Troll gefangen

TrollJudith stakst vorsichtig durch den matschigen Schnee, schließt mit klammen Fingern die Tür zum Salon auf. Sie ist früh dran an diesem nassen Dezembermorgen. So kurz vor Weihnachten kommen die ersten Kundinnen schon um 8.30 Uhr. Es ist verrückt, aber alle Frauen im Viertel wollen mit frisch gefärbten und ondulierten Haaren unterm Weihnachtsbaum sitzen. Gut fürs Geschäft, denkt Judith ihre Hände aneinander reibend.

Dumm ist nur, dass samstags die Werkstätten geschlossen sind. Fabian ist allein zu Hause. Nicht dass sie sich wirklich Sorgen machen müsste, man kann ihn ganz gut ein paar Stunden allein lassen. Er ist 22. Früher, als angestellte Friseurin, war das natürlich einfacher. Da hat sie eben samstags nicht gearbeitet. Sie wirft einen Blick in den Spiegel. Glättet mit zwei Fingern die Falte über ihrer Nasenwurzel. Zupft noch rasch an der asymmetrisch geschnittenen Kurzhaarfrisur. Ein eigener Laden, das hat sie immer gereizt. Judith legt saubere Handtücher heraus und überprüft den Block mit den Nachbestellungen. Fabian ist vernünftig. Natürlich wird er Fernsehen gucken. Und Schokolade in sich hineinstopfen. Hat ganz schön zugenommen in letzter Zeit. Judith versucht, sich auf die Farbe zu konzentrieren, die sie für eine Stammkundin anrührt. Was soll denn groß passieren? Er kann telefonieren. Die Nummer des Salons hat sie zu Hause über dem Telefontisch angebracht. Für alle Fälle.

Fatima, die Auszubildende, hängt ihre nasse Jacke auf einen Bügel und bindet ihre dunklen Locken zu einem straffen Pferdeschwanz. Dann stellt sie die Espresso – Maschine an und füllt ein paar Kekse in die Schale. Ein Service, den die Kundschaft zu schätzen weiß.

Die erste Kundin erscheint und lässt sich am linken Waschbecken nieder. Judith legt ihr das blaue Tuch um und beginnt mit der Haarwäsche. Business as usual. Das Telefon klingelt.

Fabian am Apparat. Er ist ganz aufgeregt. „Mama, ich habe einen Troll gefangen!“ sagt er.

Judith schluckt. Sagt freundlich: “Wie schön, Fabian. Das erzählst du mir heute Nachmittag ganz genau.“

Am anderen Ende wird aufgelegt. Fabian und seine Märchen. Judith rubbelt die Haare der Kundin sorgfältig trocken. Zieht den Beistelltisch zu sich heran und greift zur Schere.

„Wie immer, Frau Johanssen?“ Sie erhält ein bestätigendes Nicken. Schön, wenn die Kunden nicht schon am frühen Morgen auf sie einreden. Einige Frauen verwechseln ja den Friseurbesuch mit einer Sitzung beim Therapeuten. Wieder das Telefon. Judith nickt Fatima zu, das Gespräch anzunehmen.

„Ihr Sohn“, sagt Fatima und legt den Hörer hin. Judith murmelt eine Entschuldigung, fragt gereizt: „Was ist, Fabian?“

„Mama, ich habe wirklich einen Troll gefangen“, sagt Fabian und wirkt noch aufgeregter als vorher. „Wirklich!“

Judith atmet tief durch, versucht, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben. „Mein Junge, ich glaube dir ja. Gut gemacht. Aber ich hab im Moment überhaupt keine Zeit. Ich muss Haare schneiden, das weißt du doch. Heute Nachmittag kannst du mir alles ganz genau erzählen.“ Sie legt auf und wendet sich mit einem Schulterzucken wieder Frau Johanssen zu. Die nickt. „Ja, ja, die Kinderchen. Gibt es ein Problem?“

„Nein, überhaupt nicht“, antwortet Judith. Sie jedenfalls wird ihre Probleme nicht jeder x-beliebigen Kundin unter die Nase reiben.

Die nächsten zwei Damen sind bereits eingetroffen, schlürfen ihren Kaffee und blättern im „Goldenen Blatt. Prinz William und Kate Middleton sind wirklich ein schönes Paar.

Das Telefon klingelt zum dritten Mal. Hastig nimmt Judith ab.

„Mama, ich habe ganz bestimmt einen Troll gefangen“, beharrt Fabian. Judith fühlt, wie ihr Puls sich beschleunigt.

„Es tut mir leid“, sagt sie und bittet Fatima, Frau Johanssen noch die Haare zu fönen. „Ich glaube, ich muss mal schnell nach Hause.“ Frau Johanssen nickt. Aus dem Augenwinkel sieht Judith gerade noch, wie eine der wartenden Frauen die Illustrierte sinken lässt und demonstrativ auf ihre Armbanduhr schaut.

Mit überhöhter Geschwindigkeit fährt sie durch die Stadt, fühlt, wie ihre Nervosität zunimmt. Das passt so gar nicht zu Fabian. Dreimal anzurufen.

Vor dem Haus ein Polizeiauto. Judith springt aus dem Wagen, hastet die Treppen hinauf. Die Tür ist offen. Zwei Polizeibeamte stehen im Wohnzimmer, reden laut und bedrohlich auf Fabian ein. Der lehnt an der Badezimmertür, die rechte Hand hinter dem Rücken versteckt. Er schaut trotzig, ist aber den Tränen nahe. Sein Gesicht hellt sich auf, als er seine Mutter sieht.

„Ich hab’s dir gesagt. Ich habe einen Troll gefangen.“, bringt er stockend heraus. “Ich habe ihn im Bad eingeschlossen.“

„Lass mal sehen“, sagt Judith ruhig, schiebt die Polizeibeamten zur Seite und nimmt ihm den Schlüssel sanft aus der Hand.

Auf dem Badewannenrand sitzt ein Mann, kleinwüchsig. Rote Pluderhosen und gelb-schwarz gekringeltes T-Shirt. Eine schwarze Zipfelmütze über den buschigen Brauen.. Er sieht wütend aus. Und erschrocken.

„Ich bin vom Zirkus. Ich wollte doch nur um eine Spende bitten“, sagt er und hebt anklagend seine Sammelbüchse in die Höhe.

„Aber der junge Mann hat mich in die Wohnung gezogen und ins Badezimmer gestoßen und zugeschlossen. Zum Glück habe ich mein Handy dabei. Konnte die Polizei rufen.“

Judiths Blick fällt auf das aufgeschlagene Märchenbuch auf dem Couchtisch. Schaut den aufgebrachten Mann an. Sie wühlt nach einer großzügigen Spende. Das Gesicht tief über ihrer Handtasche. Ihre Mundwinkel zucken.


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