Autopanne in Marokko

Moroccan village in the alto atlas„Nein, nicht schon wieder“, die junge Frau schaute Friedhelm stirnrunzelnd an, der fluchend mit dem Schaltknüppel in der Schaltkulisse herumrührte. Kein Widerstand, der Gang ließ sich nicht einlegen. Der alte blaue VW-Bully wurde langsamer, rollte aus. „Der Mechaniker in Erfoud hat doch gesagt, das Getriebe sei jetzt in Ordnung.“, stöhnte Lisa. Friedhelm zuckte die Achseln, stoppte den VW-Bus, öffnete die Motorklappe und spähte hinein.
Wie Lisa dieses Land verabscheute, diese aufdringlichen, distanzlosen Menschen. Von Anfang an hatte sie diese Abneigung gespürt, schon als sie am Ostermontag bei Ceuta die marokkanische Grenze überqueren wollten und ein Schlepper sich ihnen aufdrängte, der versprach, für sie die Einreiseformalitäten zu erledigen – gegen Cash natürlich Und so war es weiter gegangen in Tetouan, in Fes, in Marrakesch, in Erfoud. Wohin sie auch kamen, sobald sie sich einem Campingplatz näherten, fuhren plötzlich junge Männer auf Motorrädern neben ihrem VW-Bus her, boten ihnen in erstaunlich gutem Deutsch ihre Dienste als Reiseführer an, schilderten in glühenden Farben die Gefahren, denen sie ausgeliefert seien, wenn sie auf eigene Faust die Gassen und Souks der Innenstädte erkunden wollten. Und immer wollten sie Geld, Geld, Geld. Sogar Referenzen hatten sie vorzuweisen, handgeschriebene Briefe auf Deutsch, Englisch, Französisch, in denen irgendein Doktor oder Professor den jungen Männern bestätigte, wie gut er von Ahmed, Aidan, Abdullah geführt worden war, wie kompetent der junge Mann die Geschichte des Ortes erklären konnte, wie gut er ihn bei den Einkäufen beraten hätte. Unerfahren wie sie waren, hatten sie sich auch darauf eingelassen, den Führer zu buchen, waren froh, wenn der Marokkaner sie eifersüchtig bewachte, beschützte vor aggressiver Anmache und Bettelei. Doch immer hatte es am Ende Ärger gegeben, wenn sie nichts oder zu wenig gekauft hatten in den Töpfereien und Teppichfabriken, in die er sie geführt hat, weil er offensichtlich eine Provision bekam. Dass man Touristen schröpft, das hatte Lisa auf ihren vielen Reisen gelernt und auch akzeptiert. Schließlich waren die Länder arm und die Touristen waren eine willkommene Einnahmequelle. In Marokko allerdings machte Lisa die aggressive Härte, die sexuelle Aufdringlichkeit Angst, wenn sie sich nur ein paar Schritte von ihrem Freund entfernte. Noch nie hatte sie sich so abhängig von Friedhelm und so ausgeliefert gefühlt. Für sie als junge blonde Frau war es unmöglich, sich frei zu bewegen, ohne mit Blicken verschlungen, von Händnie allein. Noch auf dem entlegensten Rastplatz, den sie ansteuerten, ertönte nach ein paar Minuten ein Pfiff, und dann strömten aus dem Nichts Kinder herbei, die nicht zufrieden waren mit den Bonbons oder dem Obst, das Lisa ihnen anbot. In Rudeln und mit schmutzigen Händen kamen sie näher, riefen „Dirham, Dirham“, ließen sich nicht verscheuchen, warfen das Brot oder den Apfel angewidert auf den Boden. Da blieb oft nur die Flucht, wenn sich der idyllisch gelegene Picknickplatz wieder einmal als Touristenfalle herausgestellt hatte.
Lisa war ausgestiegen und schaut sich um. Sie befanden sich auf einer Passstraße im Mittleren Atlas, wollten weiter nach Meknes, um dort eine Werkstatt zu finden, um das Getriebe zu überprüfen. Sie versuchte, den Anblick der grandiosen Gebirgslandschaft in sich aufzunehmen, den kühlen Wind zu fühlen, der ihr Gesicht streichelte. Welch ein Kontrast zur Wüste, durch die sie gefahren waren, ehe der Bully zum ersten Mal zusammenbrach. Nur Steine und Sand und trockene Grasbüschel, so weit das Auge reichte, flirrend in der erbarmungslosen Mittagshitze. Hier im Gebirge war es angenehm kühl. Die Straße stieg stetig an, gab den Blick frei auf die schneebedeckten Gipfel des Gebirges. Rechts und links der Straße waren die Wiesen mit Frühlingsblumen übersät, die Baumheide blühte, der Duft der Wacholderbüsche stieg ihr in die Nase. Gegen ihren Willen war sie beeindruckt. Ein wunderschönes Land, eigentlich. Warum waren ihr nur die Menschen so fremd?
„Es nützt nichts, Lisa. Wir müssen zurück nach Ksar-es-Souk in eine Werkstatt.“ Mittlerweile war Friedhelm wieder ins Auto geklettert, hatte den Gummibalg über der Gangschaltung abgenommen. Ohne Erfolg, die Gänge rasteten nicht ein.
