Weihnachtskekse
Klirrende Kälte, als sie ins Bahnhofsgebäude hetzte. 20.15 fuhr ihr Zug. Wieder auf die letzte Minute. Würde sie es nie lernen?
Doch nach der Erleichterung, den Zug erreicht zu haben, machte sich in ihr sofort Unmut breit. Der Platz neben ihr war besetzt. Und sie hatte sich auf eine ruhige entspannte Fahrt gefreut. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Großraumwagen so voll war, ausgerechnet heute, am Heiligen Abend. Wieso waren die Leute nicht bei ihren Familien?
Und dann saß ausgerechnet eine dieser Gothicfrauen neben ihr. Ein weiß geschminktes Gesicht, mit Kajal dick ummalte Augen, die Lippen schwarz, Unterlippe gepierct, Sicherheitsnadeln in den Ohrläppchen. Die burgunderroten, langen Haare waren hochtoupiert und standen nach allen Seiten ab wie Vogelschwingen. Schwarzes Rüschenkleid, Netzstrümpfe, klobige Doc Martens, ein perfektes Outfit. Warum war sie nicht erste Klasse gefahren?
Da drehte das schmale Gruftimädchen den Kopf, strahlte sie aus blauen Kinderaugen an und sagte : Ganz schön voll der Zug. Sind die Heiligabend alle auf der Flucht?
Ich jedenfalls bin auf der Flucht, hörte sich Johanna zu ihrem Erstaunen sagen. War sie noch ganz bei Trost? Was ging dieses Gothicmädchen ihr Privatleben an.
Ich auch!, grinste das Mädchen. Dieses Getue unter dem Tannenbaum, das halte ich nicht aus.
Was sagen denn deine Eltern dazu?
Die Gothicfrau machte eine wegwerfende Handbewegung. Pah, Eltern! Die sind seit Jahren geschieden. Und seitdem das Generve, bei wem mein kleiner Bruder und ich feiern sollen. Als mein Vater noch in der Nähe wohnte, mussten wir erst zu ihm, dann zu Mutti. Und die war immer in Tränen aufgelöst. Stille Nacht, heilige Nacht – nein, danke!
Und wohin fährst du nun?
Nach Sylt.
Oh wirklich, ich auch.
Ist ja echt krass? Das Gothicmädchen schaute Johanna skeptisch an. Ganz schön alt, um vor den Eltern abzuhauen.
Johanna lachte. Wider Erwarten gefiel ihr das Mädchen. Die direkte, schnodderige Art.
Ja, Steinzeit. Danke für die Blumen!
Die Punkerin wurde rot. Schuldigung, so meine ich das nicht. Sie sehen noch echt cool aus und so. «
Ist schon gut. Ich bin 42. Und du?
Das Mädchen zögerte. Fünfzehn, sagte sie dann.
Weiß deine Mutter, dass du weggefahren bist?
Nee, seitdem die ’nen neuen Lover hat, bin ich ihr sowieso egal. Ein beknackter Typ. Von dem lasse ich mir noch lange nichts sagen.
Wo übernachtest du denn in Sylt? Johanna biss sich auf die Lippen. Nun spielte sie schon Mama. Was ging sie die Kleine an. Sie hatte ihre eigenen Probleme.
Die Kleine guckte auch sofort störrisch. Wieso, wollen Sie mich der Polizei melden?
Nein, bestimmt nicht. Aber du musst doch irgendwo schlafen.
Ich komm schon klar. Ich bin kein Baby.
Das Mädchen hatte das Kinn vorgeschoben, drehte den Kopf zur Seite und verfiel in mürrisches Schweigen.
Sie war aber auch eine dumme Pute. So überpädagogisch. Jetzt war die Kleine sauer. Johanna stellte fest, dass sie sich gern weiter unterhalten hätte. Das Mädchen imponierte ihr. Sie hatte Jahrzehnte gebraucht, um der Familie an Weihnachten zu entfliehen. Die Kleine hatte mehr Mumm.
Mit einem Quietschen kam der Zug zum Stehen. Im Abteil wurde es schwarz, die Lichter flackerten, gingen aus. Die Fahrgäste drängten zum Fenster. Halt auf freier Strecke. Rabenschwarze Nacht. Nichts war zu sehen da draußen. Nach einigen Minuten die Stimme des Zugführers.
Wir bitten um Geduld. Stromausfall. Die Oberleitungen sind vereist.
Die Kleine lachte. Sehen Sie, jetzt brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen, wo ich übernachte. Im Zug. Wetten, dass …
Johanna schaute sie erschrocken an.
Oder meinen Sie, die Bundesbahn kriegt das schnell in den Griff? Im Sommer fällt die Klimaanlage aus, im Winter vereisen die Leitungen. Ist doch auf jedem Plakat zu lesen, der Slogan: Alle reden vom Wetter. Wir nicht.
Beide fingen an zu kichern, konnten sich nichtberuhigen. Die anderen Fahrgäste guckten missbilligend. Ein älterer Mann brummelte : Alberne Gänse!
Das Mädchen kramte in ihrem schwarzen Rucksack. Holte eine bunte Blechdose heraus.
Weihnachtskekse von meiner Oma. Wollen Sie einen?
Ich heiße Johanna, sagte Johanna.
Und ich Patrizia, sagte das Gruftimädchen und gab ihr die Hand.
Und fröhliche Weihnachten auch.
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11. Dezember 2012 at 00:15
Eine nette,mal andere Weihnachtsgeschichte,hat mir gut gefallen.
11. Dezember 2012 at 11:46
Finde Johanna sehr realistisch und treffend dargestellt. Das Verhalten der Patrizia ist mir fremder, wäre schön, wenn sich so eine Offenheit ergeben würde
16. Dezember 2012 at 16:31
16.12.12
Eine sehr versöhnliche Geschichte, auch wenn das etwas schnell geschieht. Hat mir gefallen.