Flanieren in Corona – Zeiten

Die Weihnachtstage sind vorbei, der Kühlschrank ist leer. Wir wollen zum Vegesacker Grünmarkt. Ok, nicht die ganze Strecke flanieren, sondern wir nehmen die Ebikes – Gott sei dank sind die Akkus aufgeladen! – und lassen uns die Lesumstraße bis zum Fluss hinunterrollen. Es ist kalt und grau. Böiger Westwind bläst uns heftig ins Gesicht. Es riecht nach Meer. Kreischende Möwen im Sturzflug. Ich friere. An der Einfahrt zum Yachthafen anhalten, Helm absetzen, blauen Buff über den Kopf ziehen, Helm wieder aufsetzen, Schal fester um den Hals wickeln, Reißverschluss bis zum Anschlag hochziehen. Ich puste noch einmal meinen warmen Atem in die Hände, stülpe die gefütterten und viel zu großen Handschuhe über, die allerdings das Drehen der Gangschaltung erheblich erschweren und kaum eine Feinjustierung zulassen. Wir radeln auf der Straße am Wasser entlang, stellen den Motor für den steilen Anstieg bis zum Lürssenschen Gästehaus auf die höchste Stufe, schalten – oben angekommen – zurück und lassen uns dann zu den Vier Deichgrafen hinunterrollen. Ich werfe einen Blick auf das einsam daliegende Segelschulschiff Deutschland, noch mit einer Lichterkette bis über die Toppen geschmückt. Ich frage mich, wie lange uns Bremen-Nordern der Anblick des großen Dreimasters erhalten bleibt, nachdem die Politik in ihrer unergründlichen Weisheit beschlossen hat, auf dem brachliegenden Grundstück des Haven Höövts – dieses zur Bauruine verkommene Symbol bremischer Großmannsucht – ein Hochhaus zu bauen, das den Blick auf die Windjammer verstellen wird. Der Schulschiff-Verein tobt.
Wir radeln flink über das Pflaster am Vegesacker Fähranleger vorbei zur Weserpromande, behalten die Fähre im Auge, die dabei ist, rumpelnd und schabend anzulegen. In wenigen Minuten wird die Mannschaft das Begrenzungstau loswerfen und die Dreier- Schlangen wartenden Autos werden mit stinkendem Auspuff und aufheulendem Motor die Rampe hinauffahren.
Die Strandlust liegt kalt und verlassen da. Restaurant und Hotel im Winterschlaf. Nein, kein Winterschlaf, eher ein verlassenes Gebäude mit dunklen Fensterlöchern, hinter denen die Geister fröhlicher Feste den Totenreigen tanzen. Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein paar Lichterketten über die Straücher im Biergarten zu hängen, um die graue Trostlosigkeit zu dämpfen..
Wir fahren auf der betonierten Piste am Stadtgarten entlang, weichen Spaziergängern mit Hunden und kleinen Kindern aus, die quietschend vor Vergnügen mit ihren Laufrädern über den Asphalt brettern, bewacht von Vorsicht rufenden Müttern. Ein kurzer Blick auf die protzige schwarze Luxusyacht an der Lürssen-Werft gegenüber.
Wir radeln auf das seit einem Jahr geschlossen Restaurant der Gläsernen Werft zu – einst unser Lieblingslokal mit leckerem Essen und einer grandiosen Aussicht auf die vorbeiziehenden Schiffe -, dann legen wir einen höheren Gang ein und strampeln in Richtung Vegesacker »Innenstadt«. Geschäfte zu beiden Seiten der unteren Gerhard-Rohlfs-Straße: Apotheke, Physio-Therapie-Studio, Sanitätshaus, orthopädischer Schuster, alle Läden und Betriebe excellent versorgt mit Kunden aus der großen orthopädischen Praxis der Knochenpäpste, passgenau für eine alt werdende Gesellschaft.
In der Fußgängerzone werden wir sofort von einer älteren Dame angemacht. Radfahren verboten. Kein Kotau vor einer meckernden Alten. Wir gönnen uns noch ein paar langsame Meter und rollen aus. Schnell die Masken auf, sonst wird uns der nächste Rentner eine Rüge erteilen. Es ist Corona, Oma, wie mein Enkel sagt. Irgendeiner der selbsternannten Gesetzeshüter liegt sicher schon auf der Lauer. Ein mächtiger, blau-grüner Tannenbaum – Fichte, Tanne oder Kiefer? – steht mit dunklen, lila-rot geriffelten Kugeln vor dem Stadthaus. Ohne Lichter. Schade!
Wir schieben unsere Räder zum Fischstand. Nachhaltiger Fisch wird versprochen, und in der Tat, hier mieft es nicht so wie bei der billigeren Konkurrenz auf der anderen Seite des Platzes. Der junge Mann hinterm Tresen ist geschäftstüchtig. Im Nu hat er uns überzeugt, dass schwarze Tigerkrabben mit grüner Soße das ideale Silvesteressen seien. Tigerkrabben? Nachhaltig? Ich bin skeptisch. Wir kaufen trotzdem. Der Seelachs heute Morgen in Bremerhaven habe ihm nicht gefallen, sagt der junge Mann, empfiehlt stattdessen Kabeljau. Nur eben ein bisschen teurer. Wir brauchen nicht viel heute Abend, wir haben keine Gäste. Die trauen sich alle nicht.