„Nach Ksar-es-Souk? Die Stadt ist doch bestimmt bereits abgesperrt.“ In Ksar-es-Souk, der alten befestigten Berberstadt  an den südlichen Hängen des Atlas -Gebirges, erwartete man seit Tagen den König, ohne genau zu wissen, an welchem Tag er kommen würde. Das Militär hielt den Termin aus Sicherheitsgründen geheim. Und so hingen seit Tagen die bunten Teppiche über den Stadtmauern, die Bewohner hatten die Straßen und Häuser mit Girlanden geschmückt. Riesige Poster mit dem Konterfei von Hassan II. flatterten über den Zufahrtswegen, in den Festzelten und Ständen wurden exotische Köstlichkeiten feilgeboten. Und natürlich war die Stadt tagsüber für den Autoverkehr gesperrt. Lisa und Friedhelm waren an diesem Tag extrem früh in Erfoud aufgebrochen, um nach Norden durchzukommen, ehe die schwer bewachten Sperren an den Stadttoren errichtet wurden.
„Du musst hier beim Bully bleiben“, sagte Friedhelm pragmatisch und wischte sich die verschmierten Hände an einem öligen Lappen ab.“ Ich versuche, ein Auto anzuhalten und in die Stadt zu trampen, um Hilfe zu holen.“
„Können wir nicht beide trampen?“ Der Gedanke, allein zurückzubleiben, behagte ihr nach den Erfahrungen der letzten 14 Tage gar nicht. Diese aufdringlichen Männer mit ihren fordernden Blicken und eindeutigen Bemerkungen, die nur davon abzuhalten waren sie anzufassen, wenn ein männlicher Begleiter an ihrer Seite ging. Und nun wollte Friedhelm sie allein zurück lassen, sie diesen Männern ausliefern, die in einem Land voller dunkelhaariger wunderschöner Frauen lebten und doch offensichtlich geil waren auf eine junge Blonde aus dem Norden.
Friedhelm schüttelte entschieden den Kopf. „Bist du verrückt? Den Wagen allein lassen? Dann ist er leergeräumt, wenn wir zurückkommen.“ Okay, da hatte er wahrscheinlich Recht. Aber wäre das nicht immer noch besser als das Risiko einzugehen, dass seine Freundin am Straßenrand vergewaltigt würde?
„Nun werd mal nicht panisch“, sagte Friedhelm und sprang aus dem Wagen, weil sich oben vom Pass her langsam ein rotes Auto näherte.
Von wegen panisch, dachte sie. Wer hatte denn in Erfoud mehr Angst, ich oder du? Mit Schaudern dachte sie an die vorletzte Nacht in der dunklen Garage, in die man den kaputten VW-Bus geschoben hatte. Am nächsten Tag sollte er repariert werden, der Mechaniker wollte Ersatzteile vom Schrottplatz besorgen. Natürlich war Friedhelm zu geizig gewesen, in das kleine Hotel am Ort zu ziehen, behauptete, sie müssten den Wagen bewachen. Sie hatten einen dicken Holzklotz von innen gegen die Torklinke geschoben, weil das Schloss nicht funktionierte. Aber nachts waren sie durch ein knarrendes Geräusch geweckt worden. Sie hatte Friedhelm wach gerüttelt und „Da ist jemand!“ geflüstert. Senkrecht hatten sie im Bett gesessen, voller Panik den schleichenden Schritten gelauscht, die sich noch steigerte, als sie bemerkten, dass der Klotz am Boden lag, das Tor einen Spalt offen stand. Friedhelm hatte vor Angst gezittert, das hatte sie genau gespürt. „Im Handschuhfach ist die Schreckschusspistole“, hatte sie gesagt. Aber er war unfähig gewesen, sich zu bewegen. Sie war nach vorne gekrochen, hatte schon das Handschuhfach leise geöffnet, als sie merkte, dass es nur der heftige Wüstenwind war, der die Tür aufgedrückt hatte, die nun in regelmäßigen Abständen über den Boden schabte.
Soviel zum Thema „männlicher Beschützer“. Lisa biss sich aber auf die Zunge und schweigend erwarteten sie den Wagen. Als sie winkten, hielt er knirschend an. Es war ein uralter verbeulter Renault, und ein junger, dunkel gelockter Marokkaner kurbelte die Scheiben hinunter. „Bonjour, puis- je vous aider?“, fragte er freundlich. Sein Französisch war klar und flüssig und es war klar, dass er ihnen helfen wollte. Lisa kramte ihr Schulfranzösisch hervor. „Oui, la voiture ne marche plus.“
Na, dass der Bus nicht mehr fährt, hätte er auch so erraten. Aber auf die Frage, ob er ihren Freund mit nach Ksar-es-Souk nehmen könne, schüttelte der junge Marokkaner energisch den Kopf. Das käme gar nicht in Frage, dass sie allein hier am Auto bliebe. Er kenne seine Landsleute. Das sei viel zu gefährlich. Der „mari“ solle am Straßenrand warten, er würde Lisa mit in die Stadt nehmen und zu einer Werkstatt bringen. Und im Auto mit ihm allein bin ich ihm völlig ausgeliefert, schoss es ihr durch den Kopf. Die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Friedhelm schien ihre Besorgnis nicht zu teilen und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, das Angebot anzunehmen. Sein Bully ist ihm wichtiger als ich, dachte Lisa. Der Marokkaner schien ihre Gedanken zu erraten, lächelte ihr beruhigend zu, stieg aus, kam auf die Beifahrerseite und öffnete ihr die Autotür. „S‘ il vous plait.