Du schönes Kind, komm spiel mit mir!

StPeterEin pensionierter Finanzbeamter, der gegen halb sieben seinen schwarzen Labrador am menschenleeren Strand von Sankt Peter Ording spazieren führte, hatte die Polizeistation in Tönning alarmiert. Die Leiche lag im feuchten Sand zwischen den hohen Stelzen des hundertjährigen Pfahlbaus, auf dem sich die Sanitäranlagen   befanden.
Die Spurensicherung war bereits bei der Arbeit und hatte das Gebiet um den Pfahlbau bis zum Strandparkplatz weiträumig abgesperrt, als die Kriminalkommissarin Saadet Aydin am Tatort eintraf. Saadet war 27 und arbeitete erst seit einem halben Jahr beim Flensburger Kommissariat; dies war ihr erster Fall als verantwortliche Ermittlerin. Sie näherte sich vorsichtig der im Sand liegenden Leiche, einer halbnackten, jungen Frau, die an Händen und Füßen gefesselt war. Saadet warf einen Blick auf das im Todeskampf verzerrte Gesicht, auf die wirren, schwarzen Haare, sah die dunklen Würgemale am Hals und unterdrückte den Brechreiz, der sie immer noch überkam, wenn sie das Opfer eines Gewaltverbrechens anschauen musste.
Tief sog sie die feuchte Morgenluft in ihre Lungen und sah sich aufmerksam um. Es war Ebbe. Die im grauen Licht des Septembermorgens vor sich hindümpelnde Nordsee hatte sich weit zurückgezogen. Der Wind kam aus Nordwest, mit höchstens zwei Windstärken, schätzte Saadet. Der nasse Sand wies weder Fuß- noch Autospuren auf, das ablaufende Wasser hatte eine glänzende, feucht-braune Fläche hinterlassen, glatt und hart wie Beton. Ein paar Meter weiter lagen die unappetitlichen Reste einer toten Möwe. In den letzten Tagen war der Sommer noch einmal zurückgekommen, aber um diese Uhrzeit war es wohl auch für eine abgehärtete Schwimmerin zu kalt. Hinten an den Dünen bog der erste Jogger auf den mit Holzbohlen belegten Pfad zum Meer. Ein paar hundert Meter weiter nach Süden waberte ein zweiter imposanter Pfahlbau im Nebel, das Restaurant auf der Plattform von grauen Schwaden verschluckt. Keine Menschenseele war zu sehen. Das entfernte Rauschen der Brandung, eine leere Blechdose schabte vom Wind getrieben über den Sand.
„Ein schönes Kind, nicht älter als 16, 17, würde ich sagen. Höchstens seit sieben oder acht Stunden tot“, sagte der ältere Polizeiarzt. „Sieht aus wie eine sadistisch motivierte Tat. Sie scheint sich heftig gewehrt zu haben.“ Er schüttelte den Kopf, bedeckte den toten Körper mit einem bereitliegenden Tuch, umsichtig darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen. Mühsam richtete er sich auf, zog die Plastikhandschuhe aus, dehnte sein Kreuz und packte seine Tasche zusammen.
„Ob sie vergewaltigt worden ist, kann ich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Spermaspuren könnten uns bei einer DNA-Analyse weiterhelfen. Wir müssen den Obduktionsbericht aus Flensburg abwarten.“
„Was denken Sie, ist das Mädchen hier umgebracht worden, oder hat der Täter sie hierher geschleppt?“, fragte Saadet.
„Es gibt keine Schleifspuren zum Parkplatz, aber das war auch nicht zu erwarten“, der Arzt zuckte die Schultern. „Vor sechs Stunden war Hochwasser. Ein Wunder, dass die Leiche nicht hinausgespült wurde. Sie ist wohl an einem der Holzpfähle hängen geblieben.“
„Danke, Herr Dr. Möller“, sagte die Kommissarin und nickte ihm zu. „Bitte, benachrichtigen Sie mich, wenn die Ergebnisse der Labortests vorliegen.“
Eine energische, junge Frau, dachte der Arzt und lächelte ihr zu, als er zum Wagen ging. Und attraktiv dazu. Sie wird es als Türkin nicht leicht haben zwischen ihren deutschen Kollegen.
„Gibt es Hinweise auf die Identität der Toten?“ Saadet schaute fragend in das schlecht gelaunte Gesichter ihres Teamkollegen Jörn Petersen, der es wohl geschafft hatte, ein paar Minuten vor ihr am Tatort zu sein. Er hatte bereits begonnen, den Sand nach Spuren und Hinweisen abzusuchen.
„Nein. Gar keine“, er blickte Saadet herausfordernd an. „Aber die Frau ist offensichtlich südländischer Herkunft. Wahrscheinlich eine Landsmännin von Ihnen.“
Saadet überhörte die Spitze. Ihr war klar, dass es Petersen schwerfiel, sie als weisungsbefugte Ermittlerin zu akzeptieren. Sie war jünger als er, eine Frau und noch dazu mit Migrationshintergrund, wenn auch mit deutschem Pass. Nicht wenige ihrer Kollegen beäugten sie misstrauisch, voller Vorurteile, das war ihr schon auf der Polizeihochschule klar geworden, die sie mit Bravour abgeschlossen hatte, zum Ärger einiger ihrer männlichen deutschen Kommilitonen.

