Zwischenfall auf der GC 500

Der blaugrüne Linienbus nimmt schnell und elegant die Serpentinen auf der GC 500 zwischen Puerto de Mogan und Playa del Inglés. »Idiota«, brummt der Fahrer immer wieder, wenn ein junger Ausländer in seinem Leihauto versucht, die engen Kurven rennfahrermäßig zu schneiden.
Der Bus ist gut besetzt an diesem Freitagnachmittag. In Puerto de Mogan hat der wöchentliche Markt stattgefunden, und viele Touristen haben sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, frisches Obst und Gemüse einzukaufen, das eine oder andere Souvenir zu erstehen. Begeisterte Fotografen haben ununterbrochen auf den Auslöser ihrer Digitalkameras gedrückt, um die quirlige Atmosphäre des kanarischen Marktes festzuhalten, der direkt am Fischereihafen liegt vor der Kulisse hoch aufragender, kahler Bergriesen des Hinterlandes. Einheimische nutzen den Bus hin zu ihren Arbeitsplätzen in einem der Touristenhotels an der zubetonierten Küste: Handwerker, Kellner, Reinemachfrauen. Andere dösen auf dem Weg nach Hause müde und abgearbeitet vor sich hin. Spanische Hausfrauen mit vollen Einkaufsnetzen unterhalten sich lebhaft in ihrem harten Spanisch, das auf Sprachunkundige so wirkt, als stritten sie sich ständig. Aber auch die Touristen, die einen großen Teil der Plätze in Beschlag genommen haben, sind nicht gerade leise. Ein älterer Mann dröhnt seine Sitznachbarin zu. Offensichtlich ist er Meister an einer Berufsschule im tiefsten Kohlenpott. »Mir doch egal, wer unta mir Chef is«, sagt er. »Lehrer, dat sind sowieso allet faule Säcke. Da hat dä Schröda Recht gehabbt!« Die Frau neben ihm juchzt Zustimmung »Ewig hamse Ferien. Und da beschwäränse sich immer noch über zu viel Arbeit. Wat soll unsereins denn sagn?«
Ganz hinten auf der letzten Bank sitzen zwei Schulmädchen, 13,14 Jahre alt. Sie haben ihre schwarzen Lockenköpfe zusammengesteckt, spielen mit einem Smartphone, kichern und lachen, die Augen blitzen. Ein Selfie nach dem andern wird gemacht und kritisch begutachtet: Grimassen, Küsschen mit gespitzten Lippen, blendend weiße Zähne. Beide Teenager scheinen ausgesprochen guter Laune zu sein. In Puerto Rico steigen Wanderer zu, die Rucksäcke und Stöcke nach oben in die Ablage heben und erschöpft auf die Sitze sinken, die Gesichter rot von der Sonne.
»Menschenskinners, is dat kalt!«, sagt der Berufsschulmeister und beugt sich über seine füllige Begleiterin, um das Fenster hochzuschieben.
»Holste dir ja glatt wat weck!«
Seine Begleiterin lässt sich nicht unterbrechen und fährt unbeirrt fort. »Bei uns inne Spedition is sonne Chinesin. Soll studiert ham. Logistik oder sowat. Abba zu blöd um auszurechnen, wie viele Kisten innen Container passen. Bringt doch allet nix, dat Studieren. Der Chef is doch auch sonne Pflaume!«
Eins der jungen Mädchen von der hinteren Bank steht auf, fächelt sich mit der Hand Luft zu, zwängt sich in die leere Sitzreihe hinter den beiden Deutschen, schiebt das Fenster wortlos wieder auf und geht zurück zu ihrem Platz. Die Freundin lacht und hebt zustimmend den Daumen. Das nörgelnde Paar ist verstummt, schaut ungläubig hoch zum Fenster. Der Mann dreht sich zu den Mädchen um, schraubt sich in seiner ganzen bulligen Körperlichkeit hoch und rammt das Fenster wieder zu. «Unverschämte Göre!«, brummelt er und schaut kampfeslustig in die Runde.. »Dat wolln wir dochma sehn!«