“ sagte er höflich, schloss die Tür, setzte sich ans Steuer und startete den Motor. „Hassan“ sagt er. „Je m’appelle Hassan.“  „Lisa“, sagt sie und nahm dankbar eine von ihm angebotene Zigarette. Friedhelm hasste es, wenn sie rauchte. Zuhause paffte sie manchmal heimlich, aber immer mit schlechtem Gewissen und mit der Angst, dass Friedhelm ihr wieder einen Vortrag über die Schädlichkeit des Rauchens halten würde. Er hatte ja mal wieder so Recht. Lisa inhalierte gierig den ersten Zug, ihr wurde angenehm schwindelig. Sie schaute in den Rückspiegel, sah Freund und Bus immer kleiner werden, dann ganz verschwinden.
Am Stadtrand von Ksar-es-Souk wurden sie gestoppt. Der Fahrer wechselte ein paar arabische Worte mit den Soldaten, wurde bedrohlich angebrüllt. Wortlos wendete Hassan den Wagen, fuhr ein Stück zurück und bog plötzlich in einen einsamen staubigen Feldweg ein. Rechts und links nur vertrocknete Weiden und braune Büsche, total menschenleer. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Was hatte er vor? Hier hätte sie keine Chance. Hassan schien ihre Angst zu spüren, legte einen kurzen Augenblick seine Fingerspitzen beruhigend auf ihren Oberschenkel, zog aber die Hand zurück, als er sah, wie sie sich verkrampfte. Er lächelte sie an, erzählte ihr, dass er in Frankreich als Kellner arbeitete, um sein Ingenieurstudium zu finanzieren. Sollte sie ihm glauben?
Endlich tauchten ein paar Häuser auf, armselig und grau. Magere räudige Hunde schlichen über die sandige Straße, suchten nach Futter, kläfften den Wagen an. Hassan hielt vor einer der Hütten Häuser, bat sie, auf ihn zu warten, ging hinein, kam nach kurzer Zeit wieder heraus und schüttelte bedauernd den Kopf. Nichts zu machen, die Werkstätten seien alle geschlossen. Alle warteten auf den König. Er versuchte es noch ein paar Mal, aber ohne Erfolg. An diesem Tag arbeitete niemand. Dieses große Ereignis wollte sich wohl keiner entgehen lassen, da verzichtete auch ein Automechaniker auf einen Nebenverdienst. „Ils sont fous!“, sagte Hassan und sie blickte in sein versteinertes Gesicht. Was spielte sich hinter seiner Stirn ab? Lisa hätte ihn gerne nach seiner Meinung über das Regime gefragt und nach der offensichtlichen Popularität des Königs, traute sich aber nicht. Schweigend fuhren sie über Schleichwege zurück zur Hauptstraße. Würden die Soldaten schießen, wenn sie sahen, dass jemand versuchte, die Straßensperren zu umgehen?
Nach einer halben Stunde trafen sie wieder auf die große Verbindungsstraße nach Meknes, fuhren zurück zu der Stelle, an der Hassan sie aufgelesen hatte und glaubten, ihren Augen nicht zu trauen, denn weit und breit war kein VW-Bus zu sehen. War Friedhelm entführt worden? Hatte man den Bully gestohlen und Friedhelm irgendwo im Gebüsch liegen lassen?
Und noch heute – so viele Jahre später – muss sie lächeln, wenn sie daran denkt, wie die Begegnung mit Hassan ihr Leben verändert hat. Denn, wie sich herausstellte, hatte Friedhelm die Gangschaltung notdürftig reparieren können, und als der Gang erst einmal eingerastet war, hatte er nicht mehr angehalten aus Angst, der Gang könne wieder herausspringen. Er war bis Meknes durchgefahren, um eine Werkstatt zu finden, die ein neues Getriebe einbauen konnte. „Ich wusste doch, dass du es schaffst nachzukommen“, hatte er lakonisch gesagt, als sie ihm bittere Vorwürfe machte.
Es war Hassan, der sich um sie gekümmert hatte, als sie weinend und verzweifelt in seinem Auto saß. Es war Hassan, mit dem sie dann nach Frankreich ging und mit dem sie heute zusammenlebt. Natürlich war die Anfangszeit kein Zuckerschlecken gewesen. Sie hatten beide hart arbeiten müssen, damit Hassan sein Studium beenden und sie ihr Dolmetscherdiplom für Französisch und Arabisch ablegen konnte. Sie hatten viel gestritten in der Zeit, als die beiden Kinder kamen und sie ihren Beruf nicht aufgeben wollte. Und Schweinefleisch hat sie ganz aus dem Speiseplan gestrichen, weil Hassan sich so sehr davor ekelt. Aber nie hätte sie gedacht, wie sehr sie sich heute auf den jährlichen Urlaub in Marokko freut.  Auch Hassans Familie und seine Freunde hat sie schätzen und lieben gelernt. Und dass ihre konservativen Eltern aus dem kleinen schwäbischen Dorf zum wiederholten  Mal darauf bestehen, mitzufahren nach Marokko, freut Lisa besonders. Ihre Mutter hat sogar angefangen, Arabisch zu lernen.