Kurze Zeit später traf die Kommissarin auf eine fassungslose türkische Familie im Aufenthaltsraum der Tönninger Polizeistation. Sie schaute voll Mitgefühl auf die Mutter, die sich, ein dunkles Tuch um Kopf und Oberkörper geschlungen, hin- und herwiegte. Saadet überlegte, wie sie ihre erste Frage formulieren sollte. Der Obst- und Gemüsehändler Ahmed Özmir hatte seine Tochter Fatima gegen acht Uhr morgens telefonisch als vermisst gemeldet. Der Dienst habende Polizeibeamte hatte geistesgegenwärtig die Familie sofort ins Revier bringen lassen, um die in den frühen Morgenstunden gefundene Frauenleiche zu identifizieren, ehe sie ins Rechtsmedizinische Institut der Uni Flensburg überführt wurde.
Es war Fatima. Die Mutter brach wimmernd über der toten Tochter zusammen, der Vater starrte versteinert vor sich hin. Die Söhne Gökan und Mehmet, 22 und 14 Jahre alt, und ein kleines etwa dreijähriges Mädchen hatten auf die Eltern im Vorraum gewartet und saßen nun blass und schweigend da. Der jüngere Sohn hatte die kleine Schwester auf den Knien, schaukelte sie sanft.
„Ehrenmord“, hatte Petersen zu Saadet gesagt, ehe sie zur Vernehmung gingen. „Typischer Fall von Ehrenmord. Erst wird dieses Pack alles abstreiten, und dann wird dem jüngeren Bruder die Tat in die Schuhe geschoben, weil der noch unters Jugendstrafrecht fällt. Kennt man doch.“
„Bei uns in Deutschland«, Saadet sah dem Kollegen fest in die Augen, »bei uns in Deutschland gilt man so lange als unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist.“ Sie wollte sich nicht provozieren lassen und überhörte Petersens „Ja, leider!“
„Merhaba“, grüßte sie. „Benim adim Saadet Aydin“, und wandte sich dann auf Deutsch an den stumpf vor sich hinbrütenden Vater: „Herr Özmir, seit wann haben Sie Ihre Tochter vermisst?“ Der etwa 50-jährige Familienvater blickte auf, antwortete aber nicht. Saadet war sicher, dass er sie verstand, wiederholte aber die Frage auf Türkisch, sehr zum Missfallen ihres Kollegen. Sie wollte sichergehen, dass auch Frau Özmir dem Gespräch folgen konnte.
„Heute Morgen nicht im Bett, wenn Schule“, antwortete die Frau und bewegte ihren schweren Oberkörper vor und zurück. Das kleine Mädchen fing an zu weinen, krabbelte auf den Schoß der Mutter. Frau Özmir zog das große Tuch über sich und das Kind.
„Ist Fatima abends öfter weggegangen?“, hakte Saadet auf Türkisch nach. Sie übersetzte die Frage ihrem Kollegen und sah das Grinsen auf seinem Gesicht. Sie merkte, wie sie wütend wurde, und unterdrückte den Impuls, ihn zurechtzuweisen. Die Frau wollte antworten, zögerte dann, drehte den Kopf zu ihrem Mann. Schwieg.
„Nie“, sagte Herr Özmir. „Fatima war anständiges Mädchen. Nach der Schule gleich nach Hause und Schulaufgaben machen. Abends immer zu Hause.“
„Hatte Fatima einen Freund?“, fragte Saadet auf Deutsch die beiden jungen Männer.
„Natürlich nicht“, sagte der ältere Bruder laut und aggressiv und schaute den jüngeren an.
„Nein“, sagte auch dieser.
„Redet doch kein Blech“, mischte sich nun Petersen ein. „Natürlich hatte sie einen Freund. Sie hat sich rumgetrieben und ihr habt sie umgebracht. Wegen eurer dämlichen Ehre. Gebt es doch gleich zu!“
Gökan, ganz weiß im Gesicht, sprang drohend auf: „Nein, nein, das ist eine Beleidigung. Das lassen wir uns nicht gefallen.“
Mit einer energischen Handbewegung brachte Saadet beide Männer zum Schweigen.
„Herr Özmir, Sie gehen jetzt erst einmal mit ihrer Familie nach Hause. Ich werde heute Nachmittag zu Ihnen kommen und dann können wir uns weiter unterhalten.“
„Sind Sie verrückt?“, fuhr Petersen sie an, als die Familie gegangen war. „Der ältere Bruder ist dringend tatverdächtig. Aber Sie lassen ihn einfach laufen. Sie wollen diese Leute wohl noch decken.“
Nun verlor auch Saadet die Beherrschung. „Herr Petersen, diese Bemerkung verbitte ich mir. Das ist mein Fall. Ich weiß, was ich tue.“
„Ach, wirklich“, höhnte der Kollege. „Na gut, dann machen Sie mal. Aber ich werde einen Gegenbericht schreiben. Es ist unverantwortlich, dieses türkische Pack einfach gehen zu lassen.“ Er lief hinaus, knallte die Tür zu.
Saadet war die Röte ins Gesicht gestiegen. Sollte sie sich über ihn beschweren? Um einen anderen Mitarbeiter bitten? Während der Ausbildung hatte sie die Zähne zusammengebissen und sich durchgekämpft. Rassisten wie Jörn Petersen waren ja einer der Gründe, warum sie zur Polizei gegangen war.