Am großen Gemüsestand begrüßt uns die Chefin: Moin, länger nicht gesehen! Stimmt, seitdem die Volkshochschule am hinteren Ende des Marktplatzes geschlossen ist und kein Unterricht mehr stattfindet, bin ich seltener hier zum Einkaufen.
Einen Cappuccino- to- go am Lloyd Caffee-Stand. Leider sind die Stehtische hinter der Plane verboten worden. Wir schieben die Räder – den schwappenden Becher in der Hand – zu der nassen Holzbank gegenüber dem aufgemotzten, aber wegen Corona geschlossenen Friseurgeschäft, fummeln die Masken unters Kinn. Die Sitze sind kalt und glitschig. Wir schnuppern den Duft des Kaffees, schlürfen den heißen Cappuccino im Stehen, wärmen die Hände am Becher und lasse ein paar Münzen in den Instrumentenkasten des Weihnachtslieder spielenden Russen fallen, für die er sich freundlich bedankt. Armer Kerl, denke ich. Stundenlang auf diesem Bänkchen sitzend mit dem schweren Akkordeon! Es scheint sein Stammplatz zu sein, denn er hockt dort immer, wenn Markttag ist. Er spielt gut, soweit ich das beurteilen kann, die Musik immer der Jahreszeit angepasst. Er verdient in der Vegesacker Fußgängerzone sicher mehr als beim Orchester seines Heimatlandes, beschwichtige ich mein schlechtes Gewissen.
Unter den Klängen vom Jingle Bell schieben wir die Ebikes die Einkaufsstraße entlang. Menschen mit Masken vor dem Gesicht stehen in Schlangen vor Drogerie Rossmann und der Sparkasse. Die ausgeschalteten Lichterketten schwanken im Wind. In der Fußgängerzone hat man im Sommer Robinien gepflanzt. Zwanzig, dreißig kleine, schlanke Bäume mit fiedrigen, hellgrünen Blättern. Eine Aktion des Beirats zur Stadtverschönerung. Jetzt lehnen vor den fast kahlen Bäumen grüne Tannen mit roten Schleifchen. Sieht nett aus. Wenn es dunkel wird, werden die um den Baum gewickelten Lichterketten sicher angeschaltet. Ist dann überhaupt noch jemand unterwegs?
Wir sind spät dran. Die meisten Kunden haben ihre Einkäufe längst erledigt. Nein, Spaß macht es nicht, an diesem grauen Silvevstermorgen im Nieselregen die Räder an den toten Scheiben der Geschäfte vorbeizuschieben. Auch die Gesichter der Menschen sind grau. Missmutig. Es stinkt nach billigem Fett und Currywurst aus einer Imbissbude, vor der die kleine Tanne im Terrakotta-Topf mit einem flackernden Vorhang von elektrischen Kerzen die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Vegesack verkommt. Versinkt in Bedeutungslosigkeit und Armut. Die Mehrzahl der Leute, die uns entgegenkommen, sind älter als wir. Viele schieben Rollatoren vor sich her. Andere sehen so elend und abgerissen aus, so dass ich feige weggucke.  Eine hochschwangere Afrikanerin mit einem Baby im Kinderwagen und einem Kleinkind an der Hand schaut sehnsüchtig auf die Auslagen der Drogerie Douglas. Aber für solchen Luxus wird das Kindergeld nicht reichen. Jeden Montagmorgen stehen die jungen schwarzen Frauen bei der Ökumenischen Starthilfe an für Möbel und Wäsche und Spielsachen. Wie schrecklich müssen die Lebensumstände in ihrem Heimatland sein, dass sie sich diesem elenden Leben aussetzen und ein Kind nach dem andern bekommen, um nicht ausgewiesen zu werden und um die Provision für die Schlepper abzustottern. Die Väter dieser Kinder kassieren für ihre Dienste bis zu 5000 Euro pro Baby, weiß das Sozialamt.
Im geschlossenen Bekleidungshaus Leffers haben sie sogar den Modepuppen glitzernde Ketten um die Körper gelegt. Wir schieben die Räder an den letzten eher mickrigen Weihnachtsbäumen entlang, werfen einen Blick auf die grünen Girlanden über uns, steigen auf die Räder und lassen uns die Sager-Straße hinunterrollen. Während ich die teuren Weine und die Geschenkkisten mit den Weihnachtsköstlichkeiten in der Schaufensterreihe von Scharringhausen bewundere, kauft mein Liebster im Laden für stolze acht Euro eine winzige Dose Sardellen für die grüne Soße, die er am Silvesterabend zu den Tigerkrabben servieren wird. Aber auch der Gedanke an diese Köstlichkeit hebt meine Stimmung nur mäßig.

 


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