Tags:

 
 
 

2 Responses to “Autopanne in Marokko”

  1. Gravatar of Schlicht,Ina Schlicht,Ina
    27. Oktober 2010 at 13:03

    Hallo Anne,
    mir hat die Geschichte sehr gefallen, so viele überraschende Wendungen. Und spannend ist sie auch! Mich hat am Anfang vieles an meinen Marokkoaufenthalt erinnert – übrigens ist man dort auch als dunkelhaarige Frau nicht besser dran! Und das Alter scheint auch nicht so eine große Rolle zu spielen – Hauptsache Touristin.Wenn unsere Männer dort so auftreten würden, wäre aber was los. Um so überraschender und versöhnlicher dann die Wendung am Schluss.Ich bin beeindruckt, dass dir diese Wendung so überzeugend und glaubhaft gelungen ist.

  2. Gravatar of Würtz, Ingrid Würtz, Ingrid
    29. Dezember 2010 at 09:49

    Hi Anne, es ist schon einige Jahre her, dass ich in Marokko war. Deine Erzählung ruft jedoch die Erinnerungen wieder hervor. Welch ein schönes Land, in dem Menschen und Städte wie aus 1001 Nacht erscheinen – bis man in die Souks geht. Selbst umgeben von Kindern wird man angegrabscht. Dagegen haben wir privat ebenfalls die Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaftund Höflichkeit einiger Familien kennen gelernt. Deine Geschichte ist spannend und anschaulich erzählt. Viel Erfolg!

Schreibe einen Kommentar