Wie schwierig ist es wohl, hier Kinder großzuziehen, dachte Saadet, als sie am frühen Nachmittag in Tönning zu dem heruntergekommenen Mietshaus am Stadtrand fuhr, in dem die Özmirs wohnten. Die grüne Farbe an der Hausfassade war abgeblättert, auf den rostigen Balkonen flatterte Wäsche im warmen Wind. Zwei schwarzhaarige Jungen lungerten auf dem verwahrlosten Spielplatz herum, zogen betont lässig an ihren Zigaretten. Sie unterdrückte den Impuls, nach ihrem Alter zu fragen und erkundigte sich nach der Adresse der Familie Özmir. Zu ihrem Erstaunen sprangen beide auf und der größere Junge sagte höflich: „Da drüben die Wohnung im Erdgeschoss, Abla!“ Saadet lächelte über die Anrede „große Schwester“ und bedankte sich.
Offensichtlich hatte sich die Nachricht von Fatimas Tod wie ein Lauffeuer in der türkischen Nachbarschaft verbreitet. Das kleine Wohnzimmer war voller Leute. Frauen hatten Baklava gebracht und Tee gekocht. Tröstend redeten sie auf Fatimas Mutter ein, während der Vater seine Gebetskette durch die Hände gleiten ließ und vor sich hinbrütete.
Als die junge Kommissarin eintrat, verstummten alle Gespräche. Auch die Frauen hörten auf zu reden und schauten sie an. Behutsam ging sie zu dem trauernden Vater, beugte ihre Stirn respektvoll in Richtung seiner Hände und drückte noch einmal ihr Beileid aus. Er nickte stumm, ein Patriarch, rückwärtsgewandt und gewohnt, dass seine Familie ihm gehorchte und ihm Ehrerbietung zeigte. Versteinert in seinem Schmerz. Was wäre aus mir geworden, wenn ich einen Vater gehabt hätte wie ihn, dachte Saadet.
Die Kommissarin bat um ein Gespräch unter vier Augen. Herr Özmir nickte und stand auf. Er führte sie durch einen Korridor in den Raum, den Fatima mit ihrer kleinen Schwester teilte. Im Flur warf Saadet einen Blick in ein halb offenes Zimmer, aus dem das Geratter von Flakgeschützen dröhnte. Der jüngere Bruder saß vor einem flimmernden Computerschirm, seine Hände glitten fieberhaft über die Tasten. Hatte Gökan sich schon abgesetzt? Hatte ihr Kollege Recht?
An der Wand in Fatimas Zimmer hingen Fotografien. Saadet trat näher und betrachtete eins der Bilder, auf dem ein dunkelhaariges junges Mädchen zu sehen war, das Haar bedeckt mit einem bunten Kopftuch, die zierliche Gestalt in einen langen Mantel gehüllt, ein junger Mann linkisch neben ihr.
„Ist das Fatima, Herr Özmir?“
„Ja. Letztes Jahr in Türkei. Verlobter von Fatima.“
„Aber Fatima war erst 17!“
„Ja, nächstes Jahr Hochzeit. Familie einverstanden.“
„War Fatima einverstanden?“
Herr Özmir blickte sie erstaunt an. „Natürlich, Familien haben beschlossen.“
„Ist Fatima nie mit ihren deutschen Schulkameradinnen ausgegangen? War sie nachmittags und abends immer zu Hause?“ Eingesperrt, dachte Saadet, schluckte aber das Wort hinunter.
„Immer zu Hause“, der Mann wurde ungeduldig. „Wir eine fromme Familie. Töchter gehorsam.“
Und was ist mit den Söhnen, dachte Saadet, sagte aber laut: „Ich möchte noch kurz mit Mehmet sprechen.“