Sieg nach Punkten? Männliche Kraft und Entschiedenheit gegen pubertäre Willkür? Schnell wie der Wind ist das Mädchen hochgeschnellt, wieder auf den freien Sitz gehüpft, von wo aus sich die Scheibe leicht hinunterziehen lässt. Die Gespräche sind verstummt, Touristen und Einheimische schauen gespannt, wie es weitergeht.
Das Spiel beginnt: Fenster auf, Fenster zu, Fenster auf, Fenster zu. Die ungleichen Kontrahenten sind verbissen und schnell, der Mann schimpft, die Mädchen kichern. Schließlich geht eine der Schülerinnen zum Busfahrer und redet auf ihn ein. Der lenkt den Bus an den Straßenrand, hält an, kommt bei laufendem Motor nach hinten und macht das Fenster wieder auf.
»La chica está enferma. Necessita aire!«
»Wat sacht dä?« Der Rentner ist fassungslos. »So behandelt man also Gäste!«, poltert er los. »Un Deutsch kanner auch nich. Wat soll mit die Mädkens los sein? Die kichern doch die ganze Zeit.«
Als der Bus wieder auf die Hauptstraße einbiegt, knallt er das Fenster zu. Der Busfahrer fährt in die nächste Parkbucht, hält an, machte den Motor aus und spricht ein paar Worte in sein Handy.
Die Sirenen sind nach ein paar Minuten zu hören. Mit Blaulicht fahren zwei Einsatzwagen der lokalen Polizei in die Parkbucht, halten neben dem Bus. Vier junge Männer in dunklen Hosen und schicken hellblau abgesetzten Blousons springen aus den Wagen und setzen energisch ihre Schirmmützen auf. Ein prüfender Griff zum Pistolenhalfter, die langen Schlagstöcke baumeln am Gürtel. Der Einsatzleiter klettert die Stufen hoch, sagt höflich: »Buenas Dias! Que se pasa?«  Er schaut den Busfahrer fragend an. Nach einem kurzen Wortwechsel erlaubt er den beiden Mädchen, die sich zur Tür gedrängt haben, auszusteigen. Er wendet sich  an die Fahrgäste.
«Somebody speak English?«
Schweigen. Auch der großkotzige Meister, der gerade noch moniert hat, dass der Fahrer kein Deutsch spricht, sagt kein Wort. Die kanarischen Fahrgäste schauen auf ihre Hände oder auf den Boden. Draußen krümmt sich eines der Mädchen hustend nach vorn. Vor Lachen oder um Luft zu schnappen, ist unklar. Die andere klopft ihr auf den Rücken. Eine gut aussehende Endfünfzigerin mit silberweißem Haar und hellen, wachen Augen meldet sich und versucht mit ruhiger Stimme, die Situation zu erklären. Den Ruhrpottler, der sich einmischen will, bringt sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Maria tiene asma. Maria has got asthma!«, sagt der Polizist und zeigt auf das keuchende Mädchen draußen.
»I believe she is putting on a show.«, sagt die Touristin. »They have been giggling all the time.« Der Einsatzleiter zuckt die Schultern. »Bus driver is boss. When boss says: window open then  window open. Understand?«
Er tippt grüßend an seine Mütze und verlässt den Bus. Der Berufsschulmeister will noch etwas sagen, aber diesmal schneidet seine Partnerin ihm das Wort ab. »Heinz-Peter, sei  ruhig! Ich will nach Hause. Die annern Leute auch!«
Bis zur Endstation in Playa del Inglés sagt niemand mehr ein Wort. Die Teenager haben sich zwar grinsend in ihre Sitze gedrückt, doch das Gekicher hat aufgehört.

Als der Busfahrer seine Wohnungstür aufschließt, sitzen die Mädchen im Wohnzimmer und schauen fern. Ohne ein Wort zu sagen, geht der Mann zum Fernseher und macht ihn aus. Das Klatschen der Ohrfeige ist auf der Straße zu hören. Und das Protestgeschrei seiner Tochter. So schnell hat die Freundin noch nie die Wohnung verlassen.


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