppchen ist wieder da«, da wusste sie, wo sie hingehörte. Zugegeben, jetzt genießt sie die neidischen Blicke der Männer, die ihren nagelneuen, knallroten Mercedes-Van bewundern mit der automatischen Hebeeinrichtung, die ihre Obst- und Gemüsekisten mühelos in den Wagen hinein- und hinauswuchtet.


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