„Der nichts weiß.“
„Trotzdem“, Saadets Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Schweigend begleitete er die Kommissarin in Mehmets Zimmer.
„Allein“, sagte Saadet entschieden und Herr Özmir gehorchte nach kurzem Zögern. Nachdrücklich schloss sie die Tür.
Mehmet blickte angestrengt auf den Computerschirm, auf dem sich Soldaten in Panzerfahrzeugen eine erbitterte Schlacht lieferten. Geräusche von Granaten und heranjagenden Tieffliegern. Er blickte nicht auf, schien versunken in sein Spiel.
Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte die Kommissarin: „Und Fatima, konnte deine Schwester auch mit dem Computer umgehen?“
„Ja“, murmelte Mehmet. „Sie hat jeden Nachmittag davor gesessen. Meistens wollte sie chatten.“ Er blickte sich um. „Raus durfte sie ja nicht.“
Und dann brach es aus ihm heraus. „Ich bin schuld, dass Fatima tot ist. Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen.“ Er schlug die Hände vors Gesicht.
„Du musst mit mir reden. Jetzt, sofort!“, Saadet wirbelte seinen Drehstuhl herum, schaute ihm ins Gesicht. Er war ganz blass, die Augenlider gerötet. „Heraus mit der Sprache! Was weißt du?“
„Fatima wollte sich gestern Abend mit einem Mann treffen. Sie haben gechattet. Seit Wochen. Er wollte sie kennen lernen.“
„Und dann?“
„Erst hat sich Fatima geweigert, aber dann wollte sie ihn doch sehen. Sie ist gestern Abend aus meinem Fenster geklettert“, sagte Mehmet und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich habe das Fenster die ganze Nacht offen gelassen, aber sie ist nicht zurückgekommen. Es ist meine Schuld!“ Der Junge senkte den Kopf. „Werde ich verhaftet?“
„Nein. Aber deinen Computer, den muss ich mitnehmen.“ Und als sie sein erschrockenes Gesicht sah:  “Keine Angst, du bekommst ihn zurück.  Aber er könnte hilfreich sein. Wer ist dein Provider?“
„Freenet. Können Sie jetzt den Mörder finden?“
„Ich nicht“, gab Saadet zu, “aber unsere EDV-Experten können oft die Spur der Teilnehmer eines Chatrooms zurückverfolgen. Die Betreiber müssen Protokolle führen. Auch Pseudonyme sind zu knacken.“

Und so war es auch. Eine Analyse der Computerspezialisten ergab, dass Fatima immer wieder mit demselben Mann gechattet hatte. Er hatte ihr Komplimente gemacht, wollte sie unbedingt kennen lernen. Anfangs hatte Fatima gezögert, schließlich aber doch in ein Treffen eingewilligt.
Es war nicht schwierig, den Mann ausfindig zu machen. Ein einschlägig vorbestrafter Straftäter, der wiederholt wegen sexueller Belästigung festgenommen worden war. Er hatte sich als Jurastudent ausgegeben und behauptet, er habe sich beim Anblick des Fotos unsterblich in Fatima verliebt. Er werde die Zwangsheirat verhindern.
Das hat er auch getan, dachte Saadet resigniert, aber nicht so, wie das unerfahrene junge Mädchen sich das vorgestellt hatte.
Fatimas Leichnam wurde zur Bestattung in die Türkei überführt.


Tags:

 
 
 

Schreibe einen Kommentar